Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Zweiter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Amphion

1856

Erstes Kapitel

In der weltberühmten Schenke zur »Sirene« in Jena sah es traurig aus. Der Besitzer war gestorben; statt der vermuteten Reichtümer hatte er Schulden hinterlassen. Freilich Schulden in dem kleinen Maßstab der alten Zeit, etliche hundert Gulden, womit das Haus überlastet war. Aber es war auch in der Art der alten Zeit, daß die einzige Erbin der »Sirene«, Eva, die zwanzigjährige Tochter des verstorbenen Schenkwirts, fast ihr Herz abgedrückt wähnte durch den Gedanken an diese kleine Verschuldung, die ihres Vaters Gedächtnis verunehrte, den guten Ruf der »Sirene« auf lange Jahre befleckte und sie selbst – Eva – vielleicht hinausstieß, daß sie ihr Lebtag Gesindebrot essen mußte.

Im Hause wohnte noch die alte Großmutter, aber an ihr hatte Eva keinen Trost. Taub, stumpfen Geistes, der Welt abgestorben, saß sie in ihrem Winkel und spann, sie hatte kein Auge mehr für das Gegenwärtige; sie war nur noch ein Schattenbild vergangener Tage, das gespenstisch seelenlos unter den Lebenden umging.

Da konnte die arme Eva keine andere teilnehmende Seele finden als den zeitweiligen Reichsverweser der »Sirene«, den jungen Küfermeister Friedrich Ritter. Er hatte schon lange bei des Vaters Lebzeiten in den Kellern gewirtschaftet und dann auch über der Erde die Schenke so leidlich in Rand und Band gehalten. Er war ein frischer Bursche, rührig, heiter, voll Selbstvertrauen, und unvermerkt war er mit Eva zu einer Herzlichkeit und Zärtlichkeit gekommen, daß es beiden zuletzt vorkam, als hätten sie von Kindesbeinen an zusammengelebt – da sie sich doch erst seit ein paar Jahren kannten – und müßten auch zusammenbleiben bis ans Ende. Das ging aber alles so in der Stille; der Vater merkte nichts davon und die taube Großmutter noch viel weniger.

Es war an einem Oktobernachmittag; die Sonne schien mild durch die achteckigen Scheiben in die stille Schenkstube. Nur die Großmutter spann in der Ecke, die Katze saß neben ihr auf dem Schemel und schnurrte, und die Mücken, die jetzt das Freie flohen, summten zahllos an Decke und Wänden umher. Gäste hatten sich noch keine eingefunden; denn vor Feierabend gingen meist nur verlumpte Trunkenbolde ins Wirtshaus.

Vorn auf einer Bank saßen Eva und Friedrich.

»Ich bin eine Bettlerin seit des Vaters Tod«, sprach die Trauernde, »jetzt werden unsere Hände in Ewigkeit nicht ineinander gelegt werden.«

»Ei, Eva, was verloren ist, muß man wiedererobern. Nur Geduld! Es läutet so lang, bis es endlich Kirmes wird. Ich will mich zusammentun, schaffen und raffinieren, daß man mich für einen Goldmacher und Hexenmeister halten soll, und eh du dich's versiehst, sind die leidigen fünfhundert Gulden getilgt, und wir haben unseren eigenen, freien Besitz!«

»Ja, wenn uns die Gläubiger so lange warten lassen!« sagte Eva kleinlaut.

»Meinst du, man könne nicht auch rasch zu einem schönen Stück Geld kommen? Hast du nicht gehört von dem Lautenschläger Baronius, der eben in Jena verweilt? Ein wahrer Teufel von einem Musikanten. Er gab gestern abend ein Konzert in der Aula der Universität und nimmt einen gestrichenen Säckel von fünfhundert Gulden mit nach Haus. Fünfhundert Gulden in zwei Stunden, ich glaube, so viel verdient der römische König nicht! Freilich, ich werde es auch nicht, denn nur wo Würste sind, kommen Würste hin. Schau aber auch, was der Teufelskerl alles spielen kann; hier habe ich den Anschlagzettel. Der lautet so:

Laus Deo.

Jena, am 15. Octobris 1720.

Mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung

wird

Ernst Gottlieb Baronius

Cand. juris, königl. preußischer Cammermusicus, berühmtester Lautenspieler und wahrer Amphion dieser Zeit

ein musicalisches Divertimentoauf der Laute zu geben die Ehre haben.

Es werden executiret

  1. Das Allererschröcklichste ( Allegro furioso).
  2. Das Allererfreulichste ( Andante amoroso). Ein Gegenspiel für die Laute.
  3. Die zwölf Ebenteuer des Herculis, für die Laute eingerichtet.
  4. Diana und Endymion, ein Zwiespiel für die Laute.
  5. Furientanz.
  6. Die Belagerung Trojae, Sinfonia in drei Sätzen für die Laute.

» Haud ignarus in harmoniis aliquid inesse ad rempublicam conservandam utilitatis.» Plut. de Mus.

»Musicae ignoratio Scripturae intellectum impedit.« S. August, de doctr. Christi.«»Wohl weiß ich, daß in den musikalischen Harmonien etwas sitzt, was förderlich ist, den Staat zu erhalten.« Plutarch über die Musik.
»Die Unkenntnis der Musik hindert das Verständnis der Heiligen Schrift.« Der heilige Augustinus über die Lehre Christi.

»Ach, das ist ein gelehrter Zettel«, sagte Eva, »und mag auch eine gar gelehrte Musik sein! Wenn doch der kunstreiche Mann unser Leid wüßte und ein rechter Christ wäre, dann würde er uns die fünfhundert Gulden schenken, die er auf diesen Zettel hin in zwei Stunden verdient; er würde uns glücklich machen, und in anderen zwei Stunden hätte er sich wieder andere fünfhundert Gulden zusammengespielt.«

»Liebe Eva, so großgemutet ist gar selten ein Musikant. Je größer der Künstler, je kleiner der Christ. Die's am weitesten gebracht, haben sich zuletzt alle dem Teufel verschrieben. Die Musici stimmen die Saiten auf ihren Instrumenten, sagt man, aber die Saiten ihres Gemüts lassen sie übelgestimmt.«

Nun erhob sich die taube Großmutter von ihrem Spinnrad, wo sie einiges von dem Inhalte des Gesprächs erlauscht hatte. Überlaut nach tauber Leute Weise, rief sie: »Hexengold und Musikantensold verfliegt über Nacht. Zu meiner Zeit kam auch ein gewaltiger Geigenvirtuos hierher, man nannte ihn nur Damian von Gußbach nach seinem Geburtsort, denn seinen rechten Namen wußte er selber nicht. Der spielte die Geige bald unter dem Kinn, bald auf dem Kopf, bald auf seinem Rücken, bald zwischen den Beinen wie ein Bassettchen. Er spielte mit dem Fiedelbogen über den Saiten und unter den Saiten, auf den Haaren und dem Holz, kurzum er spielte, wie man wollte, und doch kam immer etwas wie eine schöne Musik heraus, daß es ein wahres Mirakel war. Wer zwei Weißpfennige zahlte, der konnte ihn den ganzen Abend hören. Anfangs war es ein Zulauf, daß er seinen Hut gestrichen voll Weißpfennige bekam, und die ganze Stadt sprach von Damian von Gußbach, wie sie jetzt von Baronius sprechen. Aber als er öfter wiederkam, wurden der Weißpfennige immer weniger, und eines Morgens ist er meinem seligen Manne plötzlich durchgegangen mit Hinterlassung beträchtlicher Zehr- und Logisschulden und ist nicht wieder gesehen worden. So geht es mit all der Flitterherrlichkeit von Musikanten und Komödianten.«

Eva und Friedrich schraken zusammen, denn sie sahen plötzlich, daß sie nicht mehr allein in der Stube waren.

Die stattliche Gestalt eines fremden jungen Mannes stand mitten im Zimmer, eine auffallende, anziehende Erscheinung. Das Gesicht war fast wie eines Mohren geformt und von merkwürdig bräunlicher Färbung, aber aus den großen, glänzenden Augen blitzte Geist und Selbstvertrauen. Eine mächtige Perücke schloß die Stirne ein, zu beiden Seiten mit großen hörnerartigen Wulsten, die den Kopf fast viereckig machten. Ein roter Sammetrock, feine Spitzenmanschetten und Jabot, schwarze Sammethosen, ein zierlicher Degen, große Schuhschnallen, mit funkelnden Edelsteinen besetzt, bildeten die einfache, aber höchst gewählte Kleidung, welche den vornehmen Mann verkündete.

»Ich habe Euch schon mehrmals angeredet«, sprach er lächelnd zu Friedrich, »aber zuerst waret Ihr so vertieft in den Konzertzettel und dann in Eure Glossen über den Lautenspieler, daß Ihr gar kein Ohr für mich hattet. Ich erwarte Freunde hier. Bringt mir darum eine Kanne Wein, nicht vom schlechten und nicht vom besten, sondern von jenem guten, womit man das rechte Fundament legt, daß man weiter vom besseren und vom besten noch mit Lust trinken mag.«

Als Friedrich den Wein brachte, klopfte ihm der vornehme Gast auf die Schultern und sprach: »Über die großen Musici seid Ihr schlecht berichtet. Sie verdienen ihr Geld nicht so leicht, als Ihr glaubt. Musikantensold ist auch kein Hexengold. Freilich ein glücklicher Abend bringt rasch reichen Lohn. Aber von den durcharbeiteten Nächten, von den Wochen und Monaten, im wahren verzehrenden Fieber des Studiums hingebracht, von all der martervollen Arbeit, die es heischt, bis einer so weit gekommen ist wie dieser Baronius, davon lasset Ihr Euch in Eurem kühlen Keller nichts träumen. Und wenn's der Musikus dann so weit gebracht hat, wie muß er schaffen, um sich über dem Wasser zu halten! Das geht nicht mehr wie beim Damian von Gußbach. Wer jetzt ein gerechter Virtuos will heißen, der muß auch ein Komponist sein, im reinen Satz so sattelfest wie der erste Kapellmeister. Auch ein Gelehrter muß er sein, in der Geschichte seines Instruments und seiner Kunst wohlbewandert, in den alten heiligen und Profanskribenten wohlbelesen. Denn ein großer Musikus muß heutzutage seine Bücher schreiben so gut wie seine Noten, mit Gelehrsamkeit wohlausstaffierte Bücher, schneidig voll Feuer, Witz und Grobheit, sonst wird er totgeschrieben von den Kollegen. Es ärgert einen Hund, wenn er einen anderen in die Küche gehen sieht; so geht es auch mit den Künstlern und dem Kunsttempel. Aber versteht Ihr mich auch, Freund, denn Ihr sehet mich gar wunderlich an?«

»Freilich, freilich!« rief Friedrich eilfertig. »Das klingt ja alles so schön und gelehrt, fast gerade wie der Konzertzettel des Herrn Baronius.«

Dann ging er auf die Seite zu seiner Eva und flüsterte: »Wenn der Rotrock nicht der Teufel ist, dann muß es der Baronius in eigener Person sein.«

Zweites Kapitel

Nach einer Weile trat ein mächtig großer, breitschulteriger junger Mann in die Schenkstube, wohl ein angehender Dreißiger und seiner Kleidung nach doch noch ein Student. Denn eine Schar wohlgesetzter Männer, darunter auch verheiratete Leute, bildete damals noch immer wie in alten Zeiten den Adel der bemoosten Häupter, und von halbreifen Jünglingen, wie sie jetzt die Hörsäle füllen, war noch wenig zu sehen auf deutschen Hochschulen. Der Student trug sein natürliches Haar bis auf die Schultern niederwallend, dazu einen stattlichen Schnurrbart und Kinnbart, und wie er so stolz hereinschritt, die linke Hand auf das Gefäß des Stoßdegens gestemmt, sah man's ihm gleich an, daß er kein gewöhnlicher Student und Obskurant sein könne, sondern ein Mann von burschikosen Ehren und Würden. Er war in der Tat Senior des Faßbinderordens, der herrschergewaltigste Student der ganzen Hochschule.

Als er den feinen Mann im roten Sammetrock erblickte, eilte er auf ihn zu, umarmte ihn, küßte ihn, schrie laut auf vor Freuden und wollte ihn kaum wieder loslassen. »Ich gratuliere, Freund Baronius! Das war ein Sieg, ein Triumph! Wie mich jeder Beifallruf freute, als gälte er mir, jeder Lorbeerkranz, als sei er mir hingeworfen! Aber ich habe auch redlich mitgearbeitet, Freund! Sämtliche Mitglieder des Faßbinderordens hatte ich ins Konzert geschafft; da standen wir im geschlossenen Treffen, und nach jeder Nummer schlugen wir frisch zuerst an mit einem wahren Rottenfeuer des Klatschens und Jubelns; und uns gegenüber in der anderen Ecke des Saales war der ganze Lilienorden aufgepflanzt, den habe ich auch halb in der Tasche, und sowie ich nickend das Signal gab, fuhren die braven Burschen von den Lilien gleichfalls drein wie wütend. Zuletzt, nimm mir's nicht übel, hatten meine Leute fast mehr Freude daran, sich selber klatschen als dich spielen zu hören. Ach, du bist ein gemachter Mann, überschüttet mit Geld und Ehren, berühmt durchs ganze Reich, – ich habe mit dir meine Studien begonnen, ich bin nichts und werde nichts, ich bleibe der ewige Student!«

»Beneide mich nicht allzusehr«, erwiderte Baronius, den Arm auf die Schulter des Freundes legend. »Du bist wohl glücklicher als ich. Der Erfolg in der Kunst macht unersättlich. Das nagt an mir, das verzehrt mich, daß ich weiter, weiter, immer weiter will. Ich genieße meine Triumphe nicht, denn für mich sind es längst keine Triumphe mehr. Es gab Meister, die Größeres leisteten, unendlich Größeres; es martert mich zu Tode, daß ich's ihnen nicht nachmachen kann. Ich schreibe eben an einer Geschichte des Lautenspiels. Jedes Blatt, welches ich in den Geschichtsbüchern umwende, verstimmt mich, daß ich heulen möchte vor ungesättigtem Ehrgeiz. Amphion bewegte Steine mit seinem Lautenspiel, er bezauberte Bäume und Felsen. Jetzt mag sich einer die Finger abspielen, er wird darum noch keinen Stein um einen Zoll von seiner Stelle rücken. Doch das mögen Fabeln sein, und die Geschichte ist auch schon sehr lange her. Orpheus hielt gar den Wind auf mit den Tönen seiner Laute. Auch diese Kunst will ich gern verloren geben; man könnte durch sie leicht als Wettermacher und Hexenmeister zu bösen Geschichten kommen. Aber daß beide, Amphion und Orpheus, durch ihr Spiel die wilden Tiere gebändigt und gezähmt haben, das ist doch wohl keine Fabel. Wie erbärmliche Stümper sind wir da gegen diese Meister. Nicht einen Hund, nicht eine Katze mag unser Lautenspiel noch fesseln, geschweige denn einen Hirsch, Wolf oder Bären. Hund und Katze laufen davon, wenn ich nur drei Akkorde anschlage, und zwingt man die Bestien zu bleiben, dann heulen sie immer höher, je schöner und heftiger man spielt. Was ist unsere ganze gepriesene Malerkunst, bevor es nicht wieder gelingt, jene Traube zu malen, nach denen die Spatzen geflogen sind? Doch die Wunderwerke der klassischen Zeit will ich alle noch verschmerzen; wer will überhaupt in Wettkampf treten mit Griechenland und Rom? Aber auch in den finsteren mittleren Zeiten, ja in ganz naheliegenden Jahrhunderten sind Wunderdinge auf der Laute geleistet worden, für uns so unerreichbar, daß wir uns beschämt verkriechen, daß wir unsere Lauten an der Wand zerschlagen müssen angesichts jener obskuren Meister, deren Namen man nicht einmal recht kennt. Sieh, Freund, das frißt an mir, das macht mir schlaflose Nächte, das läßt mich in Zorn und Wut die Laute üben in ihren höchsten Schwierigkeiten, bis mir das Instrument aus der Hand gleitet vor Ermattung. Nicht eher gewinne ich Ruhe und Zufriedenheit, bis ich diese namenlosen Zauberer besiegt habe.«

»Und worin bestand denn deren Kunst?« unterbrach der Senior. »Aber halt! Rede nicht weiter, bevor wir uns gesetzt haben, bevor Eva mir eine Kanne Rheinwein kredenzt und bevor wir angestoßen und einen guten Trunk getan. Denn deine Rede tönt süß wie deine Laute, aber sie baut sich breit und groß wie deine Musik, wenn du das Jüngste Gericht spielst, und ist so festgefugt, daß man nirgends ein Loch hineinbrechen kann. Nichts für ungut, Freund! Glück auf! Also auf die Überwindung des Orpheus und Amphion und aller namenlosen mittelalterlichen Lautenspieler!«

Da stießen sie an und tranken. Dann fuhr Baronius also fort:

»Es wird uns von glaubwürdigen Chronisten berichtet, daß am Hofe König Erichs von Dänemark ein Lautenspieler gewesen von so großer Kraft des Ausdrucks, daß er durch sein Spiel die Zuhörer zu jeder Leidenschaft stimmen und hinreißen konnte. Der König, der davon vernommen, wollte diesen Triumph der Kunst mit Augen sehen und befahl darum dem Musiker, vor seinen Rittern und Hofleuten kriegerische Weisen so zu spielen, daß alle zum Kampf entflammt würden. Der Lautenspieler war seiner Sache dermaßen gewiß, daß er bat, alle Waffen fortzuschaffen und Wächter vor dem Saale aufzustellen, welche die Streitenden sofort auseinanderreißen könnten. Damit die Wache aber nicht auch in den allgemeinen Taumel hineingezogen würde, sollte sie rechtzeitig dem Meister die Laute wegnehmen und so der bestrickenden Musik ein Ende machen. Der Lautenspieler begann ein weiches Adagio; da wurden alle Zuhörer tief betrübt, daß ihnen fast das Weinen ankam. Dann ging er über in ein fröhlich bewegtes Allegro; da glänzte Heiterkeit auf allen Gesichtern, und kaum konnten sich die Jüngeren des Tanzes enthalten. Nun erschallte ein kriegerischer Marsch, der sich allmählich zu einer so heftigen, stürmischen, wildaufregenden Kriegsmusik erweiterte, daß alle wie von Sinnen kamen. Zorn und Wut erfüllte die sonst freundlichen Gemüter. Vergebens suchte man, rief man nach den Waffen. Da begann in der äußersten Wut der ganze Hof mit Fäusten sich zu schlagen, bis die Wachen mit Schwertern und Hellebarden hereindrangen, um Frieden zu schaffen. Aber beim Anblick des ungeheuren Tumultes vergaßen sie, dem selbst wie wahnsinnig rasenden Musiker die Laute hinwegzunehmen. König Erich riß einem der Wächter das Schwert von der Seite, rannte damit ins Getümmel hinein und stieß vier seiner Getreuen nieder. Nun erst schlug einer der Wächter dem Lautenisten mit der Hellebarde sein Instrument in Stücke, und plötzlich, da es still geworden, beruhigten sich die Gemüter. Der König wollte verzweifeln vor Reue und Kummer über den vierfachen Mord. Zur Sühne unternahm er eine Wallfahrt nach Jerusalem; auf der Rückreise ereilte ihn der Tod auf Zypern. Sieh, Freund, das war ein Triumph der Kunst; und solange ich nicht vermag, was jener Lautenspieler vermocht, bin ich ein Stümper.«

Der Senior erwiderte trocken: »Also du meinst, wenn man eine so verzweifelte Musik macht, daß sich die Leute darüber totschlagen, dann hat man den Gipfel der Kunst erreicht? Nein, lieber Baronius, rechtfertige dich nicht; verstehe Scherz, ich will jetzt auch im Ernste reden. Sieh, du hast mir diese Geschichte von König Erich und seinem Lautenspieler früher schon öfters erzählt und immer das gleiche Leid geklagt. Ich habe inzwischen fleißig darüber nachgedacht und möchte dir nur eine Frage vorlegen: Hast du denn schon den Versuch gemacht, ob du nicht auch so unmittelbar die Leidenschaften der Menschen erregen könntest durch dein Spiel, und ist dir der Versuch mißglückt?«

Baronius gestand, daß er's noch nicht versucht habe. Zugleich begann sein Auge zu leuchten und zu blitzen, seine Wangen röteten sich, sein ganzes Gesicht ward von Begeisterung überstrahlt. »Ja, daran liegt's«, rief er, »daß ich's noch nicht versucht habe; wenn ich's versuchte, es würde mir gelingen. Das fühle ich auf einmal mit einer inneren Gewißheit, die nicht trügt! Wahrlich, Freund, du hast mir den rechten Weg gezeigt.«

»So laß deine Laute holen«, rief der Senior in einem seltsam sarkastischen Ton, der aber dem schwärmerisch begeisterten Musiker ganz entging. »Flugs an die Probe!«

»An die Probe? Aber vor wem? Mit wem? Vor dir, Freund, ja, vor dir allein, das ist genug. Gleich jenem Tragiker, der nur einen Zuhörer zum Vorlesen seines Trauerspieles fand und ausrief: dieser einzige sei ihm eine glänzendere Hörerschaft als das ganze Volk von Athen, denn es war Plato – gleich jenem Tragiker will ich in dir allein das entscheidende Auditorium finden, denn du warst es, der mir mit seiner Klugheit das rechte Licht angezündet in dieser Angstfrage meines Ehrgeizes, wo ich schon so lang im Dunklen tappte.«

»Ich bin nicht Plato, Freund«, erwiderte der Senior, »und für unsere Probe würde doch auch ein einzelner kaum genügen, und wäre er selbst Plato in eigener Person. Sieh, da kommen Zuhörer. Der ganze Orden der Faßbinder wird hier aufziehen, fünfundzwanzig auserlesene Studenten, zu jeder Leidenschaft meist über das Maß aufgelegt, da kannst du erproben, wie weit der Zauber deiner Laute reicht.«

Drittes Kapitel

Der Senior machte sich los von seinem Freunde Baronius und ging zu den Studenten. Er mußte ihnen etwas Lustiges mitzuteilen haben, denn wo er mit einem gesprochen, lächelte ein jeder seltsam in sich hinein, und einer schien's dann dem anderen weiterzusagen, so daß sich zuletzt allgemeine Heiterkeit über das ganze Völkchen verbreitete. Ja, einige der Erregtesten bissen die Lippen zusammen oder schlichen zur Tür hinaus, daß sie nicht herausplatzten mit lautem Lachen.

Inzwischen nahm der Senior auch Eva beiseite und sprach lange mit ihr. Das sah Friedrich gar nicht gerne. Er wollte hinübergehen, um dem vertraulichen Diskurs ein Ende zu machen: da ward er von Baronius zum Gespräch gestellt, und bei dem Respekt, den er einmal vor diesem Herrn hatte, wagte er es nun nicht, zu Eva hinüber zu entschlüpfen.

»Ihr seid wohl kein sonderlicher Liebhaber und Kenner der Musik?« fragte der berühmte Virtuose.

»Oh, ein lustiges Liedchen hör' ich schon gern und einen lustigen Tanz noch viel lieber. Von aller anderen Musik verstehe ich nichts. Und warum müßte ich just etwas davon verstehen? Versteht Ihr doch wohl auch nichts von der edlen Kunst der Küferei. Zudem ist ja der Geschmack überhaupt verschieden. Der eine zieht eine gute Musik, der andere ein gutes Glas Wein vor. Wer will entscheiden, wessen Geschmack der bessere sei?«

Baronius lächelte. »Du sprichst genau wie König Archidamus von Sparta, der, als ihm ein gefeierter Musiker gerühmt wurde, auf seinen Koch deutete und rief: Dieser ist mir der gefeiertste Meister, denn er kocht die besten Suppen. Wenn du aber die Musik mit der Küferei zusammenstellst, so wisse, Freund, daß schon Plutarch sagt, die Götter hätten die Musik erfunden. Darum soll Freude an der Musik und Verständnis der Musik allen Menschen als etwas Göttliches gemein sein; die Küferei dagegen –«

»Küferei, ja, Herr, das ist das rechte Wort!« rief Friedrich, wie aus einem Traum auffahrend. »Und die Kellnerei dazu! Ein jeder schau auf seine Schanz! Eva plaudert, ich höre Euch zu; indessen warten dort fünfundzwanzig Gäste auf den Wein.« Mit diesen Worten lief er davon, allen Respektes vor dem großen Künstler vergessend. Aber es war nicht bloß das plötzlich erwachte Pflichtgefühl, was den jungen Küfermeister mit einemmal das Netz der schönen Worte des Musikers zerreißen hieß. Er hatte gesehen, wie Eva mit dem Senior lächelte, fortwährend lächelte, ja sogar lachte: das hatte ihn gepackt. Er rannte fast ein paar Studenten um, bevor er an den Schenktisch kam. Der Senior und Eva winkten ihn zu sich hinüber, aber Friedrich sah es nicht oder wollte es nicht sehen. Er schenkte Wein aus mit einem wütenden Eifer, blind für alles andere, als ob das Heil der Welt daran hänge, daß binnen fünf Minuten die fünfundzwanzig Kannen gefüllt seien.

Inzwischen begrüßte Baronius die Studenten höchst freundlich. Es war ein seltsames Gemisch von Wohlwollen, Aufgeblasenheit, Pedanterie und Genialität in dem jungen Manne, aber wenn man ihn näher beobachtete, mußte man ihm doch zuletzt herzlich gut sein; denn nie ist es einem Künstler ein heiligerer Ernst gewesen um seine Kunst, und die komische Pedanterie samt dem tollen Ehrgeiz quoll doch zuletzt hervor aus der glühenden und reinen Begeisterung, für die es nichts Höheres auf der Welt gab als ein ganz vollendetes Lautenspiel. Die Studenten fühlten wohl diese wahre Natur heraus, die in dem Virtuosen steckte. Sie grüßten ihn herzlich und ganz wie ihresgleichen, und das ist ja die höchste Ehre, die der Student dem Philister erweisen mag.

Man brachte die Laute des Künstlers. Eine atemlose Stille ging durch die Stube, als er zu stimmen und ein wenig zu präludieren begann.

Da erhob sich der Senior. »Erst einen Becher Weins! Ein Hoch auf die Musik! Dann singen wir einen lustigen Liedervers – denn wir wollen nicht stumme Fische sein, wo die Musik ihr Höchstes und Herrlichstes zeigen soll. Ein Studentenlied gehört auch zum Höchsten und Herrlichsten – rümpfe nur die Nase, Freund Baronius, es ist doch also. Haben wir nach herkömmlicher Art unseren Vers gesungen, dann magst du dein Lautenspiel beginnen und uns bestricken und bezaubern als der größte Hexenmeister.«

So geschah es, wie der Senior vorgesagt. Hell erklangen die Becher, mächtig donnerte das Hoch auf die »edle Sing- und Klingkunst«, und ein kräftiges, lustiges Lied brauste, von den frischen, jugendlichen Kehlen angestimmt, wie ein klarer, gewaltig hervorbrechender Strom durch die hallenden Räume. Als der Chor geendet, hielt Baronius auf seiner Laute das Thema des Liedes fest, aber er spielte es in Moll, er verlangsamte das Zeitmaß, er wandelte die lustige Weise in eine gar traurige. Da lagerte sich nach und nach Schwermut auf allen Gesichtern, jeder schien in sich selber versunken, den düstersten Gedanken nachhängend. Einige Studenten, die dem Weinglase besonders heftig zusprachen, begannen zu wehklagen, daß man hätte denken mögen, es sei schon in dieser frühen Stunde jene wunderliche Stimmung über sie gekommen, die der Bursch das »besoffene Elend« nennt. Eva selber hatte sich in die Ecke auf einen Stuhl geworfen, verhüllte ihr Gesichtchen mit dem Schnupftuch und schluchzte so vernehmlich, daß man's über das Lautenspiel hinaus hören konnte.

Das Gesicht des Virtuosen strahlte vor Begeisterung. Nur zwei Zuhörer blieben stumpf, er mochte so kläglich spielen, wie er wollte: die taube Großmutter und Friedrich.

Der junge Küfermeister schaute darein mit aufgerissenen Augen und weitgeöffnetem Mund wie einer, den man mit plötzlichem Wasserguß aus dem tiefsten Schlafe weckt. »Entweder ist die ganze Gesellschaft zu Eseln geworden, oder ich bin allein der Esel!« rief er, doch nur mit halber Stimme aus Furcht vor den Studenten. Aber der Lautenspieler, der eben sein Pianissimo säuselte, hatte den Ausdruck wohl verstanden.

»Freund«, rief er dem Küfer zu, »du allein bist verstockt und fühllos. Ein Barbar bist du, barbarischer noch als jener Skythenkönig, der, da er den trefflichsten Sänger gehört, ausrief, lieber wolle er doch sein Pferd schreien hören.«

Da lief dem Friedrich dann doch die Galle über; aller Respekt vor dem roten Sammetrock, der großen Perücke und den Brillantschnallen auf den Schuhen, der ihn bisher gefangengehalten, war wie weggeblasen, und er rief überlaut, daß man gar nichts mehr hören konnte von dem Adagio lamentoso der Laute: »Ihr vergleicht mich heute abend mit lauter Königen, aber mit Königen, die nach Eurer Meinung rechte Dummköpfe gewesen sind. Ich will nicht so hoch hinaus! Ich halte es mit ehrlichen, geringen Leuten, die Grütze im Kopfe haben, auch wenn sie nichts von Eurem Geklimper verstehen. Ein jedes Schwein bleib bei seinem Trog, und ein Donnerwetter soll dreinschlagen, wenn ich mir länger Grobheiten hier in meiner Stube sagen lasse!« Der Virtuos hatte während der ganzen Rede Friedrichs das zarteste Adagio durchgeführt mit wunderbarer Delikatesse und einschmeichelndem Wohlklang; denn so gedachte er zu siegen über den Schreier und ihn doch zuletzt zu zähmen wie Orpheus und Amphion die wilden Bestien. Aber das alles prallte ab wie an einem Schuppenpanzer, oder vielmehr Friedrich hatte gar nichts gehört von den zähmenden und besänftigenden Melodien.

Als er seine mannhafte Rede geendet und noch zornglühender dastand wie vorher, da schloß auch Baronius, tief ergrimmt über die Niederlage, sein Adagio mit einem so gewalttätigen Akkord, als ob er die Laute zusammenreißen wolle, und rief: »Nein! Ein so von allen Musen verlassener Mensch ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen!«

Dann griff er wieder zu dem Instrument. Jetzt aber erklangen ganz andere Weisen. Selbst vom Zorn ergriffen, flog der Künstler mit wahrer Wut durch die Saiten; die kecksten Übergänge, die grellsten Läufe reihten sich aneinander: das Tempo stürmte, daß auch dem phlegmatischen Zuschauer die Pulse heftiger zu schlagen begannen; es war in der Tat eine wild aufregende, unstete, unheimliche Musik. Das sah man den Studenten an; sie erwachten aus ihrem melancholischen Sinnen, sie wurden sichtlich unruhiger. Baronius selber schnitt schon ein gar grimmiges Gesicht. Es schien anzustecken. Denn bald schauten sich die Studenten zornmutig an; der eine ballte die Faust, der andere schlug auf den Tisch, der dritte stampfte mit dem Fuß. Als der Lautenspieler des inneward, war bei ihm nun geradezu der Teufel los. Er suchte sich zu steigern über alles Maß, er raste in den Saiten, daß man meinte, sie sollten alle vom Griffbrett wegspringen. Es gab keine verrückte, teufelmäßige Harmonie mehr, die er nicht anschlug; der Rhythmus wirbelte, als ob der Spieler von der Tarantel gestochen sei. Tartinis Teufelssonate war Volksharfengesäusel gegen diese Höllenmusik. Da mußte man aber auch die Wirkung auf die Zuhörer sehen! Hier prügelten sich ein paar, dort lagen sich zwei in den Haaren, andere hatten die Degen gezogen und fochten auf Leben und Tod. Der Senior, an den sich aus Instinkt der Autorität doch keiner seiner Leute wagte, warf, um dem Zorne Luft zu machen, alle Gläser und Krüge, deren er habhaft werden konnte, wider die Wand, so daß man vor dieser Musik des Tumults und Skandals zuletzt von der dämonischen Laute fast gar nichts mehr hören konnte. Friedrich rief ein über das andere Mal, ob denn nun alle Welt verrückt geworden oder ob er allein der Narr sei, kreidete aber dazwischen mit großer Pünktlichkeit jedes Glas und jeden Krug an, den der Senior an der Wand zerschmetterte. Als aber gar Eva auf ihn zustürzte, zornglühend wie alle die übrigen, ihm ein Fäustchen unter die Nase machte, ihn mit Vorwürfen, mit giftigen Spott- und Scheltworten überschüttete, da war es ihm, als ob er selber ganz von Sinnen komme. Die ganze Stube ging im Wirbel mit ihm herum, er ward irr an seinen eigenen Augen und Ohren, zuletzt auch an seinem Gehirn. Verzweifelnd setzte er sich abgewandten Gesichts in einen Winkel, und ein furchtbarer Trübsinn kam über ihn über die Tollheit dieser Menschen, daß er hätte heulen mögen.

Inzwischen war der Lärm so arg geworden, daß der Senior aufsprang und den Degen zog, um seinem Freunde Baronius die Laute in Stücke zu schlagen. Dieser rettete sein Instrument kaum durch den kühnsten Seitensprung und lief dann in den sicheren Winkel, wo eben Friedrich saß, nun flugs die friedlichsten, beruhigendsten Akkorde anstimmend. Da heiterte sich der Himmel der Schenkstube sichtlich wieder auf. Die Raufenden ließen einander los, die Fechtenden steckten ihre Degen ein, und ein allgemeines Gelächter erscholl, wie man sich so für nichts und wieder nichts habe erhitzen können.

Baronius schwamm in Seligkeit, als ihm plötzlich die taube Großmutter ganz nahe vors Gesicht trat. Sie hatte schon lange von ihrem Spinnrad aus in den Lärm hineingerufen, aber niemand hatte sie gehört. »Wie setzt Ihr dieses friedliche Haus in Unruhe! Zu meiner Zeit hat man kurzen Prozeß gemacht mit Leuten, wie Ihr seid, und sie des Henkers Knecht überliefert, daß er mit seinen Pfriemen untersuche, ob ihr Blut wie das eines Teufelsgenossen oder wie eines Christenmenschen fließe. Ihr verblendet unsere Gäste durch Zauberei, daß sie sich untereinander die Hälse abschneiden. Ihr anderen, trauet doch dem nicht, was ihr sehet und höret von diesem Mann; es ist lauter Blendwerk mit seinem Lautenspiel. So verblendete zu meiner Zeit eine Hexe die ganze Stadt, indem sie auf dem Marktplatz ein Seil aufs höchste Dach spannte und uns allen darauf zu tanzen schien wie auf ebener Erde. In der Tat jedoch tanzte sie nur auf etlichen Strohhalmen, die sie aufs Pflaster gelegt hatte.« Die Studenten lachten; die Alte, die gesprochen wie eine Seherin, schritt würdevoll zu ihrem Spinnrad zurück.

Der Senior rief dem Freunde zu: »Siehe, selbst die taube Großmutter hast du in Zorn gespielt, und Friedrich sitzt dort in Melancholie versunken, gleich als ob jetzt erst dein Adagio lamentoso bei ihm zu wirken beginne. Wie es scheint, bedarf es immer erst einer Viertelstunde, bis seine Nerven umgestimmt sind, denn er ist langsamen Geistes und hart von Begriff.«

»Lassen wir noch eine Weile den Scherz«, sprach Baronius, körperlich erschöpft und doch noch voll Glut und Drang im Geiste. Und indes er seine beim letzten Sturme so stark verschobene Perücke ordnete und dann seine Laute aufs neue stimmte, bat er die Studenten, sich nur auf wenige Minuten noch einmal ruhig niederzusetzen, damit ein würdiger Schluß sein heutiges Tagewerk kröne, das ihm selber wie ein Traum, wie ein Wunder vor den Sinnen auf- und niedergehe.

Alle saßen wieder friedlich beieinander. Da stimmte der Virtuos die zärtlichste, süßeste Liebesweise an. Eine Weile schauten die Zuhörer nur vergnüglich, dann selig lächelnd drein, dann aber entfaltete sich zusehends eine wunderbare Wirkung dieser Musik. Die noch vor wenigen Minuten auf Tod und Leben gekämpft, umschlangen sich jetzt mit den Armen, drückten sich die Hände, daß man's knacken hörte, schwuren sich ewige Freundschaft, küßten sich: es war ein Bild der allgemeinen Zärtlichkeit, Liebe und Hingebung, daß man hätte meinen sollen, auch die Tische, Stühle und Bänke müßten sich gerührt umarmen und die Krüge und Kannen zum Kuß gegeneinanderrücken.

Die zärtlichste Gruppe aber erstand im Vordergrunde. Eva kam bei den liebetrunkenen Klängen des Andante amoroso ganz schüchtern und verschämt von der Seite hergeschlichen. Man sah, das natürliche Gefühl der Weiblichkeit hielt sie zurück; aber andererseits war es die unwiderstehliche magische Gewalt in den Akkorden der Laute, die sie vorwärtszog. Da half kein Widerstand. Sie mußte näher, immer näher zu dem Zauberer. Auf einem Stuhle neben dem seinigen sank sie nieder und schaute ihm in die begeisterten Augen so freundlich, so liebevoll, daß Baronius fast seine Laute weggeworfen hätte, um das schöne Kind zu umarmen. Aber nein, er mußte sein Spiel steigern: noch zärtlicher, noch rührender mußte es erklingen, noch glühender mußte die Liebe in Eva entfacht werden. Er überbot sich selber an Zartheit, Tiefe und Fülle des Ausdrucks; man mußte gestehen, so süße, reizend dahinschwebende und doch so tief empfundene Musik hatte noch keiner auf der Laute gehört. Und doch spielte der Künstler selber fast bewußtlos. Sein Auge hing an Evas Auge. Ja, das war Liebe, wahre Liebe, die er entzündet hatte durch die göttliche Musik, Liebe für ihn, wachsend mit jedem Akkord. Wog dieser höchste Sieg der Kunst über ein Menschenherz nicht unendlich schwerer als die Kunststücke des Orpheus, Amphion und Arion, Steine zu bewegen, Bäume zu bezaubern, Bestien zu bändigen, Fische zu dressieren? Und hatte er's nicht sogar sich selber angetan? Ja, sich selber spielte er hinein in die wahrste Liebe zu Eva. In ihre klaren Augen hatte er auch vorhin schon geblickt und war kalt geblieben; jetzt, wo die Musik hinzukam, schaute er hinein wie in einen tiefen, stillen, klaren See, aus dessen dunklem Grunde ihm die Glückseligkeit seines ganzen künftigen Lebens entgegenschimmerte.

»Halt! es ist genug mit der Gaukelei!« rief plötzlich Friedrich, zornglühend zwischen Baronius und Eva tretend.

»Still! bis das Stück ausgespielt ist!« flüsterte ihm der Senior zu, mit so drohender Gebärde, daß Friedrich erschrocken und verstummt auf einen Augenblick zurücktrat.

Baronius spielte lächelnd und mit großem Selbstgefühl weiter; er war jetzt zu gewiß, daß seine Liebes- und Freundschaftsmusik alsbald den Zorn des Küfers niederschlagen werde.

»Du siehst«, sagte der Senior seinem Freunde ins Ohr, »bei diesem Burschen wirkt alles erst eine Viertelstunde später. Vorhin packte ihn die Melancholie, als wir bereits beim Zorn waren; jetzt packt ihn der Zorn, da wir bei der Liebe sind. Gib acht: nachher wird auch noch die Liebe bei ihm hervorbrechen, wenn wir längst mit derselben fertig geworden.«

Da stand von der anderen Seite eine viel schlimmere Gegnerin als Friedlich wider den Lautenspieler auf, die taube Großmutter; die konnte Baronius mit keiner Musik mehr fangen.

»Schäme dich ins Herz hinein, Eva!« rief sie. »Wie kannst du mit diesem verruchten Musikanten liebäugeln! Ein Musikant! Ei, wie doch die Welt anders geworden ist! Zu Damian von Gußbachs Zeiten sahen die Musikanten anders aus. Ist der Lautenschläger geputzt wie ein Graf! Staatsperücke, Sammetrock, Schuhschnallen mit Edelsteinen! Ja, ja, das will immer höher hinaus, jawohl, wenn Dreck Mist wird, dann will er gefahren sein!«

Weiter kam die Alte nicht. Der Senior hatte ein paar handfesten Studenten gewinkt, die faßten die Großmutter ganz artig unter beiden Armen und zogen sie zu ihrem Spinnrad zurück, mit dem Bedeuten, wenn sie sich hier nicht ruhig verhalte, so werde man sie auf ihre Kammer abführen. Sie saß nun auch fest wie eine Bildsäule und murmelte nur fortwährend unverständliche Worte heftig in sich hinein.

Jetzt aber ermannte sich Friedrich wieder. »Die alte Frau hat doch recht! Eva, ins Herz hinein sollst du dich schämen! Meine Augen aber sollen den Skandal nicht weiter mit ansehen.« Damit ging er zur Tür hinaus und warf dieselbe so wütend ins Schloß, daß man hätte denken sollen, sie müsse aus allen Fugen fahren.

Die Stimmung war nun doch gestört. Eva schaute nicht mehr dem Lautenspieler ins Auge; sie blickte beschämt vor sich nieder, als wollte sie ein Loch in den Boden sehen. Die Studenten waren aus ihren freundschaftlichen Verschlingungen auch etwas herausgekommen, flüsterten dies und jenes miteinander und sprachen zur Kurzweil der Weinkanne fleißiger zu, als es sich mit dem Geist der reinen Liebe und Zärtlichkeit vertrug. Man sah, sie waren fast ärgerlich, als Baronius sein Andante amoroso in neuen Variationen wieder anhub, um die vorige Stimmung wiederzugewinnen.

Allein es wollte auch dem Virtuosen nicht so glücken wie vorher. Er spielte viel kunstreicher, doch viel weniger das Herz ergreifend. Zu endlosen Perioden spann er jetzt sein Thema aus; aller Schmuck der Läufe und Harpeggien, der Kadenzen und Fiorituren ward aufgeboten. Es half alles nichts. Eva sah in den Boden hinein, die Studenten blieben unruhig. Baronius wollte sich selbst überbieten, in wahrer Verzweiflung spielte er immer bunter, immer überladener. Es war zuletzt nicht mehr zum Anhören.

Da winkte der Senior seinen Burschen vom Faßbinderorden. Und mitten in das zopfige Geklimper hinein erscholl plötzlich urkräftig und den ganzen Kunstkram des Lautenspielers vor sich niederschmetternd ein lustiges, neckisches Studentenlied. Das Herz mußte einem aufgehen bei diesen echten, ursprünglichen Klängen; nur dem Virtuosen schnürten sie die Brust zusammen, und er versuchte anfangs noch, wie eine Pause nach einem Vers eintrat, mit seinem Andante amoroso durchzubrechen. Aber eher hätten die Musensöhne die ganze Nacht in einem Stück fortgesungen, als daß sie das Andante amoroso in seiner letzten Fassung noch einmal hätten schmecken mögen. Zuletzt packte der Gesang selbst den Lautenspieler; er legte sein Instrument beiseite und stimmte ein in den Chorus zum großen Jubel der Studenten.

Begeistert tranken diese ihm zu, nachdem der Gesang beendet war. Doch als sich der Virtuos etwas verkühlt und von seiner Überrumpelung erholt hatte und flugs wieder zur Laute griff, da stimmten die Studenten auch flugs wieder einen neuen Chor an, denn nun wollten sie den Musiker niedersingen um jeden Preis. Es war ein Lied in klaren, hellen Durtönen und klang doch ganz herzergreifend wehmütig, je nachdem man's sang, je nachdem man den Text verstand und ihn mit der einfachen Weise in Einklang zu setzen wußte. Denn dies gerade sind die rührendsten Volkslieder, die nicht wimmern und klagen in ihrer Melodie, sondern ruhig dahinschweben, fast wie ein heiterer Sang, und doch in Verbindung mit dem schwermütigen Text so ganz von ferne her leise traurig anklingen, daß es unser tiefstes Gemüt erbeben macht. Das Lied der Studenten aber lautete:

»Gedenke, o wie weit, wie weit
Liegt bald die goldne Burschenzeit.

Zerstiebt ist dann der Freunde Schar,
Die wie mit Erz verkettet war.

Vergebens schauest du zurück:
Ein kurzer Traum war Burschenglück.

Vergebens spähest du umher:
Einmal Bursch und nimmermehr.

Drum halte, Bursch, die Stunde fest:
Für dein Lebtag bist du selig gewest.

Gedenke, o wie weit, wie weit
Liegt bald die goldne Burschenzeit.«

Baronius hatte anfangs geschwiegen, dann hatte er leise mitgesungen, dann hatte er zur Laute gegriffen und den im Pianissimo dahinschwebenden Chorgesang wunderbar schön in einfachen Akkorden begleitet. Als das Lied verklang, saß er schweigend da, in sich versunken; Tränen standen ihm in den Augen. Er gedachte seiner eigenen harmlosen Burschenzeit und seines jetzigen unsteten, überreizten, friedlosen Lebens. Der Gesang hatte ihn mächtig gepackt.

Endlich fuhr er auf wie aus einem Traum, sah den Senior mit großen Augen an und rief:

»Was war das?«

»Das war Musik!« erwiderte der Freund.

»Das war Musik!« wiederholte der Virtuose leise und nachdenklich.

»Ja, Freund, wahrhaftige Musik, denn sie hat selbst dir das Wasser in die Augen getrieben.«

»Und was ich vorhin auf der Laute gespielt, war das nicht auch Musik, wahrhaftige Musik?«

»Zum Teil – gewiß.«

»Wie, nur zum Teil? Und habe ich euch nicht mit den Akkorden meiner Laute in tiefe Melancholie eingesponnen, zu Zorn und Wut erregt, zu Liebe und Freundschaft begeistert?«

»Verzeihe«, erwiderte der Senior lächelnd, »daß wir ein wenig Komödie mit dir gespielt haben. Du hast mir so oft erzählt von Amphion, Orpheus und Arlon, denen du es gleichtun möchtest, und dann vollends von König Erich mit seinem Lautenspieler, daß mir's ordentlich bange wurde um deinen Verstand. Da dachte ich, die schmerzhafteste Kur sei hier der beste Freundschaftsdienst. Sieh, ich bin sehr grausam gegen dich, weil ich dir von Herzen gut bin. Aber es muß heraus. Du hast heute gespielt wie ein Gott, tausendmal besser wie Amphion und Orpheus und der verfluchte Däne, namentlich bei dem ersten Andante amoroso; das war wahrhaftige Musik. Aber wir haben auch gespielt. Brave Schauspieler sind meine Ordensbrüder und Schwester Eva dazu. Sie haben die Schwermütigen vortrefflich dargestellt, gewütet, getobt und gerauft, als ob sie in der Tat alle des Teufels wären, und sich umschlungen und geherzt wie die Seligen im Elysium. Allein du siehst, bester Freund, es war doch alles nur Lug und Trug, alles verabredet. Als du so zornig durch die Saiten rastest, hätten wir deine Phantasie und deine Finger bewundert, aber keinem von uns wäre es eingefallen, den anderen an der Kehle zu packen, wenn's nicht vorher so ausgemacht gewesen wäre. Nur einen hatte ich vergessen ins Geheimnis zu ziehen, und der war auch dein einziger aufrichtiger Zuhörer: Friedrich! Der klagte nicht mit, der wütete nicht mit, der seufzte nicht mit. Du hältst ihn für einen musikalischen Esel. Du tust ihm unrecht. Er ist ein natürlicher, gesunder Mensch, mit seinen Fässern freilich besser vertraut als mit der Laute, aber doch nicht ganz, wie du meintest, von den Musen verlassen. Sieh, er hat sich wieder herbeigeschlichen, als wir zu singen begannen, unstreitig, weil er aus dem Gesang herauszuhören glaubte, jetzt seien wir wieder vernünftige Menschen geworden, wie er fortgelaufen, weil er uns alle für Narren hielt, als du's mit deinem Lautenspiel immer ärger triebst.«

Der Wechsel der Leidenschaften auf dem Gesichte des Baronius war während dieser Anrede noch viel rascher und greller gewesen als vorhin die Übergänge auf der Laute. Doch zum Schlusse biß er die Lippen zusammen, faßte sich und schwieg. Nach langer Pause fuhr er wieder auf.

»Also die Lieder, die ihr gesungen, waren Musik?«

»Ja, wahrhaftige Musik!« erwiderte der Senior so fest und ernst, als ob er vor seinem Richter stünde und eine Aussage beteure, daran Freiheit und Leben hinge.

»Und mein Andante amoroso war auch wahrhaftige Musik?«

»Ja, das erste, aber beileibe nicht das zweite. Das erste ergriff uns alle, ergriff dich selber, so tief wie nur immer eines unserer schönsten Lieder. Das zweite war zum Verzweifeln langweilig. Bedenke doch, du berühmter Künstler, daß die wahre Musik uns nicht zu kaltem Staunen verzaubern, daß sie uns erquicken, erheitern, erwärmen soll, ja, und auch die Leidenschaft soll sie in allen ihren Tiefen aufregen» sie soll uns schütteln, daß es uns eiskalt den Rücken hinabrieselt. Aber wenn solche Bursche wie du und deine Genossen uns nach Belieben willenlos hinreißen könnten zu jeder Tat der Leidenschaft, so wäre die Musik wahrlich nicht mehr die göttliche Kunst, sie wäre das gefährlichste Werkzeug des Teufels, das je einem Menschen in die Hand gegeben worden. Heftiger als Scipio und Cato müßte man dann eifern für die Verbannung der Musik aus dem Staate – – doch du hörst mich nicht!«

»Freilich höre ich dich«, rief der Lautenspieler aufspringend, und seine Wange glühte wieder, sein großes Auge glänzte und blitzte wieder wie vorhin, als er glaubte, er habe den Lautenspieler des Königs Erich erreicht. »Ich gebe dir recht in allem, ich bin ein Narr gewesen, ich danke dir für deine Kur mit Feuer und Eisen. Aber das erste Andante amoroso war also doch wahrhaftige Musik, nicht wahr? Ich bin geschlagen auf allen Seiten, und doch habe ich mit diesem Andante einen Sieg erfochten, der mich alle die Niederlagen für nichts ansehen läßt.«

Er wandte sich gegen Eva, die schon lange mit Friedrich ganz nahe getreten war, dem merkwürdigen Gespräch lauschend.

Er sprach zu dem Mädchen: »Als ich das Andante spielte und du mir in die Augen schautest, nicht wahr, da spieltest du keine Komödie? Nein, dieser Blick sprach wahrhaftige Liebe, wie mein Andante wahrhaftige Musik war. Dieser Blick gehört mein, er ist das Beste, was ich heute gewonnen, wie das Thema des Andantes der beste musikalische Gewinn des heutigen Tages. Du schweigst, Eva? Sei versichert: auch mir drang die Liebe ins Herz; oh, ich hätte niemals so spielen können, hätte ich nicht aus der vollen Seligkeit der ersten erwachenden Liebe heraus gespielt. Dies ist mein Sieg, dies mein Gewinn des Wettkampfs von heute. Sei mein, Eva, für immer, wie du mein warst in jenem schönsten Augenblick.«

Eva schwieg eine lange Weile und blickte zu Boden. Dann aber erhob sie plötzlich das Köpfchen; sie hatte sich gesammelt. Mit der weichsten, einschmeichelndsten Stimme sagte sie: »Eure Kunst hat in der Tat mich besiegt. Ich wollte anfangs die Liebende spielen, dann aber kam bei der schönen Musik das wahrhaftige Gefühl der Liebe über mich. Aber merket wohl: Eure Kunst, sage ich, hat mich besiegt, nicht Eure Person. Meine Blicke mögen wohl wahrhaftige Liebe gesprochen haben, aber ob sie gleich zeitweilig zu Euch aufschauten, waren doch meine Gedanken nicht bei Euch. Sie waren hier bei Friedrich; nach ihm schielte ich hinüber, sooft Ihr auf das Griffbrett Eurer Laute blicktet, aber er hat's nicht gemerkt und den Scherz für Ernst ersehen und ist plump und grob dareingefahren, wie's eben die Männer machen. Doch das tut nichts«, schloß sie, schelmisch Friedrichs Hand fassend, – »weiß ich doch, was ich an ihm habe, und man hat ihm heute auch gar arg mitgespielt.«

Friedrich, dem es beim Anfang von Evas Rede etwas schwül geworden war, hatte nachgehends immer heller und lustiger dreingeschaut, daß sein Gesicht fast aussah wie die aufgehende und endlich wie die mit allen Strahlen leuchtende Sonne.

»Habe ich's nicht gesagt?« rief der Senior dem Lautenspieler zu. »Friedrich, der hart von Begriff, kommt immer eine Viertelstunde hinterdrein. Jetzt ist er erst bei der Liebe angelangt, und wir sind schon wieder weit von der Liebe hinweg.«

Baronius tat, als ob er den unzeitigen Scherz nicht höre. Er setzte sich in eine einsame Ecke. Es war ein tiefes Weh, das ihm durch die Seele ging. Er klimperte fast unhörbar auf der Laute das Thema, welches jenen seligen Augenblick hervorgezaubert, gleich als wolle er sich noch einmal an der süß-schmerzlichen Erinnerung erquicken. Dann legte er die Laute weg, sprang auf, ging mit starken Schritten in der Stube oftmals auf und ab; endlich trat er wieder zu den Genossen. Seine Mienen waren ernst, nahezu traurig. Aber er hatte sich gefaßt mit der Selbstbeherrschung eines echten Mannes. Er rief Eva und Friedrich zu sich.

»Seht«, sprach er in mildem Ton, der gegen seine sonstige herrische Redeweise auffallend abstach, »dieser musikalische Kampf hat mich in einen solchen Taumel gerissen, daß ich ganz vergessen, was ich erst unmittelbar vorher gehört. Habe ich nicht hinter euch gestanden, als ihr meinen Konzertzettel laset und von eurer Liebe und eurer Aussicht zur Heirat spracht? Das hatte ich alles rein vergessen, Friedrich; wie hätte ich sonst an deine Eva denken können? Und sagte Eva nicht damals: wenn der Lautenspieler unser Leid wüßte und ein rechter Christ wäre, dann würde er, der in zwei Stunden fünfhundert Gulden verdient, uns die fünfhundert Gulden schenken, womit die ›Sirene‹ überschuldet ist, und in zwei anderen Stunden sich flugs andere fünfhundert Gulden zusammenspielen und uns glücklich machen, daß wir heiraten könnten? Sagtest du das nicht ungefähr so, Eva? Und Friedrich meinte, so großgemutet sei gar selten ein Musikant. Nun wohl, Eva, ich bin ein rechter Christ. Zudem heiße ich Baronius; darum will ich einmal handeln wie ein Baron. Die fünfhundert Gulden, welche ich gestern abend erspielt, sind kein Hexengold gewesen, sie sind nicht davongeflogen, sie liegen alle noch wohlgezählt in der Kasse. Da sie euch glücklich machen, so schenke ich sie euch – stille! keine Einwendung! Wenn ihr sie nicht nehmt, dann schenke ich sie der ›Sirene‹ als dem Hause, worin ich kuriert worden bin, damit auch die ›Sirene‹ wieder kuriert und frei werde. Und nun gebt euch die Hände und seid glücklich und denkt nicht mehr so schlecht von den Musikanten!«

Die Studenten brachten ein donnerndes Hoch zuerst diesem echten Baron, wenn auch ohne Helm und Schild, dann dem Brautpaar.

Friedrich und Eva vermochten kaum ihren Dank in Worte zu fassen, besonders kam es Friedrich hart an. Aber sein Respekt war jetzt wieder grenzenlos geworden, und zwar galt er jetzt nicht mehr der Perücke, dem Sammetrock und den Schuhschnallen: er galt dem Mann.

»Bringt vom besten Wein!« rief der Senior. »Weg mit diesem ordinären Trank in so feierlicher Stunde. Bringt Bacharacher von dem bewußten Jahrgang, den besten Tropfen, der im Keller liegt. Jetzt hat uns dieser verfluchte Musikant doch noch besiegt, total besiegt. Freund Baronius, deine letzte Rede war Musik, wahrhaftige Musik, die schönste Musik, die wir heute noch gehört. Wer sich darauf keinen Spieß trinkt, der ist ein erbärmlicher Philister. Bei Gott, das hätte ich dem Musikanten nicht zugetraut; der kann mehr als Lautenschlagen und Brot essen!«

»Ich bin ein geschlagener Mann«, rief der Virtuos, »aber ich bitte euch, wenn ihr mich liebhabt, gebt mir wenigstens das Zeugnis, daß ich heute die Laute gespielt, wie keiner von euch es je gehört, wie kein Lebender mir es nachmachen wird. Und nicht wahr, Kinder, das Andante amoroso war doch wenigstens wahrhaftige Musik?«

»Freilich, freilich!« riefen die Studenten. »Lauter wahrhaftige Musik! Wer daran zweifelt, der ist gefordert auf zahllose Gänge ohne Binden und Bandagen. Baronius hoch! Unser Amphion hoch! Der größte Lautenspieler aller Zeiten hoch!«

»Jetzt das Gaudeamus igitur!« rief der Senior mit Donnerstimme, »der Bacharacher steht auf dem Tisch; solch festlicher Wein heischt festlichen Gesang!«

Der Chor brauste durch die Stube. Baronius sang nicht mit. Nachdenklich saß er da, die Stirne in die Hand gestützt.

»Warum singst du nicht mit?« fragte der Senior, als die Pause nach dem ersten Vers eintrat und die Becher zusammenklangen.

»Ich denke nach über das, was wahrhaftige Musik ist. Das wird mir noch lange zu schaffen machen. Ich spüre eine Umwälzung in meinem ganzen musikalischen Menschen. Laß mich in Ruhe, Freund. Ich gehe jetzt nach Hause und schließe mich drei Tage ein, um zu ergründen, wo die wahrhaftige Musik anfängt; komme ich dann aus meiner Höhle, so bin ich wieder auf Leben und Tod dein alter lustiger Baronius!«

»Heiliger Gott«, rief der Senior, »sucht der Mensch drei Tage lang mit der Laterne nach der wahrhaftigen Musik, indes wir sie haben und festhalten und wissen gar nicht, wie wir dazu gekommen sind. Freilich sind wir auch keine Musikanten.«

Dann ging er zurück zu den Ordensbrüdern. »Weiter, weiter: Pereat tristitia!«

Während der Vers gesungen wurde, schlich sich Baronius davon. Der Senior sah es. »Ein guter Kerl, ein teufelmäßig geschickter Kerl, ein nobles Haus wie wenige«, dachte er im stillen Sinne, mit gewaltigem Baß weitersingend. »Aber einen Sparren zuviel hat er doch – wie alle Musikanten.«


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