Joachim Ringelnatz
Als Mariner im Krieg
Joachim Ringelnatz

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2

Mit »Blexen« in der Werft

Ich war für das 2. Jade-Sperrschiff »Blexen« bestimmt. Zunächst mußte ich aber noch von Schreibstube zu Schreibstube laufen und überall lange warten, bevor ich nähere Instruktionen, Ausweise und meine rückständige Löhnung bekam. Dabei hatte ich ein zufälliges Wiedersehen mit meinem »Gesuch betreffend Schadenersatz für Reparatur einer im Dienste beschädigten Privatuhr«. Das Schreiben war vom Hauptmann unterschrieben, es wanderte nun zur Kompanie, von dort zur Division und wahrscheinlich weiter, immer weiter.

Mit anderen Schicksalsgenossen marschierte ich nach der Werft, an den beiden beschädigten Schiffen »Frauenlob« und »Stettin« vorbei zum Navigationsressort, wo wir uns meldeten und wo unsere Personalien zum unzähligsten Male aufgenommen wurden. Dann wieder durch die weitläufigen Dockanlagen, zwischen Stapeln von Fässern, Schiffsschrauben und über sauber aufgeschichtete Ankerketten hinweg, immer den schweren Zeugsack auf dem Buckel und überall nach der »Blexen« fragend. Wir fanden und beschnüffelten sie kritisch. Es war ein kleiner, wenig Vertrauen erweckender Privatschlepper, der knapp für fünf Personen Platz hatte, und wir sollten ihn mit elf Mann besetzen, nämlich dem Kommandanten, zwei Maaten (Jessen und ich), zwei Matrosen (Eichmüller und Apfelbaum), drei Maschinistenmaaten und drei Heizern. Im Logis konnten sich zwei Menschen nur mit Mühe aneinander vorbeiwinden. An Deck waren Arbeiter beschäftigt, alles war verdreckt, und außer Minenmaterial fanden wir kein Inventar an Bord. »Das gibt viel Arbeit mit Aufklaren, Waschen und Malen«, sagte Jessen. Mit ihm verabredete ich, daß wir fortan zu den Leuten etwas Distanz wahren und sie auch künftig mit »Sie« anreden wollten, weil einige gleich plump vertraulich auftraten, besonders der lange und, wie ich schon gespitzt hatte, unaufrichtige und feige Apfelbaum.

Wer etwas kochen könnte, fragte der Kommandant. Apfelbaum trat vor und wurde in die niedrige, enge Küche gesteckt, wo er sich unter unserem Gelächter einrichtete. Dann fuhr ein Teil von uns mit dem Kommandanten in einer Barkasse über den Bauhafen, um Bordrequisiten zu beschaffen. Staunend und darüber unwillkürlich leise, wie auf Zehen, gingen wir durch die weiten Säle des Depots. Da war einer ganz mit Flaggen, ein anderer mit Porzellan, ein dritter mit Besenstielen und Scheuerlappen bis an die Decke angefüllt. Und wie wir die Barkasse nun mit soundsoviel Signalflaggen, Ölzeugen, Kupferkesseln, nautischen Instrumenten, Bootshaken, Pinseln, Tassen, Tellern, Farbe, Proviant und anderen Dingen beluden, die alle nagelneu und blitzeblank waren, da sagte jemand: »Das ist wie Weihnachtsbescherung.« Mehrmals mußten wir mit solcher Ladung hinüber- und zurückfahren. Mir ward so seemännisch wohl zumut. Die Barkasse schaukelte in Wind und Sonne. Rings herum sah man die von Kanonen strotzenden Panzerschiffe, und aus dem geteerten Tauwerk roch ich alte Erinnerungen.

Inzwischen hatte der Koch uns Kaffee gebrüht und Speck und Butter hingestellt. Er gab mir, sicher nicht aus Sympathie, ein besonders großes Stück und machte mir auch vor, wie ich auf meiner Bootsmannspfeife blasen müßte. Aber ich vermochte nur klägliche und blamable Töne zu erzeugen, während alle meine Kameraden auf demselben Instrument die festgelegten, vielen Signale wie Lerchen trillerten.

Ich richtete meine unglaubhaft schmale und kurze Koje ein, eine Decke pfropfte ich zusammengerollt zu Kopfende unter die Matratze. Am Fußende war ein Tragbrettchen angebracht. Dorthin legte ich mein Wichtigstes: Uhr, Börse, Bordmesser und Spindschlüssel. Mein kleiner Spind war so vollgepfropft, daß ich ihn nur mit Hilfe von Fußtritten schließen konnte. Aber nicht alle Leute bekamen Koje und Spind, für einige wurden Matratzen auf den Boden gelegt, für andere Hängematten aufgehängt.

Bevor wir Urlaub bis zehn Uhr erhielten, gab mir der Kommandant noch den mich ehrenden Auftrag, am nächsten Morgen Punkt 8 Uhr die Flaggenparade vorzunehmen. Außerdem wurden wir wieder einmal ermahnt, nicht über maritime Verhältnisse oder Vorgänge zu sprechen. Diese Instruktion war diesmal besonders aktuell. Täglich kursierten neue schlimme Nachrichten über die Flotte. Ein Torpedoboot war gesunken, und der Kreuzer »Mainz« und die »Köln« wurden vermißt. In der Stadt herrschte große Besorgnis darüber. Vor der Wilhelmshavener Zeitung warteten Menschenmengen, ich sah Tränen und sprach Zivilisten, die Angehörige an Bord der vermißten Schiffe hatten.

Und nachts schlief ich nun wirklich seit Jahren wieder einmal an Bord, in der Stickluft eines überfüllten Logis. Auf dem Tisch klebte und flackerte eine Kerze. Ein höllisches, an Maschinengewehre erinnerndes Geknatter ließ das ganze Schiff erzittern. Oben an Deck wurden Nieten mit Preßluft eingeschlagen. Die Arbeiter mit ihren schlangenartigen Instrumenten, von aufgeregten Fackeln beleuchtet, boten ein seltsames Bild.

Morgens brachten wir die Flaggenparade rechtzeitig und nach vorgeschriebenem Zeremoniell zustande, obwohl nicht ohne Schwierigkeit, denn der Flaggenstock achtern paßte nicht in seine Ringe und der Kommandantenwimpel hatte sich in die Gaffel verwickelt, es brauchte viel Zeit, Mühe und Meinungsverschiedenheit, um ihn zu klarieren. Dann wuschen wir Deck und schälten Kartoffeln.

»Können Sie morsen? Können Sie winken?« fragte mich der Kommandant, als er an Bord kam.

»Ich habe es gelernt, aber das meiste vergessen«, erwiderte ich.

Wir waren alle Reservisten. Niemand verstand sein Metier noch perfekt. Ein Matrose fragte den andern verlegen, wie Buchstabe Quatsch (also Q) in der Flaggensprache oder wie Uli in der Winkflaggensprache hieße, oder wie der Anruf beim Morsen wäre. Die Maschinistenmaate suchten nach Ventilen oder betasteten verwirrt ihre Maschine. Auch der Kommandant war unsicher. Dabei sollten wir um zwölf Uhr in See gehen. Es war noch kein Geschütz, es waren weder Ferngläser noch Kompaß noch Karten an Bord. Die Nietenarbeiter hämmerten ebenfalls weiter. Das zog sich denn auch noch mehrere Tage so hin.

Abends auf Urlaub eilte ich zu Pfeiffer in die Kaserne und besuchte bordstolz und anhänglich auch andere Bekannte. Nachts konnte ich nicht einschlafen über dem fieberhaften Nietengeknatter, und weil ich noch nicht an die Kakerlaken gewöhnt war, die in den Kojen, Spinden und Eßgeschirren wimmelten. Zudem brachte die Wolle meiner Kommißstrümpfe meine Füße zum Jucken, und das Jucken zum Kratzen und das Kratzen zur Entzündung. Ich stieg an Deck und nahm dem erfreuten Jessen die Wache von zwei bis vier Uhr ab, in welcher Zeit ich dann tausend Kilo Speck verzehrte. Am nächsten Abend übernahm Jessen dafür freiwillig meine Wache unter der Bedingung, daß ich ihm Priemtabak aus der Kaserne mitbrächte.

Der stille, verträgliche Jessen gefiel mir gut. Er war ein Gutsbesitzer aus der Nähe von Flensburg und sprach leichter dänisch als deutsch. Auf »Blexen« war ihm die Funktion eines Bootsmannes zugefallen. Ich hatte die nautischen Instrumente, das Signalmaterial und die Lampen zu betreuen. Meine Hauptstütze dabei wurde ein Matrose Binneweis, der früher einmal Dienstmann und noch früher Couleurdiener gewesen war. Er suchte mir immer mit akademischen Redewendungen zu imponieren. Im Hafen, wo wir lagen, war jederzeit ein interessanter Betrieb. Auf den großen Schiffen spielte Musik, und dann lief die »Chemnitz« ein, ein großer Handelsdampfer, der jetzt durch die Rote-Kreuz-Flagge und durch einen breiten grünen Streifen um den weißen Leib als Sanitätsschiff gekennzeichnet war. Indessen wartete viel Arbeit auf uns alle. In meinem Ruderhaus lagen Wurfleinen, Lotleinen, Signalleinen wie Spaghetti durcheinander. Immer neues Zeug kam hinzu, Taljen, Raketen, Megaphone und Kisten mit Gewehr- oder Geschützmunition, letztere trugen zum Teil die Aufschrift »Für Ariadne«. Zu spät! Das Geschütz selber, eine Revolverkanone, traf endlich ein. Vier Mann hatten ihre Not, die Lafette über das schmale Laufbrett von Land an Bord zu bringen. Als ihnen aber dann mit dem viel schwereren Geschützrohr das gleiche Manöver gar nicht gelingen wollte, ergriff plötzlich der lange Apfelbaum mit seinen riesigen Pratzen die schwere Last und trug sie ganz allein hinüber. Und dieser starke Mann hatte Angst vorm Totgeschossenwerden und drückte sich vor jeder schwereren Arbeit. Er hatte sich zum Koch gemeldet, weil er da an der Freßquelle saß und nebenbei einen einträglichen Handel mit Schnaps und Zigaretten betreiben konnte. Vom Kochen hatte er keine Ahnung. So schmeichlerisch er nach allen Seiten war, so durchschauten wir ihn doch bald, und einige, die besonders erbost oder auch neidisch auf ihn waren, wischten ihm gelegentlich eins aus. Es gab überhaupt bald kreuz und quer Quängeleien. Die Heizer und die Maschinistenmaate zankten sich, weil in der Maschine nichts klappte. Auch waren neue Leute zu der bisherigen Schiffsbesatzung eingetroffen, aber vorläufig wieder weggeschickt worden, weil die Grandis – (so war der Spitzname für die Zivilarbeiter) – noch keine neuen Kojen eingebaut hatten. Und als auch das besorgt war, und die Leute endlich einzogen, gab es sofort Differenzen darüber, wer die beste und wer welche Koje bekäme. Vizesteuermann Kaiser, unser Kommandant, fand in seiner freundlichen Geduld einen Ausweg, indem er uns Decksmaaten – es war ein dritter hinzugekommen, der die Artillerie leiten sollte –, die Messe überließ. Dort gab es bequeme und saubere Kojen, wo einem die Kakerlaken nicht nachts ins Maul fielen. Als ich das Ruderhaus geschrubbt, alle Messingteile vom Grünspan gereinigt und sauber poliert und die Lampen getrimmt hatte, sagte mir ein Ingenieur oder Oberingenieur oder – ach, wer kannte sich in den Werftuniformen aus. Da gab es silberne und goldene, dicke und dünne Streifen, großes Eichenlaub und kleines Eichenlaub, silberne, goldene, einzelne oder gekreuzte Anker, Sammetkragen, Achselstücke, Säbel, Dolche, Kokarden und Sterne – da sagte mir also solch ein unbestimmbarer, aber sichtlich orientierter Herr, wir würden wahrscheinlich das eben aufgetakelte und eingerichtete Schiff wieder abtakeln und außer Dienst stellen müssen, weil ein Kessel leck wäre. Das hieße also, daß alle unsere Mühe umsonst gewesen wäre und wir wieder zurück in die Kaserne müßten. Diese Nachricht war zwar nicht verbürgt, aber sie nahm uns die Freude am weiteren Arbeiten. Wir gingen, sobald und so lange wir konnten, an Land. Dort saßen wir in den Kneipen in unserer einzigen »Garnitur blau«, die gar nicht mehr von Kohlenstaub, Rost-, Öl- und Teerflecken zu reinigen war, tranken eine billige Tasse Kaffee und versteckten dabei unsere verhornten und zerfressenen Hände. Wir hörten auf die vorbeimarschierenden Musikkapellen und ließen uns von Wichtigtuern Wahres, Halbwahres und Erlogenes einschwatzen.

Man war in Wilhelmshaven entrüstet über die Flottenleitung, weil die großen Schiffe untätig im Hafen geblieben waren, während »Ariadne«, »Mainz«, »Köln« und »Frauenlob« draußen gekämpft hatten. Man sprach davon, daß verschiedene Admirale abgehen müßten, und daß der erzürnte Kaiser gestern inkognito in der Stadt gewesen sei. Es waren Massengräber ausgeworfen für die Leichen, die täglich am Nordseestrand antrieben, und die nach ihrer Erkennungsmarke meist als Leute der »Köln« identifiziert wurden. – Im Osten: Sechzigtausend Russen gefangen. Wieviel Russen gab es überhaupt?

Wer von uns kein Geld mehr für Wirtshäuser hatte, der kletterte und wanderte wenigstens in den Werftanlagen herum, wo donnernde Werkstätten Massenartikel hervorhexten, wo sich dickste Eisenplatten unter leichtem Händedruck bogen oder spalteten und Riesenkräne ungeheure Lasten federleicht emporhoben. Die Trockendocks und die dort freigesetzten Schiffe mit ihren riesigen Ausmaßen, die vielartigen Drehbrücken, Poller und Trossen, das war für uns Sachverständige höchst interessant.

Ich schrieb auch meine Briefe, die der Zensur wegen vorsichtig abgefaßt werden mußten, stets an Land, denn in der Messe mangelte es an Platz und Licht, zumal Jessen abends seine Hängematte quer durch den Raum hängte.

Am Tage nach der Sedanfeier schenkte man uns die Nachricht, daß die Deutschen zehn französische Armeekorps geschlagen hätten. Aber ich war schlechter Laune. Ich hatte morgens, als ich mich wusch, ein Faß grüne Seife mit einem Faß Maschinenfett verwechselt, und mich darüber geärgert, daß sich die Seife nicht auflöste, hingegen mein Körper abscheulich schmierig wurde. Dann riß mir im Ruderhaus eine Leine und meine frisch gewaschenen Hemden und Strümpfe fielen in Ruß und Farbe. Außerdem besaß ich keinen Heller mehr, und da kam nun von Eichhörnchen ein Telegramm, in dem das goldene Mädchen anfragte, wohin sie mir Geld senden könnte, selbst aber vergaß, ihre eigene Adresse anzugeben. Den Postordonnanzen traute ich nicht. Sie waren unordentlich, und es wurden Fälle von Unterschlagungen bekannt. Ich ging mittags an Land, um mir von Pfeiffer drei Mark zu holen, die ich ihm geliehen hatte, denn ich wußte, daß er inzwischen Geld von seiner Liebsten erhalten hatte. Jedoch ich traf ihn nicht an. Er war mit noch jemandem nach dem Kirchhof geschickt, wo die Särge derjenigen Ariadneleute aufgebrochen wurden, die keine Erkennungsmarken getragen hatten. Man wollte versuchen, ihre Persönlichkeit nach Tätowierungen und sonstigen Merkmalen festzustellen. Ich fand überhaupt keine Bekannten mehr in der Kaserne. Die letzten waren mit einem Trupp freiwilliger, lediger Leute »für eine besondere Sache« abgerückt. Es hieß, sie würden zunächst nach Berlin, und von dort in Zivilkleidern nach der Türkei befördert. Donnerwetter! Das wäre doch nun wieder etwas für mich gewesen! Ich kehrte sehr verstimmt an Bord zurück, wo ein Matrosenartillerist vor seinen angegruselten Kameraden erzählte, wie er einmal als Posten in einer dunklen Nacht auf einen Gaul geschossen hätte, den er nicht sah, sondern nur hörte, und der immer ging, wenn er ging und stehen blieb, wenn er stehen blieb. Ich schimpfte dazwischen über die schlechte Luft und über die Klosettverhältnisse an Bord und schleuderte dann meine geborstenen Zivilschuhe mit lächerlichem Krach unter die Bank. Bei dieser Gelegenheit entdeckte ich eine Kiste mit Verbandzeug, das ich gerade sehr für meine wunden Füße benötigte. Außerdem enthielt die Kiste verschiedene mir unbekannte Salben, von denen ich mir auch eine gute Verwendung versprach, denn ich gedachte, meinem bisher kahlen Gesicht einen Schnurr- und Spitzbart zuzulegen, den ich in ungarischer Husarenweise zwirbeln wollte.

Am andern Morgen erlebte ich noch eine kleine Überraschung. Weil ich mir keinen Brotbelag mehr kaufen konnte und andererseits einen Widerwillen gegen Margarine hatte, biß ich die Mariensieler Birne an. Sie war ganz ausgereift und eine köstliche Edelfrucht. Ich verzehrte sie heimlich unten in der Kettenlast, damit ich mit niemandem zu teilen brauchte.

Nachts zwölf Uhr, als ich als Posten eben eine dicke Ratte mit dem Seitengewehr aufspießte, die sich über die Laufplanke an Deck schleichen wollte, kam der Kommandant zurück. Ich übergab ihm einen Eilbrief vom Sperrkommandanten. Er bestätigte die Nachricht, daß »Blexen« zwecks Kesselreparatur in die Werft müßte, und daß die Besatzung auf »Konkurrenz« übersiedeln sollte.

»Konkurrenz« war zwar größer als »Blexen«, aber ein uralter, vielleicht der älteste Schlepper. Er hatte tags zuvor längsseits von uns festgemacht, und wir hatten über den unmodernen, verwanzten Kasten gewitzelt. Nun mußten wir uns mit sauren Gesichtern dort einrichten. Wir begannen mit einer gründlichen Reinigung des Achterlogis. Mein Dienstmannmatrose hielt mir gleich zwei Korkwesten unter die Nase, die von Wanzen strotzten. Ich warf sie ohne Kommentar über Bord.

Wir säuberten und bemalten das ganze Fahrzeug, dann kam ein neuer Befehl: »Konkurrenz« würde von anderen Leuten besetzt werden. Sobald diese aus Emden einträfen, sollten wir wieder auf »Blexen« ziehen.

Ich ersuchte unseren Zahlmeister, der auf dem Leitschiff »Glückauf« hauste, um einen Vorschuß, indem ich vorgab, zwei Brüder zu haben, von denen der eine invalid, der andere im Felde sei. Diese Lüge kam aber dort zu häufig vor; der Zahlmeister wies mich lachend ab.

Wir machten eine Probefahrt mit »Konkurrenz«. Ich stand neben dem Kommandanten auf dem Signalstand, lauschte auf die Kommandos, die er an Deck oder durchs Sprachrohr in die Maschine rief und verfolgte dabei auf der Karte unseren Kurs. Steuermann Kaiser ermahnte mich, gut aufzupassen, da ich später manchmal die Führung allein übernehmen müßte. Er hielt mich für einen geprüften Steuermann der Handelsmarine. Ich hatte es aber dort nur bis zum Vollmatrosen gebracht und war sogar durch ein später aufgekommenes Gesetz wegen ungenügender Sehschärfe von der Steuermannslaufbahn ausgeschlossen. Jetzt hütete ich mich aber, Kaisers Irrtum aufzuklären, sondern gab mir nur Mühe, auf alles zu achten.

Herr Kaiser war wie die meisten dieser kleinen Hilfsbootkommandanten nur sehr mangelhaft unterrichtet und hatte um so mehr Mühe, seiner Verantwortlichkeit nachzukommen.

Die Sonne schien warm, doch fuhr eine tüchtige Brise kühlend in meinen Hemdausschnitt, und es gab allerlei zu sehen. Da lagen große Kriegsschiffe verankert mit ausgespannten Torpedoabwehrnetzen. Torpedobootsflottillen in Kiellinie qualmten finster vorbei. Ich sah auch zum ersten Male ein Unterseeboot. Auf der Rückfahrt leisteten wir einem anderen manövrierunfähig gewordenen Sperrfahrzeug Hilfe und schleppten es durch die Schleusen ein.

Wir waren müde und hungrig, als wir wieder auf »Blexen« anlangten. Dort gab es gleich Verdrießlichkeiten. Wir hatten Schweinebraten zu erwarten, aber nun behaupteten unsere Leute: das Schwein sei der Koch selber, den Braten habe er selbst gefressen, und wir bekämen – wie immer – nur Gewürznelken vorgesetzt. Sie wagten nicht recht, sich beim Steuermann zu beschweren, weil dieser die gleiche Kost aß und in seiner Gutmütigkeit nichts monierte. Da fuhr denn ich mit einem berechtigten Donnerwetter in den frechen, ferkelhaften Apfelbaum.

Aber auch den Steuermann sah ich an diesem Abend einmal sehr böse, weil der kopflose Werftbürokratismus uns noch lange keine Ruhe gab, indem er die »Blexen« ganz sinnlos von einem Liegeplatz zum andern verholen ließ. Ich stahl vorher noch ein Stahltau, einen Handschrubber und ein Waschbrett von »Konkurrenz«, für »Blexen« wertvolle Gegenstände.

An Land fand ich viel Post vor. Ein Telegramm von meinem geliebten Freunde Dolch. Tante Selma schrieb unter anderem, ob ich nicht einmal ihren Vetter, Herrn Marineintendanturrat Hugo Bruhn, Kirchreihe 27 in Rüstringen aufsuchen möchte. Was mochte wohl ein Intendanturrat sein? Aber vielleicht konnte er mir dazu verhelfen, daß ich bald auf ein größeres Schiff, ich meinte, früher in Gefahr und Abenteuer käme. Denn dieser Wunsch beherrschte mich unentwegt, und ich war gerade drauf und dran gewesen, unvorschriftsmäßiger- und strafbarerweise mich deswegen direkt auf einem Panzerschiff zu melden.

Pfeiffer war wieder nicht in der Kaserne, hatte mir auch keine Nachricht hinterlassen, was mich sehr verstimmte, weil ich doch kein Geld besaß und deswegen den weiten Weg von der Werft her zu Fuß zurückgelegt hatte. Ich suchte ihn nun in allen Kneipen, fand ihn schließlich und machte ihm Vorwürfe. Er gab mir fünf Mark. Wir stießen an, speisten reichlich, betranken uns mit andern Matrosen, und alles war gut. An Bord schrieb ich dann noch Tagebuch und wusch meinen Exerzierkragen, der morgen beim Herrn Intendanturrat meine Anständigkeit herausreißen sollte. Denn an meinen schwieligen Händen und dem fleckigen Anzug war nichts zu ändern, und auch die Stirnfalten meiner plumpen Bordschuhe ließen sich nicht glätten.

Danach ging ich glücklich allein und darüber alle Müdigkeit vergessend meine Nachtwache an Deck. Ich aß ein Brot mit kalter Kartoffel belegt. Der Vollmond sah zu. Auf »Glückauf« warfen Sonnenbrenner ihr Grell auf hämmernde, schweißende und zimmernde Leute. Anderswo brannte ein Schmiedefeuer. Dazwischen und drum herum glitten durch tiefes Dunkel noch tiefere Schatten. Trotz des Dröhnens und Knatterns der Hämmer herrschte doch gleichzeitig Ruhe, und mitunter drangen sachliche Rufe vom anderen Ufer des Bauhafens herüber, die aus irgendwelchem Grunde so schön und auch traurig klangen.

Den Sonntag genossen wir hauptsächlich im Nichtstun. Ich hatte noch einen Piratenzug nach »Konkurrenz« unternommen und verschiedene Schüsseln sowie Farbe und Pinsel ergattert. Dann legte ich mich ins Ruderhaus auf den Lampenkasten, deckte mich mit der Flagge Otto zu und politisierte mit den Kameraden. Meine Kameraden waren der Meinung, wir würden spätestens zu Weihnachten wieder bei Muttern sein. Ich behauptete dagegen, daß sich der Krieg und die Friedensverhandlungen mindestens bis März hinziehen würden. Wir einigten uns schließlich in der Resolution, daß wir alle nichts wissen könnten und dumm wie Bohnenstroh wären. Dann besuchten uns ein paar Leute eines anderen Bootes. Die berichteten von belgischen Greueltaten und von zwei deutschen Fischdampfern, welche sich losgerissen hatten und auf ein Minenfeld geraten waren. Dann brachte die Postordonnanz mir ein langes Telegramm von Eichhörnchen sowie ein Paar gestrickte Pulswärmer aus einem Eisenacher Mädchenpensionat. Dann beschwerte sich die Mannschaft bei mir über den Koch, der von Bord gegangen war, ohne für Mittagessen und Kaffee zu sorgen. Ich brach die Kombüse auf und verteilte mit großen Händen, was ich an Speck und anderem fand.

Zum Abendessen war ich von Herrn Intendanturrat eingeladen. Darauf freute ich mich, denn ich hatte lange nicht mich mit einem gebildeten Menschen unterhalten. Herr Bruhn sah aus wie eine vertrocknete Kartoffel, war ein pedantischer und nervöser Junggeselle und bewohnte ein ostasiatisch möbliertes Häuschen. Während ich, im unklaren darüber, ob beziehungsweise wie weit ich ihm gegenüber mich militärisch benehmen müßte, sehr wenig und unsicher sprach und das Tischtuch mit Suppe bekleckste, erklärte er mir seine dienstliche Tätigkeit. Verwaltungsgeschäfte, die Ankauf, Schlachten und Verkonservierung von Viehherden, Abfindung von Hinterbliebenen der Kriegsgefallenen, Verbuchung des mit Schiffen versunkenen Materials und Ähnliches betrafen.

Das Leben zwischen Tauwerk, Masten und Schiffseisernem war mir eigentlich doch recht schnell wieder zur Gewohnheit geworden. Viele in Jahren vergessene Kenntnisse und Fertigkeiten waren mir mit eins wieder aufgelebt. Wir arbeiteten mit höchstem Eifer, denn »Blexen« sollte nun wirklich bald auslaufen und mußte bis dahin in sauberem und seetüchtigem Zustand sein. Da gab es die langwierigsten Laufereien, um einen kleinen Docht für die Lampe des Maschinentelegraphen zu besorgen. Überhaupt war das Schwierigste, die zuständige Werkstatt oder das richtige Lager in der Werft zu ermitteln und die erforderlichen Ausweispapiere und Auslieferungsstempel zu erhalten. Aber wenn das geglückt war, erhielt man auch die herrlichsten Dinge oder wurden die kompliziertesten Gegenstände in zauberhafter Geschwindigkeit hergestellt. So erhielt unser Koch einen großen, verzinkten Proviantspind, der für jede Köchin eine Seligkeit bedeutet hätte. Apfelbaum versaute diese Seligkeit im Nu.

Jessen bemalte sein Schiff außenbords und innenbords. Der Obermaat polierte seine Kanone wie ein Kleinod. Ich machte aus dem Ruderhaus ein Schmuckkästchen, und zwar ziemlich allein, denn mein Dienstmannmatrose begleitete die Arbeiten mehr mit akademisch sein sollenden Reden. Ich strich die Wände weiß, machte das Ruderrad und die Holzvertäfelung mit Leinöl und Schellack glänzend und putzte Messing, Zink und Glas. Das Material dazu erbettelten oder besorgten wir in den Werkstätten und auf fremden Schiffen. War ich anfangs enttäuscht, weil der Kommandant niemals meinen Eifer lobte, so merkte ich doch bald, daß er in seiner verschlossenen Art überhaupt nie, weder für noch gegen, mehr als das Notwendige sprach.

Als wir Maate die Zimmermannsspuren aus der Messe entfernt hatten und ich meinen Spind und meine Koje tadellos sauber eingerichtet wußte, da fühlte ich mich im Bereich dieses Doppelbesitzes viel glücklicher als je zuvor in der vornehmsten Behausung.

Wer von uns noch Geld besaß, versorgte sich nun auch mit Privatvorräten, mit Schnaps, Kau- und Rauchtabak. Ich hatte aber kein Geld mehr. Nach dem Inhalt einer Karte von meinen Eltern hatten mich eine Postanweisung und mehrere Briefe verfehlt, irrten wer weiß wo herum oder waren unterschlagen.

Unser Dampfkessel war repariert und geprüft, »Blexen« war bereit zum Auslaufen.


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