Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Zweiter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Rokokozeit

Fürst und Kanzler

1879

I.

Vormittags halb zwölf Uhr pflegte Markgraf Philipp Mittagstafel zu halten nach gut altbürgerlicher Sitte. Aber wenn die Tafel früh anfing, dann dauerte sie dafür auch um so länger.

»Meine Gäste sollen satt werden, und dazu braucht man Zeit. Ich verachte jene neumodischen französischen Diners, bei welchen so geschwind aufgetragen wird, daß der kluge Gast sich vorher zu Hause satt ißt, damit er Kraft gewinnt, um sich hinterdrein an seines gnädigen Herrn Tische satt hungern zu können.« So dachte und sagte der Fürst.

Vielerlei Schüsseln wurden nicht gegeben, aber auf denselben lag ungeheuer viel, lauter nahrhafte Kraftspeisen. Die Gänge folgten sich nach langen Pausen, die Pausen füllte man dann durch Trinken aus. Jeder Wochentag besaß sein regelmäßig wiederkehrendes Menü, welches nur zu Lichtmeß, Georgi, Michaeli und Martini wechselte, nach der Jahreszeit.

Heute, am 1. Dezember 1660, hatte die Hoftafel mit einer Erbsensuppe mit Leberklößen und Speck begonnen und mit einem Dessert von Wildschweinbraten und Sauerkraut, welches mit Äpfeln und Birnen garniert war, geschlossen.

Die Tafel dauerte übrigens diesmal nicht so lange wie gewöhnlich, kaum vierthalb Stunden. Denn der Markgraf brannte darauf, ein Schauspiel zu sehen, das er, zur Beförderung der Verdauung, auf drei Uhr befohlen hatte.

Im Binnenhofe des Schlosses sollte ein Kampf zwischen vier Wölfen und einem riesigen Bären stattfinden. Man brauchte diese Bestien nicht weit herzuholen; sie hausten noch rings um die Residenz in dem vom Dreißigjährigen Kriege entvölkerten Lande.

Nicht nur der ganze Hof bis zum Hundejungen abwärts war zum Zuschauen geladen, sondern auch viele Bürger und Bauern mit ihren Frauen und Töchtern. »Wenn ich eine Freude habe, dann sollen auch meine Untertanen vergnügt sein«, pflegte der Fürst zu sagen, und man nannte ihn einen leutseligen Herrn. Doch genossen die Untertanen seine Leutseligkeit lieber aus einiger Entfernung und fürchteten den gnädigen Herrn ebensosehr, als sie den gestrengen Herrn liebten.

Der Binnenhof war im Viereck von Gebäuden umschlossen, deren Fronten nach alter Art durch alle Stockwerke mit säulengetragenen Umgängen und Loggien geziert waren. Schlag drei Uhr erschien der Markgraf mit Gemahlin und Gefolge unter Trompetengeschmetter und Paukenwirbel in der Mittelloge des ersten Stockes und überblickte vergnügt grüßend die bunte, wimmelnde Menge der schaulustigen Gäste. Zu gleicher Zeit wurde der Bär und dann die Wölfe in den fest abgeschlossenen Hof gejagt.

In der Mitte des Hofes aber stand ein großer, dicht vergitterter eiserner Käfig, an Gestalt einer aufrechtstehenden Tonne ähnlich, und in demselben saß der Hofnarr. Da er das Narrenvorrecht hatte, den Fürsten »Euer Liebden« und »Herr Vetter« zu nennen, so war ihm dieser beste Platz, die »grillierte Hofloge«, wie der Fürst bemerkte, angewiesen worden.

Der Bär blickte anfangs ganz ruhig ringsum, als gehöre er zu den Zuschauern; auch die Wölfe wollten nicht anpacken und wären augenscheinlich lieber feig davongelaufen. Der Narr verhöhnte sie mit schlechten Witzen, die von den Galerien bejubelt wurden.

Endlich aber kam dem größten Wolfe doch der Zorn; in gewaltigen Sätzen sprang er vor, nicht gegen den Bären, sondern gegen den Käfig, stieß ihn um und warf sich in schäumender Wut darüber, vergebens bemüht, seine Krallen durch die Lücken zu schlagen und die Eisenstäbe zu durchbeißen. Im Nu waren nun auch die drei anderen Wölfe zur Hand und fielen gleich grimmig über den Käfig her, den sie bald ganz bedeckten, bald weit von sich stießen, daß er ins Rollen kam.

Da erhob sich auch der Bär. Er schritt gemessen herzu, packte einen Wolf, hob sich auf die Hinterbeine und umarmte denselben so fest und innig, daß ihm alle Rippen krachten; dann warf er ihn auf den Käfig, wo das Tier in wenigen Minuten verendete. Aber der größte der Wölfe war inzwischen an dem Bären hinangesprungen und hatte sich in seinem rechten Ohre festgebissen; der Bär konnte ihn nicht abwerfen und wälzte sich mit ihm über den Käfig, wo dann auch die beiden anderen Wölfe über den gemeinsamen Feind herfielen, so daß sich alle zu einem Knäuel zusammenballten. Und inmitten dieses Knäuels wurde der arme Narr hin- und hergewälzt und hatte die Krallen und Zähne und den heißen Atem der Bestien fort und fort vor dem Gesicht und schrie markdurchschneidend: »Herr Vetter! Ich will aussteigen!« und heulte vor Angst ärger als die Wölfe.

Aber die Zuschauer antworteten nur mit donnerndem Gelächter, und der Mann in der grillierten Loge mußte standhalten, bis der Bär auch noch einen zweiten Wolf vor seinen Augen erdrückt und die beiden letzten mit wuchtiger Tatze blutig in die Flucht geschlagen hatte, daß sie sich wimmernd in den Ecken verkrochen, übrigens hatte auch Petz ein Ohr verloren und blutete aus vielen Wunden.

Unter dem erneuten Angstgeschrei des Narren schoß dann ein Jägerbursch die geschlagenen Wölfe nieder, und der siegreiche Bär wurde mit vieler Mühe und Gefahr in seinen Zwinger zurückgejagt, wo er – gleich anderen Siegern – im Gefühle seines Triumphes schwelgen konnte, während er seine brennenden Wunden leckte und seinen Kopf vergebens nach dem verlorenen Ohre schüttelte.

Nun erst gelang es, auch den armen Narren aus der Loge zu befreien.

Unverletzt, aber mit Staub bedeckt und vom Blut der Tiere besudelt, taumelte er gegen den Platz des Markgrafen. Er wollte sich verbeugen, fiel jedoch der Länge nach zu Boden und rief dann, sich aufraffend, mit veratmender Stimme: »Euer Liebden! Es geht nichts über einen gesunden Schrecken. Aber, Herr Vetter, der Spaß war doch zu grob!«

»So wollen wir ihn feiner machen, Herr Vetter!« entgegnete der Markgraf. »Holt Euch nachher zehn Gulden Schmerzensgeld bei unserem Schatullrechner.«

»Noch etwas feiner!« bat der Narr.

»Und fünf Maß Wein beim Kellermeister wider den Staub, den die fünf Bestien Euch in die Kehle gejagt haben.«

»Immer feiner! immer feiner!« drängte der Narr, der wieder ganz Narr geworden war.

Der Fürst blickte eine Welle im Kreise umher; jetzt hatte sein Auge das gesuchte Ziel gefunden, und er rief mit erhobener Stimme: »Jenes alte Weib dort an der dritten Säule, die Annemarie, kann sich gleichfalls zehn – nein! – kann sich zwanzig Gulden holen! Und damit Punktum! Jetzt ist der Spaß fein genug.« Die armselig gekleidete Bauernfrau war wie vom Donner gerührt und wurde kreideweiß vor Schrecken über die unverhoffte Gnade, und die anderen Leute sahen sich verwundert an und steckten flüsternd die Köpfe zusammen. Denn niemand kannte das Weib.

Nach einigen Minuten drängte sie sich gegen den Sitz des Fürsten und sprach: »Verzeihung, gnädiger Herr! Ich habe nicht gewußt, daß jener arme Wandersmann unser Herr Markgraf selber sei, der vorige Woche in meinem Häuschen einsprach.«

»Annemarie! Das Wasser und Brot, womit Sie mich gelabt hat, schmeckt mir heute noch. Darum nehme Sie das kleine Geschenk für die freundliche Bewirtung.« So sprach der Fürst. Dann wandte er sich zu seiner Gemahlin: »Hungrig und durstig bat ich diese Frau um eine Milchsuppe, aber sie konnte mir nur Wasser geben und ein Stück Brot, weil ihr die Wölfe die einzige Kuh zerrissen hatten. Ich ließ sie darum heute zur Hetze einladen, damit sie sehe, wie man's den Wölfen macht. Sie hat mir auch von zweibeinigen Wölfen erzählt«, fügte er leise hinzu, »und das habe ich mir hinters Ohr geschrieben.«

Der ganze Hof, die Dienerschaft, die Bürger, ja sogar die Bauern waren gerührt von dem volksfreundlichen Wesen des Fürsten; am gerührtesten aber war doch die schöne Eleonore, des Kanzlers Tochter. »Unser gnädiger Herr«, sprach sie zu ihrem Vater, »ist der Kalif des morgenländischen Märchens, der verkleidet die Sorgen und Wünsche seines Volkes erlauscht.«

»Wenn er nur auch anderswo, wenn er nur immer und überall Kalif wäre!« brummte der Kanzler in den Bart.

Sehr erbaut und vergnügt verließ die bunte Menschenschar den Schloßhof, vergnügt über den groben Anfang und erbaut vom feinen Schluß des herrlichen Spaßes, der ihr obendrein kein Geld gekostet hatte.

II.

Am Abend des 3. Dezember sollte im Hause des Kanzlers eine französische Komödie gespielt werden: Sganarelle oder der Hahnrei in der Einbildung, verdeutscht von M. Christoph Holzbauer. Die Darsteller waren sämtlich Herren und Damen des Hofes, und der Markgraf hatte trotz seiner Abneigung gegen alles Französische zu erscheinen versprochen, um die unerhörte Neuerung eines Liebhabertheaters anzusehen.

Vielleicht fand er denn doch Geschmack daran, und der Kanzler hätte seinen Herrn so gern zu etwas besserem Geschmack emporgehoben.

Es gab keine größeren Gegensätze als den Fürsten und seinen ersten Diener, den Kanzler Jakob von Staffel. Aber gerade deshalb bedurfte der Herr dieses Dieners, der ihm alles bot, was ihm selber fehlte.

Der Markgraf war ein derber Haudegen und Weidmann, der viel erlebt und wenig gelernt hatte. Stolz auf seine Fürstenwürde von Gottes Gnaden, verschmähte er Prunk und Glanz, weil er dergleichen Flitter gar nicht nötig zu haben glaubte. Er lobte die schlichten, guten alten Zeiten; kein Bürger war ihm bürgerlich, kein Bauer bäuerlich genug, und um mit gutem Beispiel voranzugehen, trug er Sonntags einen Rock, den ein Schuster nur am Werktag getragen haben würde. In der Regel geizig, verschwendete er, wenn ihn einmal die Laune ankam, über alles Maß. Sein Schloß war noch eine Burg des sechzehnten Jahrhunderts, die auf steilen Felsen über der Residenzstadt thronte.

Herr von Staffel dagegen, der Kanzler, hatte sich ein neues Haus im italienischen Stil unten am Flusse gebaut und mit aller modischen Eleganz ausgestattet. Vornehm in seinem ganzen Wesen, besaß er Geld genug, um vornehm sein zu können, und er mußte recht vornehm sein, denn er war eben doch nur ein Parvenü. Während des Dreißigjährigen Krieges verkamen und versanken die reichsten Geschlechter; aber es stiegen auch geringe Leute aus der Tiefe empor. Zu diesen gehörte der Vater des Kanzlers; er war reich geworden und hatte vom Kaiser den Adel und das Ritterlehen Staffel erhalten, nach welchem er sich fortan nannte, seinen bürgerlichen Namen der Vergessenheit übergebend. Der Sohn hatte nicht nur viel ererbt und das Erbe gewahrt und gemehrt, sondern auch viel gelernt. Er war ein gründlicher Kenner des Römischen Rechts und ein gewiegter Diplomat, weit gereist, schön und stattlich von Gestalt, gewandt in ritterlichen Künsten. Lebte der Fürst wie ein Bürger, dann lebte der Kanzler wie ein kleiner Fürst – doch mit Maß und Vorsicht! Denn er berechnete genau, wie weit er gehen dürfe, um den Zorn seines Herrn nicht zu reizen.

Die Menschen begannen damals wieder fröhlich zu werden nach den langen Jahren des Blutes und Jammers. Zwar wucherte noch immer Gras auf so mancher Stätte, wo früher ein Haus gestanden, und Buschwerk und Gestrüpp, wo früher Reben geblüht und Ähren gewogt hatten. Allein ein neues Geschlecht wuchs heran, das wieder frisch und tapfer zu leben und zu genießen sich ermannte; die Erinnerung der entsetzlichen Kriegszeit zerrann wie die Nebel der Nacht in der Morgensonne. Menschen und Völker lernen so leicht vergessen. Es ist eine der gnädigsten Gaben Gottes, daß wir so leicht vergessen können, und je älter wir werden, desto geschwinder lernen wir diese tröstliche Kunst, und haben wir sie ausgelernt, dann werden wir selber vergessen.

Die Menschen begannen wieder fröhlich zu werden, und also freuten sich auch die Residenzstädter, daß sie jetzt eigentlich zwei Schlösser in dem neu aufblühenden Städtchen hatten: das turmreiche alte Fürstenschloß oben auf dem Felsen und das neumodisch zierliche Schlößchen des Kanzlers unten am Flusse, und daß oben Bären gehetzt und unten Komödien gespielt wurden. Aber bei den Komödien durften nur Standespersonen zuschauen, wie Standespersonen spielten, während das gemeine Volk höchstens das Haus von außen umwogte und – bei zehn Grad Kälte – stundenlang zu den geschlossenen Fensterläden aufblickte, wobei man zwar nicht viel sah, aber sich um so mehr denken konnte.

III.

Die Bühne war im großen Saale des Mittelbaues aufgeschlagen. Zur Rechten und Linken vor dem Podium saßen die geladenen Herren und Damen; in der Mitte standen zwei Sessel für den Markgrafen und seine Gemahlin, die Frau von Leuwarden; denn sie war ihm nur zur linken Hand angetraut.

Ein kleines Orchester, des Kanzlers Hauskapelle, hatte seinen Platz im Hintergrunde. Es bestand aus einem Cembalo, einer Laute, drei Geigen und einem Kontrabaß; der Cembalist, welcher das Ganze dirigierte, war zugleich Schreiber, der Lautenist Gärtner, die drei Geiger Bedienten und der Kontrabassist Hausknecht.

Der Markgraf hätte den Kanzler beneiden können um sein Orchester; denn die ganze fürstliche Hofmusik bestand nur aus drei Trompetern und einem Pauker, die zugleich auf der Jagd und im Stalle dienten. Allein der Fürst sah vielmehr mitleidig auf den schlechten Geschmack des Kanzlers herab und hielt eine Fanfare und ein Jagdsignal für die einzige wahrhaft herrschaftliche Musik.

Die Ankunft des hohen Herrn war auf sieben Uhr angesagt. Es wurde halb acht, es wurde acht Uhr, und er kam nicht. Die ganze Gesellschaft schwebte in wachsender Spannung. Es mußte etwas ganz Unerhörtes vorgefallen sein: denn der Fürst war so pünktlich, ja oft pünktlicher wie die große Schloßuhr.

Endlich meldete ein Diener, daß die Durchlaucht komme. Der Kanzler eilte, von zwei Fackelträgern gefolgt, die Treppe hinab, den Herrn zu empfangen: – doch dieser kam allein, im Werktagsrock, nur von einem Geheimschreiber begleitet.

Als ihn der Kanzler mit tiefen Verbeugungen begrüßen wollte, faßte er denselben sehr unsanft mit der rechten Hand und führte ihn wortlos, aber mit zornfunkelnden Augen im Sturmschritt die Treppe hinauf.

Das Orchester stimmte im Momente des Eintritts die Ouvertüre an. Doch der Fürst rief mit Donnerstimme: »Stille sein!«, und die armen Musikanten brachen erschreckt mit einem Quintsextenakkorde ab, der nun unaufgelöst in der Luft hängenblieb und -bleiben wird bis zum Jüngsten Tag, wo sich alle Dissonanzen auflösen.

Der Fürst hielt den Kanzler noch immer fest am Arm, als fürchte er, daß ihm der Mann entrinnen möge.

»Jakob von Staffel!« rief er und sah ihm scharf ins Auge, »Ihr seid mein Kanzler nicht mehr. Ihr seid von Stund an abgesetzt!«

Ruhig entgegnete jener: »Wenn Eure Durchlaucht meiner Dienste nicht mehr bedürfen, so gehe ich gern. Doch hätte ein alter, treuer Diener die Entlassung wohl in etwas gnädigerer Form erwarten dürfen.«

»Ein treuer Diener?« wiederholte der Markgraf. »Seit einer Stunde kenne ich Eure Treue! – Habt Ihr diese Briefe geschrieben?«, und er rief den Geheimschreiber herbei, der eine Mappe überreichte.

Der Kanzler musterte den Inhalt mit raschem Blick und erblaßte. »Ich habe sie geschrieben!« sprach er gebrochenen Tones. »Nun! dann habt Ihr insgeheim Verrat gesponnen gegen mich, der ich Euch mit höchster Huld fortwährend überschüttete. Und öffentlich verkünde ich selbst Euch darum hier in Eurem eigenen Hause den Lohn dieses Verrats. Ihr seid abgesetzt, Ihr sollt all Eurer Ehren, Ihr sollt Eures Adels verlustig werden. Jakob Staffel! Auf offenem Markte wird der Henker Euch den Degen zerbrechen und die Stücke vor die Füße werfen!«

»Amen!« rief eine Stimme im Hintergrund.

Eine lange Pause folgte, – tiefste Stille. Alle blickten staunend umher.

»Wer sprach das Wort?« fragte endlich der Fürst langsam und leise. – Keiner antwortete. – »Wer sprach das Wort?« wiederholte er, nun ganz heftig und überlaut.

Da trat einer der Musikanten vor, die Geige in der Hand, und antwortete: »Ich habe es gesprochen. Ich betete im stillen ein Vaterunser, wie man's beim Gewitter tun soll, und da fuhren mir die Worte – vergib uns unsre Schuld – und – Amen – wider Willen etwas laut heraus.«

Des Markgrafen Auge maß den Verwegenen von Kopf bis zu Fuß. Er wollte seine Frechheit züchtigen und fühlte sich doch ergriffen von seinen Worten. »Du spielst Komödie mit mir! Du bist nicht so dumm, wie du aussiehst!« rief er und dann – fragend im Kreise umblickend –: »Wer ist der Mann?«

Der Cembalist und Kapellmeister antwortete: »Durchlaucht, es ist unser Kalikant, auch Geiger bei der dritten Violine; er schreibt sich Martin Schwarz.«

»Weiter! weiter! Ich will Genaueres von dem Manne wissen.«

»Wann er spielt, dann greift er nicht rein, und wann er pausiert, verzählt er sich in der Regel. Darum ist er nur im Forte zu gebrauchen bei den großartigen und erhabenen Stellen, übrigens steht er erst seit vierzehn Tagen in unseren Diensten.«

Als der Markgraf den schlechten Geiger, der eine schlechtere Livree trug wie seine Kameraden und doch feiner aussah als alle miteinander, noch etwas genauer musterte, blitzte ihm der Gedanke auf, daß er dieses Gesicht schon einmal gesehen habe, aber ganz woanders, in ganz anderer Maske. Er sann und sann und konnte sich doch des genaueren nicht entsinnen. »Ich will noch mehr von diesem Martin Schwarz wissen!« rief er dann nach langer Pause. Der Cembalist fuhr fort: »Wir nennen ihn den Philosophen, weil er so gar viel schwatzt. Könnte man mit dem Mund geigen, dann wäre er der Orpheus der Violine. Ich widersprach seiner Anstellung, und er wurde auch nur als Kalikant und unterster Bedienter auf wöchentliche Kündigung genommen, weil er etwas von der Geigenmacherei versteht und bei Veit Eberwein zu Augsburg in die Lehre gegangen ist. Und was das Notenauflegen, Lichterputzen und Saitenaufziehen betrifft, so kann er in diesen Stücken wohl für einen tüchtigen Musiker gelten. Bei Tafel serviert er schlecht und wird also auch da nur im großen Tutti verwendet.«

Der Fürst wandte sich zum Kanzler. »Ihr kennt diesen Mann genauer. Wer ist er? Warum nahmt Ihr ihn in Dienst?«

Allein der Angeredete gab keine Antwort. Er hatte die Frage gar nicht vernommen und starrte schweigend vor sich hin, geistesabwesend.

»Herr von Staffel hat niemals ein Wort mit mir gesprochen und kennt mich gar nicht«, erläuterte der Kalikant. »Sein Haushofmeister nahm mich in Dienst. Herr von Staffel–«

»Jakob Staffel wird bald genug kein ›Herr von‹ mehr sein –«, unterbrach ihn der Fürst.

»Nun, dann wird er vielleicht einmal Freiherr«, brummte der Kalikant ganz leise in den Bart. Doch hatte ihn des Fürsten scharfes Ohr verstanden.

»Was willst du Unverschämter mit diesem Worte sagen?«

Schwarz erschrak, faßte sich aber augenblicklich und entgegnete mit einer gewissen schalkhaften Anmut: »Meine Zunge, ist wieder einmal mit meinen Gedanken durchgegangen wie eine zu geschwind gespielte Triolenpassage. Durchlaucht! es steckt nicht viel hinter diesen Gedanken. Wenn es mir gut geht, dann denke ich immer, es geht mir doch viel besser, als ich verdient habe. Geht es mir schlecht, dann denke ich, es ist doch besser, als ob's noch einmal so schlecht wäre. Geht es mir aber ganz schlecht, dann bilde ich mir das Allerbeste ein, was nur jemals in Zukunft kommen könnte, und vergnüge mich in diesem Traumbild und suche es zu erjagen, ja ich rede mir vor, daß ich's schon erjagt hätte. Und obgleich ich dieses vorausgegriffene Ziel niemals ganz erreiche, so erreiche ich doch immer etwas Gutes und bleibe in mir selbst vergnügt. Wenn man mir also den ›Herrn von‹ nähme, so würde ich mir zum Troste einbilden, daß ich demnächst Baron würde, ja daß ich bereits Graf geworden sei. Das ist meine ganze Weisheit, die ich immer predige, und darum nennen mich meine Kameraden den Philosophen.«

»Diese Weisheit hat dich aber – nach allem Anscheine – bis jetzt noch nicht besonders weit gebracht«, erwiderte der Markgraf, »und zunächst bringt sie dich in Arrest. Man führe diesen Mann auf die Wache!«

Zugleich kündigte er dem Kanzler an, daß auch er sich aufs Schloß in Haft zu begeben habe.

»Ich gehorche«, sprach der unglückliche Mann. »Aber Eure Durchlaucht werden mich nicht ungehört verdammen. Der Schein spricht gegen mich; ich mag zu unrechten Mitteln gegriffen haben, doch der Zweck war gut, und wenn ich fehlte, dann habe ich aus Treue und Hingebung für meinen gnädigen Herrn gefehlt.«

Der Fürst, welcher beim Gespräch mit dem Kalikanten ruhiger geworden war und bereits klarer zu prüfen, milder zu empfinden begonnen hatte, geriet bei diesen Worten wieder in volle Wut. »Treue und Hingebung! Euch mit meinen Feinden verschwören, die auf meinen Tod lauern, – heißt das Treue? Die Aufträge, die ich Euch, meinem vertrautesten Diener, gab, unterschlagen, meinen Wunsch und Willen hintertreiben, – heißt das Hingebung?«

Eleonore, die Tochter des Kanzlers, fiel dem Fürsten zu Füßen. Ihre Jugend und Schönheit mußte ihn ja rühren. Sie trug das phantastisch reiche Kleid, in welchem sie hatte Komödie spielen sollen, und die festlichen Kerzen blitzten so hell in die Tränen ihres bleichen Angesichts. Der ungeheure Gegensatz von Glück und Ehre und Festesjubel und Jammer und Schmach und Schande, vom Trauerspiel, welches ins Lustspiel hereingebrochen war, – das alles lag ja ausgesprochen in diesem dahinsinkenden Mädchenbilde, so herzbrechend, weil es so anmutvoll, so schaurig, weil es so lieblich war. Sie konnte nicht sprechen und flehte doch um Gnade, daß kein anderer hätte widerstehen können.

Der Fürst hob sie sanft empor, führte sie einer nahe stehenden Dame in die Arme und sprach: »Frau von Gronau, ich vertraue Euch dieses mutterlose Mädchen an, dem heute auch der Vater verlorengeht. Denn der falsche und ungetreue Knecht muß seinen verdienten Lohn empfangen.«

Dem armen Kinde ward es dunkel vor den Augen. Da hörte sie dicht hinter sich in wundersam ergreifendem, leisem Tone die Worte: »Seid getrost! Es wird sich alles wenden.«

Sie blickte auf, wie neu belebt. Doch als sie erkannte, wer das Wort gesprochen, brach sie ohnmächtig zusammen.

Es war ja nur der Bediente, der Kalikant gewesen, den man eben auf die Wache führte.

IV.

Ein Fürst kann tun, was er will; aber er soll nur wollen, was recht und gut ist. In diesen zwei Sätzen bestand Markgraf Philipps ganzes Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Hätte ihm einer die jeweilige Anwendung des zweiten Satzes kritisieren wollen, so würde er das sehr impertinent gefunden haben. Dergleichen wollte er nur mit sich und seinem Herrgott allein abmachen.

Die Geschicke der Menschen und seines Volkes gingen ihm überall viel zu lahm und methodisch, sofern er nicht selber hineingriff wie ein Zauberer, wie ein Gott, der plötzlich Freud in Leid und Leid in Freud wandelt. Und das tat er oft genug.

Doch einmal vor Jahren war er mit dieser Göttermacht unversehens einer noch mächtigeren Gewalt verfallen, die selbst Fürsten beugt und inwendig umkehrt, – der Liebe.

Wir müssen zu dieser Geschichte zurückgreifen.

Im Frühling 1653 hatte der Markgraf die damals beliebte Fürstentour nach Holland gemacht unter dem Inkognito eines Generals von Wildenrott und befand sich am Ostertage im Haag. Die Stadt prangte im Festschmuck, die Straßen wimmelten von fröhlichen Menschen, und brausender Jubel durchwogte nachmittags die Luft, Gesang und Musik, Kanonendonner und Glockengeläute. Admiral Tromp war heimgekehrt nach dem großen Siegeszug des Winters gegen die englische Flotte. Als er ausfuhr, hatte er einen Besen an seinen Hauptmast genagelt, zum Zeichen, daß er den Kanal rein fegen wolle von Engländern, und er hatte ihn rein gefegt.

Dem Markgrafen ward es zu bunt in der ausgelassenen Stadt, und er ging ganz allein hinaus nach Scheveningen auf die einsamen Dünen und schaute auf das leis heranrauschende unendliche Meer. Der Wind wuchs und trieb zerrissene Regenwolken herüber, und durch die Wolken brach dann wieder wechselnd heller Sonnenschein. Die braune Flut wogte stärker heran über das Watt, und ganz ferne, wo Meer und Himmel sich verband, glänzte ein langer weißer Lichtstreif; vorn schwarze Wolkenschatten und hinten, unabsehbar weit, die blaue Luft und der leuchtende Silberschein. Gespenstisch, grau und formlos zogen Schiffe, pfeilschnell segelnd, dort vorbei. Die Möwen strichen kreischend vorn durch Regen und Wogenschaum; aber rückwärts übers Land strahlte wiederum die Sonne, und die Wiesen glänzten goldig-grün, und zahllose Lerchen jubelten so laut und vollchörig in der Luft, wie es der Markgraf nie gehört, und übersangen das weither hallende Glockengeläute.

Es war Ostern überall, Ostern auf dem Meer, auf dem Lande, in der Luft und in den Herzen der Menschen.

Da sah der Markgraf ein Mädchen in Trauerkleidern ganz einsam seitab an der Düne sitzen. Er trat unvermerkt hinzu. Sie starrte weinend und schluchzend auf das Meer.

»Was betrübt dich so sehr?« fragte er endlich, nachdem er sie lange schweigend betrachtet hatte.

Das Mädchen fuhr auf; doch faßte es sich bald und erzählte: »Mein Vater, Kapitän Cornelius van Leuwarden, ist vergangenen Herbst ausgefahren mit Admiral Tromp. Die Flotte kehrte siegreich heim, aber der Vater ist nicht wiedergekommen; vor der Themse, auf der Höhe des Sieges, ist er gefallen.«

Die junge Holländerin war so schön, der letzte Wolkenschatten schwand eben vor der Sonne, die Welt ward wieder so schön, Ostern war überall, und das arme Mädchen sah nur das unendliche, unbarmherzige Meer, welches kommt und geht, rastlos verschwindet und dennoch bleibt, wie die Zeit in der Ewigkeit, und nicht wiedergibt, was es sich genommen hat.

Der Fürst sprach Worte des Trostes und wußte selbst nicht, was er sprach.

Des anderen Morgens besuchte er die reizende Waise. Sie wohnte im Haag; sie stand so ganz allein in der Welt, vater- und mutterlos. Er führte sich als General von Wildenrott ein und rührte das Mädchen durch seine warme Teilnahme, die wirklich von Herzen kam. Sie mußte ihm so viel von ihren Schicksalen erzählen, daß er notwendig am nächsten Tage wiederkommen mußte; denn er war mit Fragen noch lange nicht fertig geworden. So kam er denn auch wieder Tag für Tag, immer fragend und tröstend, und tröstete so lange, bis sein Mitleid zur Leidenschaft wurde, seine Tröstung zur Liebe. Bei dem Mädchen aber wurde der Dank zur Liebe und dann die Liebe zur Leidenschaft.

Da endlich gestand der Markgraf, wer er sei. Es kam zu schweren Kämpfen. Aber der Fürst war fest entschlossen. Konnte er nicht tun, was er wollte? und wollte er nicht, was gut und recht war? Er wollte Johanna zu sich emporheben, er wollte sie heiraten, – sofort hier im Haag. Und er tat es.

Freilich, sein Reiseaufenthalt verlängerte sich über den Vorbereitungen um Monate. Allein durch Vermittelung seines Kanzlers, des Herrn von Staffel, den er allein ins Vertrauen zog, ließ er die nötigen Dokumente beschaffen und ward am Adventssonntage 1653 mit Johanna als Frau von Leuwarden vor Zeugen zur linken Hand getraut und kehrte mit seiner jungen Frau und einem ordnungsmäßigen Trauschein zu seinen überraschten Untertanen zurück.

Ob die Untertanen beglückt waren durch seine Heirat, danach fragte er nicht. Wer fragt auch viel, ob andere Leute beglückt sind, wenn wir uns verheiraten?

Die Ehegatten liebten sich wahrhaft und dauernd. Aber gerade deshalb fehlte dem Markgrafen doch eines zum vollen Glücke: er wollte seine Frau zur Ebenbürtigkeit erheben und von Kaiser und Reich als Markgräfin Johanna anerkannt sehen. Er wollte es um so mehr, da sie feinfühlend genug war, ihn durchaus nicht dazu zu drängen. Sollte er gerade diesmal nicht können, was er wollte?

Nach zwei Jahren gebar Johanna einen Sohn. Nun wuchs der Wunsch des Markgrafen zum festen Entschluß: dieser Sohn mußte sein Nachfolger auf dem Throne werden als Philipp II. Mit der ganzen Kraft seines eisernen Willens suchte er fortan die Standeserhöhung von Mutter und Kind zu erzwingen, um so mehr, da sonst mit seinem Tode die ältere markgräfliche Linie ausgestorben und sein Vetter Konrad von der jüngeren, bloß gräflichen Linie zur Erbfolge gelangt wäre. Dieser Konrad war ihm ohnedies von Grund der Seele zuwider, so zuwider wie die ganze höchst fruchtbare jüngere Linie. Er wußte, daß der angenehme Vetter bereits auf seinen Tod warte, und haßte ihn darum so gründlich, wie man nur einen Vetter hassen kann, dem man zu lange lebt.

Auf Anraten des Kanzlers ließ er durch einen Leydener Professor eine Denkschrift ausarbeiten, worin bewiesen war, daß Johanna von den alten Dynasten von Leuwarden abstamme und also von Haus aus den hohen Adel besitze, der nur etliche Jahrhunderte geruht habe. Die Schrift war fünfhundert Folioseiten stark, lateinisch geschrieben, mit vielen Zitaten und wenig gesundem Menschenverstand ausgestattet, durch zahlreiche Urkunden bekräftigt, die alle echt waren, aber alle nicht hierher paßten, und konnte also für sehr gelehrt gelten. Sie hatte dreitausend holländische Gulden gekostet; denn der Holländer arbeitete gut, aber etwas teuer.

Vetter Konrad ließ gegen den wuchtigen Folianten ein jämmerlich dünnes Heftchen ausgehen, welches in elegantem Französisch mit vielem Scharfsinn und zwischendurch mit seinem Witze bewies, daß Johanna van Leuwarden nicht einmal zum niederen Adel gehöre, sondern einfach die Tochter eines bürgerlichen Herrn Cornelius aus der bekannten Stadt Leuwarden in Friesland sei.

Niemand konnte den Verfasser des unbequemen Pamphlets erraten; allein er mußte mit dem markgräflichen Hofe genau bekannt sein. Das zeigten allerlei satirische Anspielungen.

Der Kanzler wurde nach Wien geschickt, um Kaiser Ferdinand III. die Sache klarzumachen. Der Kaiser sprach aber nur spanisch, welches Herr von Staffel nur mäßig verstand, weshalb er nicht viel ausrichtete. Als dann der alte Ferdinand gestorben war, reiste der Markgraf persönlich zu dem jungen Leopold I. Da aber dieser Kaiser bei Hofe nur lateinisch sprach, welches der Markgraf gar nicht verstand, so richtete er noch weniger aus wie sein Kanzler.

Von befreundeter Seite war dem Markgrafen geraten worden, das Gutachten einer deutschen Juristenfakultät einzuholen, da diese doch vielleicht die Deduktion des Leydener Professors bestätigen könne. Der Kanzler widerriet den Schritt als nutzlos. Gegen seinen Willen ließ der Fürst dennoch ein solches Gutachten auf der Universität Leipzig fordern. Leider war es wieder lateinisch, und so konnte sich der Markgraf nur vom Kanzler über den Inhalt berichten lassen, ohne das Aktenstück selber zu lesen. Der erste Teil widerlegte die Ansprüche Johannens auf dynastische Vorfahren noch weit schärfer, als es der französische Pamphletist getan. Der Kanzler gab diese Kritik schonungslos und sehr ausführlich, und der Fürst geriet darüber in so hellen Zorn, daß er gar nicht weiter hören wollte. Vergebens versuchte Herr von Staffel mehrmals auch zu einem kurzen Referat über den zweiten Teil anzusetzen, aber der Fürst hieß ihn jedesmal schweigen, schimpfte über die Leipziger und sämtliche deutsche Professoren und befahl, daß das miserable Gutachten in den hintersten Winkel des Archivs gelegt werde, damit es ihm niemals wieder vor Augen komme.

Der Kanzler schien diesem Befehl nicht ungern zu folgen und gewann noch obendrein das Lob seines Herrn, daß er von Anbeginn die Befragung einer Fakultät widerraten habe.

Mitunter beschlichen freilich den Markgrafen leise Zweifel, ob der Kanzler denn wirklich den rechten Eifer für diese wichtige Sache besitze, ja ob er ganz ehrlich dabei verfahre. Allein ebenso eigensinnig heftig in Gunst und Vertrauen wie gegenteils in Ungunst und Mißtrauen, unterdrückte er diese Zweifel. Jakob von Staffel stand noch in seiner vollen Gunst. Er hätte aber doch gerechten Grund zum Mißtrauen gehabt. Seit längerer Zeit war eine große Wandlung in der Seele des Kanzlers vorgegangen.

Anfangs hatte er Frau von Leuwarden verehrt, ja er hatte geschwärmt für die treffliche, liebenswerte Frau.

Das Volk nannte Johanna den guten Geist des Fürsten, und sie war es auch. Sie milderte sein rauhes, gewalttätiges Wesen; und wenn er fortan in seltsamer Mischung zugleich Despot und Freund seines Volkes ward, wenn man seine stille Gutherzigkeit in gleichem Maße rühmte, als man seinen lauten Zorn fürchtete, so gebührte wenigstens die Hälfte jenes Ruhmes dem adelnden Einfluß der bürgerlichen Johanna.

Und bürgerlich blieb sie durch und durch, selbst als sie mit Gewalt zur Fürstin erhoben werden sollte. Sie nährte die Neigung ihres Gemahls, ganz schlicht einherzugehen und unbemerkt oder unerkannt da und dort in den Häusern oder im Volksgewühl zu erscheinen, um zu sehen, was großen Herren sonst nicht sichtbar wird.

Dies mißfiel dem Kanzler aufs äußerste. Nach seinem Geschmack sollte der Fürst immer Majestät sein, abgeschlossen von den gewöhnlichen Menschen durch Zeremonie und Etikette, unnahbar der bürgerlichen Kanaille, aber von fernher strahlend und bezaubernd durch all die Fülle von Reichtum und Schönheit, welche nur einen erlesen hocharistokratischen Hof zu schmücken vermag.

Diese Ideale waren durch Johanna vernichtet. Ohne daß sie's wußte und wollte, war sie seine Gegnerin, seine stille Gegnerin, und gerade deshalb um so gefährlicher.

Er fürchtete, daß das Ansehen des Hofes vollends zugrunde gehe, wenn die Seemannstochter von Leuwarden nun gar zur Markgräfin erhoben würde, er fürchtete für die Machtstellung des Staates, dem er diente. Er versuchte in diesem Sinne leise Andeutungen bei seinem Herrn, die derselbe aber nicht einmal verstand, so fern lagen sie seinem ganzen Denken. Nur merkte der Kanzler, daß es sofort aus gewesen wäre mit seiner Kanzlerschaft, wenn der Markgraf die leisen Andeutungen auch nur leise verstanden hätte.

Auf diesem Wege war nichts zu machen. Es erübrigte also nur, die gefürchtete Standeserhöhung amtlich zu fördern, heimlich aber zu hintertreiben. Der Kanzler verglich sich mit Penelope, welche nachts das Gewebe wieder auflöste, das sie am Tage gewoben hatte, und hielt sich dazu geradeso berechtigt im eigensten Interesse seines unklugen Herrn wie Penelope im Interesse des klugen Odysseus.

Graf Konrad von der jüngeren Linie, der täglich erwartete, daß sein regierender Herr Vetter bei seinem tollen Reiten und Jagen den Hals brechen werde, damit er ihm sukzedieren könne, hatte einen unzertrennlichen Herzensfreund, den Freiherrn von Sewenich, einen äußerst gewandten und gescheiten Kavalier vom ältesten Adel. Mit diesem Manne trat der Kanzler in Briefwechsel und heimlichen Verkehr. Sewenich war der Verfasser des geistreichen französischen Pamphlets, hätte es aber mit so überraschenden Enthüllungen nicht würzen können ohne die Mitteilungen des Kanzlers. Die beiden Männer fanden Gefallen aneinander, noch größeres Gefallen aber fand Sewenich an des Kanzlers schöner Tochter Eleonore, vielleicht auch an ihrem schönen Gelde. Er warb beim Vater um ihre Hand. Im tiefsten Geheimnis versprach der Kanzler dieselbe. Eleonore wollte zunächst noch nichts von dem Freiherrn wissen. Allein nach dem Geiste der Zeit lag die Entscheidung doch zuletzt bei der väterlichen Gewalt, und überdies mußte ja vorher entweder der Markgraf den Hals brechen oder der Standeserhöhung seiner Gemahlin entsagen, bevor man mit dem Verlöbnis öffentlich hervortreten konnte. Es lag aber noch ein drittes näher: der Kanzler konnte seine Stelle aufgeben und an den kurpfälzischen Hof gehen, wo für ein politisches Talent gerade damals ein so günstiger Boden war und wo Sewenich durch seine Familienverbindungen ihm eine ganz neue, größere Laufbahn eröffnen konnte.

Diese Familienverbindungen bestachen den Kanzler am meisten. Zum vornehmen Manne fehlte ihm nichts als eine vornehme Verwandtschaft; diese bot sich ihm jetzt dar, und durch seine Opposition gegen die bürgerliche Heirat hatte er sich erst recht tief in die Überzeugung verrannt, daß es doch das höchste sei, einem alten edeln Hause anzugehören.

Graf Konrad und Sewenich hatten ihn ganz gefangen. Wenn er ein Schreiben seines Herrn nach Wien zu senden hatte, dann schickte er vorher einen Kurier mit der Abschrift an die Widersacher seines Herrn, damit sie ihm mit Gegenschritten zuvorkommen konnten. Jeder Plan des Markgrafen wurde seinen Gegnern bekannt, ehe er nur ausgereift war. Neben seinem amtlichen Agenten in Wien hielt der Kanzler dort einen privaten Gegenagenten und besoldete denselben aus eigenen Mitteln. Hatte er fünfhundert Gulden aus der markgräflichen Schatulle zu irgendeiner kleinen Bestechung anzuweisen, dann wies er zu gleicher Zeit sechshundert aus seiner eigenen Schatulle an zur Gegenbestechung.

Aber der Verräter hatte zuletzt auch wiederum seinen Verräter gefunden. Ein fortgejagter Diener Sewenichs hatte die ganze Korrespondenz des Kanzlers mit seinem Herrn gestohlen und aus Rachsucht dem Markgrafen überliefert.

Das waren die Papiere in jener Mappe, bei deren Anblick Herr von Staffel erblaßte und verstummte. Aus ihnen konnte der Markgraf das ganze falsche Spiel erraten; er erriet noch mehr, als darin stand. Und war die Schuld an sich schon groß genug, so wuchs sie doch noch viel größer auf in der wütend erhitzten Phantasie des Betrogenen, dessen Verdacht nun ebenso schrankenlos war wie früher sein Vertrauen.

V.

An dem verhängnisvollen Abend hatte der Markgraf den Kalikanten einsperren lassen, weil er sein besonderes Wohlgefallen, und den Kanzler in Arrest geschickt, weil er sein besonderes Mißfallen erregt hatte. Der eine wurde dingfest gemacht, weil ein Geheimnis hinter seiner Person zu stecken schien; der andere, weil sein Geheimnis vollkommen entschleiert war.

Mit diesem gekreuzten Doppelresultat hätte sich der hohe Herr für den Abend füglich begnügen und die Sache bis morgen beschlafen können. Allein aufs Schloß zurückgekehrt, fand er keine Ruhe. Gleich Wasserwogen hoben und verschlangen sich die widersprechendsten Eindrücke in seiner Seele, um sich wieder zu erheben und wieder zu verschlingen.

Der Kalikant hatte ihn mit seinem »Amen« zur Besinnung gerufen, er hatte ihn vielleicht vor augenblicklicher Gewalttat behütet. Und die Weisheit des seltsamen Philosophen mutete ihn so vertraut an. Griff er selber nicht in ähnlicher Weise den Ereignissen vor, ohne daß er sich's je so klar gestanden hatte? Just als er den Mann einen Unverschämten nannte, fand er das größte Wohlgefallen an ihm. Aber war derselbe nicht trotzdem vielleicht der größte Spitzbube von der ganzen Gesellschaft?

Eleonore hatte ihn tief gerührt, obgleich er sie trostlos gehen ließ und seine Rührung verbarg. Ein Fürst darf nicht gerührt erscheinen. Ihr Jammer inmitten der zerstörten Festesherrlichkeit gemahnte ihn an das Bild seiner Johanna, da er sie zum erstenmal auf den Dünen von Scheveningen erblickte.

Er wurde milder gestimmt; er hätte sich zunächst beruhigen können. Da fuhr ihm wieder der ganze Verrat des Kanzlers wie ein Blitz durchs Gehirn, und alles andere war vergessen: er mußte heute noch klarer sehen; der Verräter mußte sich ihm heute noch – vollständig entlarvt –, heute nacht noch zu Füßen winden.

Augenblicklich begab er sich zum Haftlokale. Auf dem Vorplatz hemmte er indessen doch noch einmal seine Schritte und besann sich. Sollte er nicht vielmehr die ganze Sache den Richtern überlassen? Doch nein! Die ganze Rechtspflege war ihm immer und überall zu langweilig. Er wollte selbst untersuchen, selbst richten, ungelehrt, aber prompt; im Notfall konnten's dann die Richter in ihrer gelehrten Weise hinterdrein noch einmal tun.

Der Kanzler war von dem Besuche nicht überrascht. Als genauer Kenner seines Herrn hatte er den ärgsten Sturm noch für heute nacht erwartet. Und er wußte, was er zu tun hatte.

Die erste Flut von Vorwürfen ließ er ruhig über sich hinbrausen. Dann erhob er sich und legte ein volles und ganz unumwundenes Geständnis ab. Dies allein rettete ihn; jede Beschönigung, jede neue Täuschung oder Ausflucht würde ihn verdorben haben.

So konnte er nun auch wirklich den übertriebenen Verdacht des Fürsten widerlegen. Er bewies ihm, daß nicht, wie der Fürst glaubte, er selbst, sondern Baron Sewenich der Verfasser des französischen Pamphlets sei, daß er sich nicht habe bestechen lassen, sondern vielmehr selbst bestochen habe.

»Das eine ist so schlecht wie das andere!« rief der Fürst dazwischen. »Doch das letztere ist wenigstens kavaliermäßiger!«

Dann zeigte er klar, daß ihm Mordpläne gegen Frau von Leuwarden oder deren Sohn niemals auch nur im Traume eingefallen seien; – denn auch dies hatte der Markgraf in seiner Wut geglaubt und behauptet.

»Aber was in aller Welt konnte Euch zum heimtückischen Feinde meiner Frau machen, die Euch nur wohlwollte, zum Feinde dieses guten, sanften Geschöpfes, die vorher keinen Feind auf Erden hatte?«

Mit einer Kühnheit, die dem Markgrafen imponierte, gestand der Kanzler, daß er kein Gegner Johannens, sondern nur ihrer Standeserhöhung gewesen; doch nein! er sei wirklich auch gegen die gute, sanfte Frau immer feindseliger geworden, weil sie seinen gnädigen Herrn zu bürgerlichen Gewohnheiten verleitet habe, die sich für Fürsten nicht schickten. »Die alten Zeiten sind vorbei! Die Fürsten müssen sich zu höherer Majestät erheben, sonst erhebt sich das Volk zur höchsten Majestät! Familienbande festigen den Thron in schwerster Not; das hat uns der letzte Krieg gar oft gelehrt. Ich habe schlechte Mittel gewählt, aber ich wählte sie zum besten Zwecke. Ich haßte Eure Gemahlin aus Liebe zu Euch. Ich wurde ein ungetreuer Knecht, weil ich Eurer Durchlaucht getreuester Diener war. Ich wollte Euch zwingen – –«

»Wer will mich zwingen?« unterbrach ihn der Markgraf.

– – »Euch selbst zu bezwingen«, vollendete der Kanzler und schwieg.

Eine lange Pause erfolgte.

Hätte der Kanzler gestern, da er noch im vollen Vertrauen seines Herrn stand, solche Worte gesagt, so würde ihn derselbe sofort aufs demütigendste verungnadet haben. Heute, wo er sich als Verräter bekannte, milderten dieselben kühnen Worte den Zorn seines Herrn und ließen den ersten Schimmer von Gnade in ihm aufleuchten.

Er ging mit dröhnenden Schritten im Zimmer auf und ab und rief in lautem Selbstgespräche:

»Ihr verachtet die gute alte Zeit? – Ihr sollt die alte Zeit kennenlernen! Ihr sollt zurück, über Euern Vater hinaus zu Euerm Großvater, der ein Schneider war, zurück in die alte Zeit! – – Mein getreuester Diener wollt Ihr gewesen sein? – – Ihr könnt gar nicht dienen, Ihr habt es niemals ordentlich gelernt! Aber ich will es Euch lehren. Ihr habt nicht von der Pike auf gedient. Ihr sollt es nachlernen. Staffel: – Er muß verschwinden!«

Der Unglückliche schrak zusammen. Was bedeutete das schauerliche Wort?

»Verschwinden!« wiederholte der Markgraf mit Donnerstimme. »Verschwinden«, fügte er ganz leise hinzu, »um nachzulernen von unten auf. – – Ihr schätzet hohen Stand so hoch, daß Ihr Eurer Tochter die Freifrauenkrone mit dem Unglück ihres Lebens erkaufen wollt; aber Unserer Ehefrau gönnet Ihr die Fürstenkrone nicht, die ich Johannen aufs Haupt setzen werde zum Danke, daß sie das Glück meines Lebens geschaffen hat. – – Johanna wird Markgräfin werden, und Ihr sollt so lange – im Dunkeln bleiben, bis sie's geworden ist. Im Dunkeln – was erschreckt Ihr wieder vor dem Wort? –, damit Ihr dienen lernt von unten herauf.«

Er schwieg lange, tief nachsinnend, und schritt rastlos im Zimmer auf und ab.

Dann fuhr er wieder fort, als widerlege er Gegenreden, die der Kanzler gar nicht machte; denn dieser verharrte lautlos.

»Ich soll Euch nicht zu so tiefer Schande hinabstoßen? – ich soll lieber Euern Kopf nehmen? – Ist es eine Schande, mein unterster Diener zu sein? – Hat Euch nicht Euer unterster Bedienter heute abend vor dem Schlimmsten bewahrt? Denn hätte jener Mann, der Eure Geigen und Lichter putzt, nicht gesprochen, – ich weiß nicht, was ich getan hätte. Der Mann hat sogar philosophieren gelernt im Bedientenrock, und das sollt Ihr auch lernen!«

Bei diesen Worten entfernte sich der Fürst.

In dumpfem Brüten blieb der unglückliche Kanzler zurück und brütete die ganze Nacht über den rätselhaften Drohworten, die sein Schicksal bargen, und konnte sie nicht enträtseln.

VI.

Um sechs Uhr pflegte Markgraf Philipp aufzustehen und sich ohne alle Beihilfe anzukleiden. Er nannte dies das »kleine Lever«. Dann begab er sich mit seiner Frau ins Nebenzimmer, wo schon alle seine Jagdhunde versammelt waren, vom riesigen Fanghund bis zu den Dächseln und Saufindern abwärts. Dies nannte er das »Lever im großen Zirkel«. Die beiden Herrschaften frühstückten – Milchsuppe mit Schwarzbrot – und fütterten nebenbei die Hunde.

Zu diesem zweiten Lever wurde heute früh der Kalikant entboten. Hatte der Markgraf in der Nacht den Herrn vernommen, so wollte er zum Frühstück nun auch den Diener vernehmen. Frau von Leuwarden entfernte sich, bevor derselbe eintrat.

Die Hunde knurrten verdächtig gegen den Philosophen. Denn der Mensch zwar sucht Gesellschaft beim Mahle; aber der Hund will alles allein fressen, und manchmal scheitert seine zärtlichste Freundschaft an einem elenden Kalbsknochen.

Mit einigem Bangen näherte sich darum der Philosoph dem Zirkel, obgleich er nicht wußte, vor wem er sich zumeist zu fürchten habe, vor dem Fürsten oder vor seinen zwanzig Hunden. Doch die Hunde zeigten wenigstens klar, was sie wollten und daß sie den Eindringling am liebsten an der Kehle oder an den Waden gepackt hätten; das Gesicht des Markgrafen dagegen war glatt und kalt, ein verschlossenes Buch.

Er fragte: »Ihr heißet Martin Schwarz? seid gebürtig aus Donauwörth? – sechsundzwanzig Jahre alt? – habt die Geigenmacherei bei Veit Eberwein in Augsburg erlernt? – Ist dies Euer Lehrbrief?«

Schwarz bejahte die Fragen und erklärte den Lehrbrief, welchen der Fürst schon gestern abend dem Cembalisten hatte abfordern lassen, für echt.

»Und wo erlerntet Ihr denn die Philosophie?«

»Einesteils bei den Geigen – denn zwischen Decke, Boden und Zargen sind da gar viele Gedanken eingeleimt und noch viel mehr Rätsel, die kein Denken löst; – anderenteils im Wald. Die Geigen lehrten mich zweifeln, der Wald lehrte mich vertrauen, und das ist meine ganze Philosophie.«

»Ich habe Zweifel genug auch ohne Geigen«, bemerkte der Fürst. »Aber wenn uns der Wald philosophieren lehrt, müßte ich ein großer Philosoph sein; denn ich lebe das halbe Jahr im Walde. Wie fing Er's denn an, diese Weltweisheit oder Waldweisheit zu erhaschen, die mir nun wiederum ein ebenso großes Rätsel ist wie Ihm seine Geigen?«

»Ich lief zu jeder freien Stunde in den Wald. War ich in der Werkstatt ein Knecht, so war ich im Walde ein freier Mann. Da tat ich, was ich wollte. Und wenngleich auf der weiten Welt sonst nichts mein eigen war, so gehörte mir doch der ganze große Augsburger Stadtwald.«

»Wie? Hast du gewildert und Holz gestohlen?«

»Behüte Gott! Nicht eine Gerte schnitt ich ab. Und eben darum gehörte mir der Wald so ganz und gar. Ich konnte auf die Bäume steigen, durchs Dickicht dringen, den Wald von oben und unten betrachten, ganz allein und frei, den Duft der Tannen atmen, soviel ich nur wollte. Und hat der Herr des Waldes etwas Schöneres und Besseres von seinem Wald? Und da ich immer weiter im Wald umherlief und immer tiefer durch die Büsche drang, so wurde mein Waldbesitz immer größer, und ich fand mich zuletzt erstaunlich reich. Herr Fürst, nehmt dem armen Manne seine Waldfreiheit, nehmt ihm seinen Wald nicht: er vergißt sonst, daß er reich ist, und glaubt, er sei ganz arm.«

Im Eifer der Rede hatte Martin bei diesen Worten einige Schritte vorwärts getan und war einem alten Jagdhunde, der quer im Wege lag, auf den Schwanz getreten. Das Tier fuhr heulend auf und wollte den Redner packen; aber der Markgraf rief sein: »Kusch!« dazwischen.

Dann sprach er zu dem Philosophen: »Ich will nichts von Euerm eingebildeten Waldbesitz hören. Sagt mir vielmehr, wie Ihr im Walde lerntet, daß man sich seine Ziele in Gedanken vorwegnehmen müsse als bereits erreicht, damit man sie hierdurch um so sicherer auch wirklich erreiche?«

»Ich lebte mit dem Wald wie mit dem besten Freunde, und der Wald dankte mir's, indem er mich glücklich und zufrieden machte. Der heitere Sinn – darin liegt das ganze Geheimnis – läßt uns das Ziel erreicht sehen, damit wir's erreichen. Beim trüben Sinne, den die Stubenluft eingibt, haben wir's vielleicht erreicht und glauben nicht einmal daran. Wer ist glücklicher, der Arme, der sich reich glaubt, oder der Reiche, der sich arm wähnt? Und im Walde kommt immer etwas Besseres nach. Im Frühling freuen wir uns auf den Sommer und im Sommer auf den Herbst, wo die bunten Bäume am allerschönsten sind.«

»Und dann kommt der Winter, und die ganze Herrlichkeit ist vorbei!« rief der Markgraf.

»Damit wir uns desto mehr wieder auf den Frühling freuen können«, ergänzte Schwarz. »Denn nur weil die Bäume kahl waren, sind sie so gar schön im neuen Grün.«

»Der Mann spricht eher wie ein Buch als wie ein Bedienter«, dachte der Markgraf und sah ihn lächelnd an; »der Philosoph geht mit dem Bedienten durch.« – »Aber suchtet Ihr niemals das schönste vertraute Waldplätzchen wieder und fandet die Stelle kahl, die Stämme am Boden liegen? Die Axt kommt am liebsten, wenn der Baum am höchsten steht.«

»Die Tanne fällt!« antwortete Martin. »Doch wir Geigenmacher haben einen Spruch, den schreiben wir in den Boden der Geige, wenn wir die feinsten Brettchen zusammenleimen, einen Spruch von der Tanne:

Im Leben schwieg ich.
Im Tode singe ich.

Im Tode kommt das sterbliche Holz erst recht zum unsterblichen Leben. Das ist die letzte Weisheit, die mich der Wald und die Geige gelehrt, und der Pfarrer hat mir nichts Besseres sagen können.«

»Zum unsterblichen Leben? – Und wenn nun die Geige eine alte Schachtel wird und zerbricht oder verbrennt? was dann?« fragte der Markgraf.

»Fürstliche Gnaden! Wenn der Himmel einfällt, dann sind alle Spatzen gefangen. Dieser Fall liegt aber außerhalb der Philosophie.«

Der Fürst lachte herzlich. »In der Tat, Martin Schwarz, vom Walde habt Ihr mehr gelernt als mancher gelernte Jäger. Aber nun sagt mir noch eines: von wem habt Ihr denn das Lügen gelernt? Hat Euch dies auch der Wald gelehrt?«

»Das Lügen?« wiederholte Martin, stark betroffen mehr noch durch den stechenden Blick des Fragers als durch die Frage. »Das Lügen lernt jedermann von selbst, das ist eine freie Kunst, zu welcher kein Mensch einen Lehrmeister braucht. Aber warum das Lügen?«

»Warum? Seht diesen Lehrbrief! Er ist echt. Aber Ihr seid nicht echt und gehört nicht zu dem Lehrbrief. Herr – Marquard Behaim, von wem habt Ihr das Lügen gelernt? Ich kenne Euch und Euer Haus, stolze alte Patrizier, diese Behaim, und Ihr lauft in diesem Bedientenrock umher und seid Doktor der Rechte dazu! Lügt nicht weiter! Warum habt Ihr Euch als Geigenmacher bei meinem Kanzler eingeschlichen?«

Marquard Behaim schwieg eine Weile. »Ich will aufrichtig sein: das Lügen lehrte mich – – die Liebe, die Euch, gnädiger Herr, das Regieren lehrte.«

VII.

Im Tone eines Untersuchungsrichters fuhr der Markgraf fort zu fragen: »In wen seid Ihr verliebt?«

»In des Kanzlers Tochter Eleonore. Ach, ihre feuchten schwarzen Augen leuchten wie Sterne – –«

»Haltet ein! Ich will von keinen schwarzen Sternen hören. Und Ihr gefallt der eiteln Jungfer in diesem Bedientenrock?«

»Sie kennt mich gar nicht.«

»Oder warum hat Euch Eleonorens Vater in diesen Rock gesteckt?«

»Er tat es nicht und kennt mich noch weniger, als seine Tochter mich kennt.«

»So! die Tochter kennt Euch gar nicht, und der Vater kennt Euch noch weniger. Was ist weniger als gar nicht?«

»Das will ich Eurer Durchlaucht erklären, wenn Ihr mir ruhig zu erzählen gestattet.«

Und nun erzählte Doktor Behaim, wie er Eleonore vergangene Fastnacht zum erstenmal gesehen habe in Nürnberg bei einem glänzenden Mummenschanz der Patrizier. Er selber sei als der Hirte Paris verkleidet gewesen und habe es gewagt, im Geiste seiner Maske die fremde Jungfrau anzureden, die auch bezaubernd liebenswürdig geantwortet habe, als wäre sie Pallas, Juno und Venus in einer Person, obgleich sie nicht gewußt, welcher Paris eigentlich vor ihr stehe. Hierauf erhob er sich zu einer rechten Glutrede über die Holdseligkeit dieser Eleonore.

Der Markgraf unterbrach ihn lächelnd. »Genug, Herr Doktor! Jetzt glaube ich schon, daß Ihr verliebt seid und kein Schuft. Beliebt es Euch, Platz zu nehmen?« – er wies mit der Hand auf den Stuhl. Behaim setzte sich und erzählte weiter.

»Seit jenem Maskenfeste sprach ich Tag und Nacht mit dem reizenden Mädchen; – ich gestand meine Liebe, warb um ihre Hand: mit welch beseligendem Lächeln hat sie verschämt ›ja‹ gesagt! Wir schwelgten in der Seligkeit des Brautstandes. Endlich kam der Hochzeitstag. Ich stand auf dem Gipfel des Glücks, als ich Eleonore in mein väterliches Haus zu Nürnberg einführte, nun meine Frau! Die Wonne dieses Augenblicks ist gar nicht zu beschreiben.«

»Wacht oder träumt Ihr?« rief der Markgraf. »Behaim! Ist Er toll? – verlobt – verheiratet –«

»Nur im Vorausbesitz der Einbildung, Durchlaucht, im Vorauswerfen des Loses, im Vorgreifen der Zeit. In Wirklichkeit sah und hörte ich seit jenem Tage nichts mehr von Eleonoren. Sie war am nächsten Morgen schon wieder abgereist. Ich wollte ihr nachreisen, allein das ging nicht; viel weniger aber vermochte ich sie zu vergessen. Mein Unglück in all dem vorgedachten Glück war gar nicht auszusprechen. Ich schrieb Eleonoren einen Brief mit dem vollen, glühenden Geständnis meiner Liebe. Sie antwortete nicht. Ich schrieb einen zweiten noch glühenderen und bot ihr meine Hand an. Sie antwortete wieder nicht. Mich schreckte dies wenig: ich dachte, sie will wohl schreiben, aber man wehrt es ihr; oder – sie hat mir so viel Schönes zu schreiben, daß sie gar keinen Anfang finden kann. Darum wandte ich mich nunmehr brieflich an ihren Vater. Die Briefe an die Tochter waren ganz Poesie gewesen, der Brief an den Alten war ganz Prosa. Ich schrieb ihm, wer ich sei (was ich in den Briefen an Eleonore ganz vergessen hatte) – sechsundzwanzig Jahre alt, von gutem Hause, wohlhabend, ein graduierter Doktor, gesund und von angenehmer Gestalt; ich schrieb einen Brief von zwanzig Seiten und schloß mit der formvoll korrektesten Werbung, wie sie der kaiserliche Notar Alhart Moller für solche Fälle in seiner Prascis epistolica vorschreibt. Hierauf erhielt ich eine Antwort von zehn Zeilen, in welchen mir der Kanzler mit der impertinentesten Artigkeit erklärte, daß seine Tochter bereits einem anderen – ›bestimmt‹ sei. Ich war glückselig: – einem anderen bestimmt! – also hatte sie ihn nicht selber erwählt, sie war ihm noch nicht verlobt, sie wollte ihn ohne Zweifel gar nicht. Ich durfte wieder hoffen und vorausleben, was ich wollte.«

»Wie lange habt Ihr die Jungfrau gesehen?« fragte der Markgraf.

»Drei Stunden.«

»Und wie lange mit ihr gesprochen?«

»Zehn Minuten.«

»Und darauf verliebt, verlobt, verheiratet Ihr Euch, alles in der Einbildung! Zehn Minuten – und eine Kette fürs ganze Leben!«

»Gnädigster Fürst, wie lange haben Eure Durchlaucht das schöne Fräulein von Leuwarden in Scheveningen gesehen und gesprochen, bis Ihr Euch verliebtet?«

»Ganze drei Tage!«

»Und sind drei Tage mehr als drei Stunden? Ein Mädchenherz ergründet man entweder im Augenblick, oder man ergründet es nicht in fünfzig Jahren, und man verliebt sich entweder in einem Augenblick, oder man verliebt sich gar nicht.«

»Ihr seid ein Meister in der Weltweisheit!« rief der Fürst, behaglich lachend. »Doch erzählt weiter, wie Ihr in den Bedientenrock gekommen seid.«

Marquard Behaim fuhr fort: »Ich suchte durch einen Freund in hiesiger Stadt zu erfahren, wem denn eigentlich Eleonore bestimmt sei. Niemand wußte es.«

»Ich aber weiß es!« rief der Markgraf.

»Wie heißt der Mann?« fiel Behaim ein, jäh aufspringend. »Ich muß es wissen, ich muß – Durchlaucht! ich bitte untertänigst um den Namen, – damit ich dem Kerl den Hals brechen kann!«

»Ruhig, Freund! Heute sage ich Euch den Namen nicht; vielleicht später einmal, wenn Ihr brav seid. Fahret fort!«

»Da ich mit meiner Liebe von fernher nichts ausrichtete, so reiste ich insgeheim hierher. Ich konnte das Haus nicht offen betreten, wo man mich so schnöde abgewiesen hatte, aber ich schlich mich verstohlen um dasselbe herum. Ich suchte Eleonore auf der Straße, in der Küche wenigstens von weitem zu erspähen. Vergebens. Acht Tage trieb ich's so und sah und hörte gar nichts. Da erfuhr ich, daß man für des Kanzlers Hauskapelle einen Kalikanten suche; ich verstehe ein wenig von den Geigen; ich verschaffte mir den Lehrbrief, dessen rechtmäßiger Inhaber voriges Jahr gestorben ist und mich also nicht mehr in Verlegenheit bringen konnte; ich bewarb mich um die Stelle und erhielt sie als der Mindestfordernde. Niemand kennt mich hier. Und nun durfte ich Eleonore doch sehen, ich konnte ihr Auge unterderhand auf mich ziehen –«

»Wie? In dieser gemeinen Maske will der Paris von Nürnberg das Herz der stolzen Helena erobern?«

»Allerdings, Durchlaucht! Eleonore hat eine zweifache Natur – und gerade durch diese Doppelnatur ist sie ein so unvergleichliches Wesen. Sie versteht meisterhaft Figuren, ganze Bilder in schwarzem Papier auszuschneiden. Sie trägt in Gesellschaft immer eine kleine Schere bei sich, beobachtet die Menschen, welche ringsum sitzen, nimmt lebhaftesten Teil am Gespräche und schneidet mit ihren feinen Händchen unterm Tisch ganz unvermerkt die Gesichter der Anwesenden aus – in allerliebsten Karikaturen. Sie hat Witz und Geist. Der Witz sitzt ihr in der Schere, was man nicht von jedem Mädchen sagen kann. Wir spielten jüngst eine Serenade beim Sonntagszirkel des Kanzlers; da verlor sie ein solches Bildchen, es fiel zu Boden, ich haschte es auf und trage es in dieser Kapsel auf dem Herzen.«

Behaim überreichte die Silhouette.

»Das seid Ihr ja selbst mit der Geige!« rief der Fürst. »Gut getroffen, aber nicht geschmeichelt! eine groteske Fratze – und etwas buckelig obendrein!«

»Durchlaucht, ich machte den krummen Buckel, weil ich fortwährend ums Pult herum nach ihr schielte, wodurch ich öfters aus dem Takte kam. Aber sie hat mich doch ausgeschnitten! – und das ist die erste Vorstufe der Liebe. Geist und Witz sitzt ihr in der Schere; doch das ist nur die eine Hälfte: aus ihrer Kehle spricht Gefühl und Leidenschaft, und hiermit vollendet sich die Doppelnatur. Ihr Adagio affettuoso –«

»Ich kenne ihren Gesang – keine Schilderung!« wehrte der Fürst.

»Nun dachte ich«, fuhr Behaim fort, »ein Mädchen, welches so viel Geist und Witz im Charakterschneiden besitzt, wird mir's auch verzeihen, wenn ich mir selber ihr zuliebe diesen Charakter eines Kalikanten zurechtgeschnitten habe – und doch wohl auch nicht ohne Witz. Wenn sie aber ihre Kantaten und Arien zum Klaviere singt mit Begleitung der Laute und der Geigen, dann spricht sich ihre zartbesaitete Empfindung aus – und ich hatte ganz von fernher mitgeigen und die Lichter putzen dürfen –«

»Genug! Und sie hat Euch nicht erkannt?«

»Ich wiederhole mein früheres Wort, und Ihr werdet es jetzt verstehen: sie kennt mich gar nicht, und ihr Vater kennt mich noch weniger. Denn sie hat mich wenigstens ausgeschnitten, und das hat der Alte nicht getan.«

»Jetzt werdet Ihr aber wohl von Eurer Liebe lassen; denn der Kanzler ist fortan kein Kanzler mehr.«

»Dann werde ich um so leichter seine Tochter als Frau gewinnen. Gerade der Kanzler stand mir im Wege.«

Der Markgraf starrte ihm ins Gesicht und rief: »Behaim, Er ist verrückt!«

»Verliebt!« verbesserte der Unverbesserliche, »und das scheint allen Leuten verrückt, die nichts von Liebe wissen.«

»Ob ich nichts von Liebe weiß?« fragte der Fürst. »Hat mich nicht mein Vetter Konrad eben darum für verrückt erklärt?«

Dann ließ er den Doktor wohl eine Viertelstunde sitzen und blickte sinnend zum Fenster hinaus. Endlich schien der erleuchtende Gedanke gekommen zu sein, welchen er so lange suchte.

Er rief: »Höret mich an und folget mir blind! Ich will Eure Liebe prüfen, ich will den falschen Kanzler prüfen. Und besteht Ihr die Probe, dann sollt Ihr das Mädchen haben, vorausgesetzt, daß sie Euch will. Aber wehe Euch, wenn Ihr falsch seid!«

In dem Maße, als der Fürst heiß wurde, ward Behaim nun kalt. »Und worin besteht diese Prüfung?« fragte er sehr gelassen.

»Das ist und bleibt mein Geheimnis. Vorerst fordere ich nur, daß Ihr in meine Dienste tretet, und zwar im Walde, den Ihr so sehr liebt. Draußen im Wildpark habe ich ein halb verfallenes Jagdhaus; es soll neu eingerichtet werden. Ich brauche einen Aufseher über das Haus während der Arbeit, der sollt Ihr sein, so etwas wie – – Hausknecht. Ich habe nichts Besseres an Titel und Lohn zu vergeben.«

Dem Doktor Behaim schien nunmehr der Markgraf verrückt, ohne verliebt zu sein, und er dankte entschieden für diese neue Beförderung.

Aber der Fürst faßte ihn am Arm und führte ihn in ein kleines Seitenkabinett, als fürchte er, daß in dem großen Raum die Wände größere Ohren haben oder die zwanzig Hunde seine vertrauliche Mitteilung weiterplaudern möchten.

Dort sprach er lang und leise mit dem jungen Mann. In Jahr und Tag hatte er nicht so leise gesprochen, weil ihn dies immer große Überwindung kostete und er sonst selbst Geheimnisse den Leuten so laut ins Ohr zu rufen pflegte, als ob sie in einer Mühle wären. An einem großen Herrn muß alles schneidig sein, sogar die Stimme, – so dachte der Markgraf und hatte recht in seiner Art.

Diesmal aber wirkte ein leises Geflüster doch mehr, als sonst oft die Donnerstimme. Denn nach einer Stunde empfahl sich Doktor Marquard Behaim unter tiefen Verbeugungen mit den Worten: »So bin ich denn im Jagdhause Eurer Durchlaucht Hausknecht. Mein Avancement geht rasch: vom Doktor der Rechte zum Geigenmacher, zum Kalikanten und nun zum Hausknecht.«

»Und Er wird rasch noch weiter avancieren«, rief ihm der Markgraf nach, »wenn Er gescheit ist und treu; ist Er aber falsch, dann holt Ihn der Henker!«

VIII.

Das Haus des Kanzlers stand verwaist und verödet; die glänzende Dienerschar war zerstoben, Türen und Fensterläden geschlossen.

Eleonore wohnte bei Frau von Gronau, jener Dame, deren Schutze sie der Markgraf in der fürchterlichen Stunde übergeben hatte, da das Glück ihres Hauses zusammenbrach.

Von dem Verrat des Kanzlers waren verworrene Gerüchte im Umlauf, die im ganzen das Wahre trafen, im einzelnen das Tollste und Ungeheuerlichste hinzufügten.

Niemand wußte jedoch, was aus ihm geworden sei. Einige behaupteten, er sitze im Schloßturm; andere erzählten, man habe ihn im Bauernwams Steine klopfen sehen bei dem neuen Wegbau, den der Markgraf drei Meilen von der Residenz durch Leibeigene und Sträflinge ausführen ließ.

Gewiß war nur eines: – der unglückliche Mann war »verschwunden«!

Tag für Tag bat Eleonore ihre Schützerin, Frau von Gronau, daß sie den Markgrafen fragen, daß sie ein Fürwort für ihren Vater einlegen möge. Allein die sonst so teilnahmvolle Frau lehnte beides ganz entschieden ab. Sie kannte den Markgrafen. Man mußte warten, bis die Zeit seinen Zorn abgeschwächt hatte; es war noch viel zu frühe.

Das Herz der Tochter konnte nicht warten. Sie mußte wissen, wo ihr Vater war und was ihm geschah. Ob man ihn vor ein Gericht stellen werde? War es doch in jener Zeit nicht unerhört, daß ein verungnadeter Beamter jahrelang eingesperrt wurde ohne Urteil und Recht, ja ohne daß er überhaupt nur erfuhr, warum er eigentlich eingesperrt war. Und dem Hochgestellten drohte dieses Schicksal eher als dem Niedrigen.

Eleonore gedachte, sich unmittelbar an den Kaiser zu wenden. Allein dazu war es in der Tat noch zu frühe, und überdies wußte sie nicht, wie man ein solches Gesuch formgemäß abfaßt und auf den richtigen Weg leitet. Sie war so hilflos, so ganz verlassen und allein!

Mit schwerem Herzen entschloß sie sich zu dem einzigen Schritte, der Aussicht auf Erfolg verhieß: sie schrieb an Herrn von Sewenich und bat um seinen Beistand zugunsten ihres Vaters, seines Freundes, für dessen Unschuld er das beste Zeugnis leisten könne.

Da kam sie aber an den unrechten Mann. Graf Konrad und seine Freunde waren sehr verstimmt, daß sich der Kanzler hatte fangen lassen, obgleich dies doch nur durch Sewenichs eigene Unvorsichtigkeit geschehen war. Das Interesse Sewenichs an der Person des Kanzlers war zu Ende, und das Beste bei der schlimmen Geschichte schien ihm zunächst, daß der gestürzte Freund spurlos verschwunden sei. Blieb er in ewigem Gefängnis und wurde vergessen, so war der ärgste Skandal vermieden, der kommen mußte, wenn die Sache vor einem Gerichtshofe verhandelt wurde oder wenn gar der Kaiser einschritt. Zudem verbreitete sich auch das Gerücht, daß das Vermögen des Kanzlers ruiniert sei, daß seine Güter mit Beschlag belegt würden. Hatte Eleonore vordem Sewenichs Wünsche auf die Zukunft vertröstet, so konnte er ihr jetzt ja wohl auch mit gleichem Troste antworten.

Das tat er denn auch in einem Briefe voll glatter, kalter Artigkeit, der unendliches Bedauern aussprach und ganz stilles Abwarten fürs beste erklärte.

Während Sewenich früher die Briefe an seine vorbestimmte Braut im feinsten Geschmacke der Zeit mit der Anrede zu beginnen pflegte: »Herzinnigstgeliebte Jungfer! schönste und hochtugendselige Nymphe!« – so stand über diesem Briefe die »Salutatio«: »Wohledelgeborene, hochehr- und großtugendreiche, in Gebühr hochwertgeehrte Jungfer!«

Eleonore wußte nun, woran sie war mit diesem Manne, der die Tochter des glücklichen Vaters so zärtlich und des unglücklichen so ehrfurchtsvoll zu begrüßen verstand.

Von den Freunden des Vaters kalt und achselzuckend abgewiesen, beschloß die Verzweifelnde endlich, sich jener Frau in die Arme zu werfen, die von ihrem Vater am schwersten gekränkt worden war, sie beschloß, das menschliche Mitgefühl der Frau von Leuwarden anzuflehen. Und ihr Vertrauen auf Johannens gutes Herz täuschte sie nicht.

Sie fand teilnahmvollen Empfang. Versprechen konnte die edle Frau zunächst noch nichts. Aber schon nach einigen Tagen verkündete sie Eleonore, daß ihr der Markgraf gestatte, demnächst den Vater zu sehen und zu sprechen, wofern sie Verschwiegenheit gelobe.

Nicht ohne schwere Bedenken leistete sie dieses Gelöbnis. Aber waren auch damit zunächst ihre Schritte für des Vaters Rechtfertigung und Befreiung gehemmt, so durfte sie ihn doch sehen und trösten; sie gewann den ersten Schimmer von Klarheit über sein Schicksal.

Fiebernd vor Angst und Spannung, bald in Hoffnung hoch aufschwebend, bald in zermalmender Furcht niedergedrückt, zählte sie Tage und Stunden bis zu diesem Wiedersehen.

Welch entsetzliches Bild konnte ihrer harren?

IX

Der Wildpark lag mitten im Walde, tief einsam, über eine Stunde Wegs vom Schlosse entfernt. Von hohen Mauern umschlossen, durfte er von keinem Unberechtigten betreten werden. Am Haupteingange stand das Häuschen des Aufsehers, eines alten halbinvaliden Jägers, und nur etwa fünfhundert Schritt davon entfernt das fürstliche Jagdhaus.

Dort war Doktor Marquard Behaim, der nun wieder Martin Schwarz geworden ist, als Hausknecht eingezogen und hatte zunächst die Aufgabe vorgefunden, das sämtliche, mehrenteils etwas wurmstichige Mobiliar aus den Zimmern zu räumen und in den angrenzenden Stall zu tragen, damit die für nächste Woche erwarteten Handwerksleute die Innenwände ausflicken und neu tünchen könnten.

Trotz seiner juristischen Kenntnisse hätte er dies allein nicht fertiggebracht, denn die alten Truhen und Schränke waren sehr schwer. Allein schon am folgenden Tag in frühester Morgenstunde war ihm ein Mann zur Hilfe geschickt worden, über welchen er als seinen Untergebenen verfügen konnte. (Bei den alten Höfen war es zwar leicht zu sagen, wer der Allerhöchste, aber schwer, wer der Unterste sei; glaubte man sich auch ganz unten angelangt, so kamen unter dem Untersten doch immer noch einige Allerunterste, und so erschien der Hof einer Linie vergleichbar, die oben zwar einen Anfang, aber unten kein Ende hatte.)

Der neue Ankömmling im Forsthause war also der Hausknecht des Hausknechts.

Er begrüßte seinen Vorgesetzten herablassend; dieser dankte dafür um so ergebener.

Behaim erkannte sofort den ehemaligen Kanzler trotz seines schlechten Rockes. Auch Staffel wußte, daß er fortan seinem ehemaligen Kalikanten dienend zu helfen habe. Daß dieser Kalikant selbst dann wieder die Maske einer Maske sei und etwas Besseres als ein Bedienter und Geigenmachergesell, war ihm freilich unbekannt.

Zur Strafe sollte er von unten auf dienen als Diener seines eigenen Dieners. Er erklärte, das strengste Gericht solcher Demütigung vorzuziehen. Aber da der Markgraf sagte, daß der Dienst nur bei jenem Kalikanten zu leisten sei, der ihn durch sein mutiges Wort vor öffentlicher Beschimpfung bewahrt hatte, da sprach er: »Ja! diesem Manne, den ich nicht kenne, obgleich er mein Brot aß, diesem allein will ich dienen.«

Der Markgraf nahm ihm das Ehrenwort ab, daß er sich niemand entdecken und nicht entfliehen wolle. Er gab das Wort und fügte hinzu: »Ich werde willig dienen; denn da Eure Durchlaucht mein Wort fordern, haltet Ihr mich auch für einen Mann von Ehre und für keinen Schuft und werdet mich nicht öffentlich beschimpfen.«

»Ihr sollt ja nur verschwinden«, beruhigte der Fürst. »Aber fallt mir nicht aus der Rolle des Dieners! Unsichtbare Augen bewachen Euch auf Schritt und Tritt!«

Der Markgraf war in der Tat der Kalif aus »Tausendundeiner Nacht«, der mit einem Winke Diener in Herren und Herren in die Diener ihrer Diener verwandelt. Damals konnten deutsche Fürsten noch solche Kalifen sein.

Kehren wir zurück zum Jägerhause.

»Ich heiße Martin«, sprach Doktor Behaim, »und Ihr heißet, soviel ich weiß, Jakob?«

Herr von Staffel nickte bejahend.

»Wohlan, Jakob! helft mir diese Truhe hinabtragen; sie ist schwer.«

Die beiden Männer wurden kaum fertig mit der ungewohnten Arbeit. Auf der Treppe rannten sie sich fest und mußten eine Weile ruhen und sinnen, wie sie den alten Kasten richtig wenden sollten.

»Zu welchem Zwecke wird das Haus neu gerichtet?« fragte Jakob.

»Für Frau von Leuwarden. Und darum soll alles hier holländisch gemacht werden. Die Wassergräben vor dem Haus werden in einen achteckigen Teich verwandelt, der Bach in einen geradlinigen Kanal, und in den Buchenwald werden fächerförmig Gänge gehauen. Hebt wieder auf!«

Herr von Staffel ächzte. »Ihr habt mir die Truhe auf die große Zeh' gesetzt! – holländisch – für Frau von Leuwarden! Es ist eine raffinierte Marter, daß ich dieser Frau das Haus herrichten soll!« So sprach er in sich hinein.

Martin fuhr fort: »Die Ausstattung wird echt, aber sehr einfach werden, so recht gediegen holländisch bürgerlich. Die gnädige Frau will während des Herbstes hier noch einfacher leben als im Schlosse – etwa wie eine Förstersfrau.«

»Ihr habt mir die scharfe Kante wider den Ellenbogen gestoßen!« schrie der Gehilfe laut auf und brummte wieder in sich: »Welche Demütigung, daß ich da mithelfen muß! – Doch da wird unsere Arbeit wohl nicht lange dauern?«

»Oh, wir haben Zeit! viel Zeit! Haus und Garten braucht nicht früher fertig zu werden, als bis Frau Johanna vom Kaiser als Markgräfin anerkannt ist. Dann erst wollen die Herrschaften hier einziehen. Der Wildpark gehört zum Hausfideikommiß, und das Haus soll später einmal der Witwensitz der Frau Markgräfin werden.«

Jetzt faßte Jakob von Staffel die Kiste mit wütender Faust und brachte sie unglaublich rasch in den Stall und ein halb Dutzend Stühle dazu.

Als die beiden Männer endlich rasteten, um Brot und Käse zu frühstücken, da dachte der ehemalige Kanzler bei sich: »Ich möchte wünschen, daß Frau Johanna gleich morgen hier einzöge, dann wäre ich doch mit dieser unwürdigen Arbeit fertig; und ich möchte wünschen, in Ewigkeit mit dieser Arbeit nicht fertig zu werden, wenn ihr Ziel nur mit der Anerkennung Johannas zusammenfallen soll.«

X.

Am anderen Morgen hatten die beiden Hausknechte schon vollständig ausgeräumt. »Nun müssen wir auch reinen Boden machen, Jakob!« rief Martin und brachte zwei gewaltige Besen, und sie begannen sehr eifrig zu kehren und fanden die heutige Arbeit schon weit leichter und angenehmer als die gestrige.

Sie waren gerade im besten Zuge, da öffnete sich leise die Türe; eine junge Dame, tief verhüllt in einen schwarzen Mantel, trat ein, blieb aber spähend auf der Schwelle stehen. Sie betrachtete die beiden Männer, von ihnen unbemerkt, als suche sie jemand, glaube sich getäuscht und suche wieder.

Doch plötzlich stürzte sie vor. Sie hatte des Vaters Stimme erkannt: – es war Eleonore. Sie fiel dem unglücklichen Manne um den Hals, der fast zusammengebrochen wäre, als er seiner Tochter in die verweinten Augen sah, und lange hielten sie schluchzend sich umfangen.

Marquard Behaim hätte mitweinen mögen. Aber er trat zurück. Und als die beiden wieder Worte fanden, ging er in die fernste Ecke des Zimmers und begann wieder zu kehren und kehrte mit wütendem Eifer zwanzigmal dieselbe Stelle und kehrte zuletzt die Wand ab und die Fenster, wo sich eigentlich gar nichts zu kehren fand. Denn er war von Natur sehr zartfühlend.

Vater und Tochter waren in eine andere Fensternische getreten und hatten wohl eine halbe Stunde sich ausgetauscht in Kummer und wiederauflebender Hoffnung.

Dann schritt Herr von Staffel mit Eleonoren vor, führte sie zu Martin und sagte: »Danke diesem Manne, der mein Diener war und für mich sprach, als alle schwiegen. Jetzt ist er mein Herr.«

»Erkennt Ihr mich wieder, holdselige Jungfer?« fragte Martin. – »Ihr habt mich ja ausgeschnitten!«

»Das habe ich vergessen«, erwiderte Eleonore lächelnd, »aber etwas anderes vergaß ich nicht – die Worte, welche Ihr mir zuflüstertet: ›Seid getrost; es wird sich alles wenden!‹ Ihr seid selbst ein armer Mann, aber Ihr habt mir in diesen Worten einen reichen Schatz gegeben.«

Und sie drückte ihm die Hand.

Als Doktor Behaim so dastand, im groben Linnenkittel, mit Staub bedeckt, den großen Besen in der Linken und Eleonorens Hand in seiner Rechten, hätte er mit keinem König tauschen mögen. Es lief ihm bald heiß, bald kalt über den Rücken. Wie lange hatte er sich diesen Händedruck ersehnt, wie oft ihn vorgenossen! Was hatte er da alles gesagt in der Einbildung! und jetzt wußte er gar nichts zu sagen und stand so steif wie sein Besen.

Eleonore entfernte sich mit dem Versprechen wiederzukommen. Im Fortgehen erzählte sie dem Vater noch, daß sie die Vergunst, ihn zu sehen, allein der Güte Johannens danke.

Er war tief erschüttert von diesen Worten. Nur zwei Menschen hatten sich seiner angenommen in der höchsten Not: ein armer Diener, den er gar nicht gekannt, und die Frau, gegen welche er Verrat gesponnen und die ihn am meisten hätte hassen dürfen.

Er begann ihr im stillen abzubitten und wünschte schon fast – weniger sich selbst als ihr zuliebe –, daß das Jagdhaus bald fertig und recht holländisch werden möge.

XI

Sechs Personen wußten um das Geheimnis von des Kanzlers Dienstbarkeit: der Fürst, Johanna, Behaim, der Parkaufseher, Eleonore und Frau von Gronau, welche das Mädchen jedesmal zum Wildpark fuhr und dann im Hause des Aufsehers wartete, daß Eleonore ungestört den Vater sprechen konnte. Trotz so vieler Mitwisser blieb die Sache geheim, und Behaim wußte seinen Gehilfen jederzeit derart zu beschäftigen, daß ihn die Handwerker, welche nun zahlreich zur Arbeit einrückten, nicht zu Gesicht bekamen.

Das Nachtlager hatten die beiden Hausknechte in zwei Dachkammern des sonst unbewohnten Jagdhauses, wo für jeden ein mit Laub gefüllter Sack und eine wollene Pferdedecke als Bett diente.

Nun bemerkte Herr von Staffel nach einiger Zeit, daß sein Genosse in der Nebenkammer häufig bis Mitternacht Licht brannte, daß er aber auch öfters mit der Dunkelheit aus dem Hause schlich und erst spät wiederkam. Als er ihm einmal nachspähte, sah er ihn zum Hause des Aufsehers schlüpfen, während eben ein Mann zum Parktore einritt und gleichfalls in jenem Hause verschwand. Dies wiederholte sich nach wenigen Tagen.

Er ahnte neue Intrigen. Als er aber bei Martin auf den nächtlichen Reiter anspielte, gab ihm dieser keine Antwort.

Schon hatte Eleonore vier Besuche gemacht, drei Wochen waren verstrichen, und Behaim hatte noch nichts weiter von ihr erhascht als dann und wann ein freundliches Wort. Er stellte ihr jederzeit einen Sessel an das schönste Plätzchen, wo sie ungestört mit dem Vater sprechen konnte, der aber keinen Sessel kriegte; er hatte sie hundertmal mit den zärtlichsten Augen angeblickt, – – sie nahm das so hin, als ob sich's von selbst verstehe.

Da er seinem Glück so gerne in Gedanken vorgriff, so wollte er's nun auch in der Tat ergreifen; dieses Abwarten und Zusehen ohne Ende war ihm unerträglich.

Als Eleonore wieder erwartet wurde, hatte Behaim den Kanzler bei den Kanalarbeiten im entlegensten Teile des Parkes beschäftigt. Eleonore kam dorthin und unterhielt sich lange, nun schon in traulich heiterer Weise mit dem Vater, und als endlich die Abschiedsstunde schlug, hieß Behaim den Alten bei der Arbeit bleiben, weil ihn vorn am Hause die Maurer gesehen haben würden, während er die Jungfer zu Frau von Gronau zurückbegleiten wolle.

Der ziemlich weite Weg führte durchs Dickicht. Im Gehen begann Behaim Eleonoren etwas verworren von der unbegrenzten Hingebung zu sprechen, die er für sie hege, und als er ihre Hand ergriff, um ihr über einen kleinen Graben zu helfen, hielt er dieselbe unmäßig fest und ließ sie nicht wieder los, bevor er einen heißen Kuß darauf gedrückt hatte.

Eleonore wehrte sanft ab und meinte, das sei zu kräftige Hilfe und zu viel Verehrung.

»Es ist die Verehrung der tiefsten, reinsten Liebe!« rief jetzt ihr Führer. »Ich bin der unglücklichste Mensch, wenn Ihr mich wegstoßet, der glückseligste, wenn Ihr mich auch nur ein klein wenig wiederlieben könnt!« und fiel ihr mitten im nassen Grase zu Füßen, daß das erschrockene arme Ding laut aufschrie und zurücklaufen wollte zu ihrem Vater.

Allein er holte sie bald wieder ein und rief: »Fürchtet nichts! Es ist ganz ernst gemeint. Lauft doch nicht davon, bevor Ihr wenigstens erfahren habt, wer ich bin. Ich bin ja sowenig ein echter Hausknecht, wie Euer Vater ein echter Hausknecht ist. Ich bin auch kein echter Geigenmacher, kein Kalikant – ich bin Doktor beider Rechte!«

Bei dieser tollen Anrede schrie Eleonore noch lauter auf und versuchte in steigender Angst abermals davonzulaufen; denn sie hielt den armen Martin jetzt ganz gewiß für verrückt und hatte auch neulich bereits dergleichen geahnt, weil er sie immer mit so seltsamen Augen anstarrte.

Aber Behaim blickte ihr jetzt so treuherzig und ruhig ins Gesicht mit seinen hellen, klaren Augen und fragte lächelnd: »Kennt Ihr mich denn gar nicht mehr?«

Das war nicht Blick und Ton eines Verrückten. Sie besann sich, wußte aber keine Antwort auf die Frage.

»Erinnert Ihr Euch nicht mehr der Briefe, die ich Euch schrieb?«

Nun hielt sie ihn doch wieder für verrückt. Wie sollte sie mit dem Geigen- und Lichterputzer jemals korrespondiert haben? Sie schüttelte verneinend den Kopf.

– –»Der Briefe, in welchen ich vorigen Winter um Eure Liebe warb? – Vielleicht laset Ihr auch meinen Brief an Euern Vater; er wies meine Werbung zurück, weil Ihr einem anderen vorbestimmt seiet. Nicht wahr. Ihr seid jetzt niemand mehr vorbestimmt?«

Nun erst dämmerte die rechte Erinnerung im Geiste Eleonorens.

»Ich bin der Paris von Nürnberg! Zehn Minuten habt Ihr bei dem Maskenzug auf dem Rathaus mit mir gesprochen – –«

Jetzt erkannte Eleonore die Züge wieder trotz des Linnenkittels und entschloß sich, mit dem wunderlichen Bewerber wieder vorwärtszugehen, und nun erzählte er ihr alle Abenteuer seiner Minnefahrt, die wir kennen, und als sie vors Jagdhaus gekommen waren, gingen sie – nun ganz ruhig – wieder eine Strecke in den Wald zurück und noch einmal vorwärts und noch einmal zurück.

Dann wußte Eleonore endlich alles.

Sie war tief ergriffen. Wenn irgend jemand in der Welt liebte, dann mußte dieser Mann lieben, der Kalikant geworden war, nur um in ihrer Nähe atmen zu dürfen. Bedienter um ihretwillen und Hausknecht um ihres Vaters willen. Solche Liebesopfer werden selten gebracht. Zwar erschien ihr jetzt sein Auftreten an dem Unglücksabende nicht mehr so ganz uneigennützig wie bisher. Allein sein Eigennutz war doch nur das Streben nach ihrem Besitze, und diese Art des Eigennutzes ist allemal selbstlose Tugend in eines Mädchens Augen.

Sie beruhigte sehr gütig das Ungestüm des Liebenden; sie fürchtete nicht mehr und zürnte nicht mehr. Allein sie sprach: »Ich darf jetzt nur an meinen Vater denken, nur an seine Erlösung und Befreiung. Nicht daß er sein Wort brechen und entfliehen sollte. Der Fürst selbst muß ihm sein Wort zurückgeben und ihn entheben von dieser niederen Dienstbarkeit. Aber wie ist dies zu erreichen? Helft mir und denkt vorerst nicht an meine arme Person. Ich bin Euch gut; ich will Euch noch einmal so gut sein, wofern Ihr mir helfet.«

»Es gibt nur einen Weg«, entgegnete Behaim. »Der Fürst will und wird nicht eher Gnade gewähren, bis Johanna als ebenbürtig vom Kaiser anerkannt ist. Geschieht dies nicht, so bleibt Euer Vater Hausknecht bis zu seinem seligen Ende: das hat sich der Markgraf zugeschworen. Neue Verhandlungen mit Wien sind übrigens wieder im Gange, und ich weiß einiges davon. Es soll ein entscheidendes Aktenstück existieren, dessen sich der Fürst nicht mehr genau entsinnt und welches er nicht finden kann. Ich weiß noch weniger davon. Aber Euer Vater muß es wissen. Andeutend fragte ich ihn schon danach, soweit es meine Rolle zuließ. Er hielt die Frage für einen Fallstrick, den ich nicht aus eigenem Kopfe, sondern auf Antrieb anderer ihm legen wolle. Er ist mißtrauisch, weil er entdeckt hat, daß ich nächtlicherweile mit einem Fremden verkehre. Er wich der Antwort aus. Ihr habt so kluge Augen und führt eine so witzige Schere: entlockt Euerm Vater das Geheimnis, und es kann alles gut werden.«

So schieden sie.

Nach vierzehn Tagen erst fand Behaim Gelegenheit, Eleonoren auf einen Augenblick wieder allein zu sprechen, nur auf wenige Worte – aber sie waren entscheidend.

»Das Aktenstück«, flüsterte sie, »ist ein dem Markgrafen nur halb bekanntes Gutachten der Leipziger Fakultät. Es liegt versteckt im Archive zwischen den Akten über das Kopfgeld der Judenschaft. Daneben aber befindet sich noch ein anderes Fakultätsvotum von Helmstedt, welches mein Vater für sich einholte ohne Vorwissen des Fürsten. Es soll das wichtigere sein.«

XII.

Monatelang ging im Wildpark alles im gemessenen Geleise fort. Schon begann der Herbst die Blätter zu röten.

Das Gleichmaß der geistlosen Handarbeit lastete zuletzt schwer auf dem ehemaligen Kanzler; doch gewöhnte er sich daran und gewöhnte sich an die Komödie der Dienstbarkeit, die er spielen mußte, ohne zu ahnen, daß Martin diese Komödie doppelt spielte. Sein Haß gegen Frau von Leuwarden hatte sich in stille Verehrung ihrer Person verwandelt, obgleich er ihre Ansprüche nach wie vor als verkehrt und unheilvoll ansah; sein Urteil über des Markgrafen kuriose Lebens- und Regierungsweise war duldsamer geworden. Merkte er doch, daß er dieser kurlosen Herrscherpraxis eine mildere Strafe zu danken hatte, als sie ihm anderswo von einem standes- und stilgemäßeren Fürsten im gleichen Falle wahrscheinlich zuteil geworden wäre.

Übrigens hatte sich bei den beiden Hausknechten allmählich eine gewisse Trägheit im Tagewerke eingeschlichen. Martin insbesondere legte bei Tag gar häufig die Hände in den Schoß und träumte, während seine Lampe nachts viel länger brannte als vorher.

Eleonore kam sehr oft, blieb aber meist nur kurze Zeit beim Vater, um dann auf großen Umwegen durch den Park nach dem Hause des Aufsehers zurückzukehren. Die geduldige Frau von Gronau mußte oft entsetzlich lange warten. So häufige Spaziergänge in der Waldluft konnten dem Mädchen nur gesund sein, und doch sah sie bleicher aus als je zuvor.

Auch bemerkte Herr von Staffel den immer regelmäßigeren Besuch des nächtlichen Reiters beim Parkaufseher. In einer hellen Mondnacht hatte er ihn erkannt und seine längst gehegte Ahnung bestätigt gefunden: es war der Markgraf selber.

Da schlug eines Tages ein gewaltiger Donnerstreich aus blauer Luft in den langweiligen Frieden dieses Daseins.

Die beiden Hausknechte hatten am Kanal im Walde gearbeitet und saßen unter einer Eiche, ihr mitgebrachtes kaltes Mittagsbrot auf dem Rasen ausbreitend, da ergriff Behaim das Wort und sprach:

»Freund Jakob! Ich habe eine große Bitte an Euch und will rundheraus reden ohne Umschweife. Ich liebe Eure Tochter, und Eure Tochter liebt mich. Der Dienst hier ist so einsam. Zu dreien würde sich's besser hier leben als zu zweien. Ich bitte recht herzlich: sprecht Ja und Amen und gebt uns Euern väterlichen Segen!«

Herr von Staffel glaubte anfangs, der Mensch erlaube sich einen schlechten Witz, weil Eleonore so gar häufig komme, und verbat sich solche Kindereien; denn wenn es seine Tochter betreffe, verstehe er keinen Spaß.

Allein jener versicherte so ernsthaft, daß es ihm Ernst sei, daß er's wohl glauben mußte.

Da brach ihm aber der helle Zorn aus; er wurde auf einmal wieder ganz Kanzler und kanzelte den armen Martin wahrhaft vernichtend ab. Er machte ihm begreiflich, daß, wenn er, der Vater, auch gezwungen niedere Dienste leiste, seine Tochter doch immer ein adeliges Fräulein bleibe, die nie und nimmer einen Hausknecht heiraten könne.

»Und doch liebt Eure Tochter diesen Hausknecht und will ihn heiraten«, antwortete Behaim fest, und im selben Augenblicke trat Eleonore hinter der Eiche hervor und fiel ihrem Vater schluchzend um den Hals.

»Du hast gehört, was hier vorging?« fragte dieser. »Sei ruhig, Kind, ich werde dich schützen vor der Frechheit dieses wahnsinnigen Menschen!«

Aber zu seinem Entsetzen sprach Eleonore mit erstickter Stimme: »Ich – – liebe – – ihn! Vater – o vergib! – ich kann nicht anders!«

Der Alte war wie vom Donner gerührt. Er stieß sie hinweg – sie faßte Behaims Hand.

Da ging dem Vater ein Licht auf, – freilich ein Irrlicht.

»Jetzt durchschaue ich das Spiel!« rief er bebend, kaum der Sprache mächtig. »Dies ist die tiefste, die unmenschlichste Demütigung, welche der Markgraf mir auferlegt, grausamer in seiner Gnade als andere in ihrem Zorn! Weil ich seine Ehe eine Mißheirat nannte, darum soll meine Tochter eine noch viel ärgere Mißheirat schließen, und ich selbst soll den Segen dazu geben! Mit welchen Drohungen und Schreckbildern mag man dich gezwungen haben, armes Kind! Aber widerstehe standhaft gleich mir! Schickt mich ins Zuchthaus, Herr Markgraf, aber laßt meine Tochter frei, die Euch nichts zuleide getan!«

Dann wandte er sich bittend zu Behaim: »Ihr seid ein ehrlicher Mensch, Martin, ein guter Mensch. Ich bin Euch Dank schuldig: ich gebe Euch die Hälfte meines Vermögens – alles! – nur nicht die Hand meiner Tochter!« – und zu Eleonoren: »Sei aufrichtig! Diese Werbung ist nicht, was sie scheint, dein Wille ist nicht frei: enthülle mir das Geheimnis!«

»Ich darf nicht sprechen. Jetzt nicht.«

»So redet Ihr, Martin!«

»Ich will nicht sprechen und darf nicht sprechen von dem, was ein Geheimnis ist. Der freie Bund unserer Liebe aber ist so wahr und klar wie die Sonne dort oben am Himmel.«

»Nun gut!« rief der Vater. »So ist im Augenblick nichts Weiteres zu machen. Eleonore, geh nach Hause und bleibe fern, ich befehle es dir – oder ich bitte dich, wenn ich nicht befehlen darf.«

Unter Tränen gehorchte Eleonore.

Hätte die furchtbare Aufregung des Alten Auge nicht verdunkelt, so würde er aus den Blicken, mit welchen sie von Martin Abschied nahm, doch vielleicht den wahren Schlüssel des Rätsels erraten haben.

Als sie gegangen, griff er wieder zur Schaufel und arbeitete mit so grimmigem Eifer weiter, als wolle er heute noch den ganzen Kanal allein ausgraben. Auch Martin ließ das Essen stehen und nahm die Schaufel zur Hand.

So standen sie beide nebeneinander und gruben den ganzen Nachmittag, ohne sich einen Blick zu gönnen oder ein Wort zu reden.

XIII

In der folgenden Nacht lauerte Herr von Staffel am Kammerfenster, ob der Reiter heute nicht wieder komme.

Er kam – und es war der Markgraf. Behaim war schon vorher zum Parkaufseher gegangen.

Staffel eilte nun gleichfalls dorthin.

An der Türe wollte ihm der alte Jäger den Eintritt wehren. Es kam zum lauten Wortwechsel.

Da rief eine Stimme von innen: »Laßt den Mann herein!« – es war des Markgrafen Stimme.

Staffel trat in das kleine Zimmer. Zu seinem Staunen sah er da Martin neben dem Fürsten an einem Tische sitzen, der mit Briefen und Pergamenten bedeckt war.

Er bat um Verzeihung, daß er sich hier eingedrängt: aber das Herz des Vaters gebe ihm den Mut. Dann erzählte er die Geschichte von Martins Werbung und beschwor den Fürsten, daß er diese äußerste Strafe und Demütigung von ihm nehmen, daß er den Fehltritt des Vaters nicht durch das Unglück der schuldlosen Tochter strafen möge.

Der Markgraf fragte Behaim, ob er aus eigenem Antrieb oder auf fremden Befehl um die Hand Eleonorens geworben habe, und dieser berichtete, daß niemand ihn dazu getrieben als sein eigen Herz und daß Eleonore das gleiche bekennen würde.

»Da hört Ihr, Staffel, daß meine Strafjustiz mit dieser Liebesgeschichte nichts zu schaffen hat!« rief der Fürst. »Und warum wollet Ihr nun diesem braven Manne, dem Ihr Dank schuldet, die Hand Eurer Tochter verweigern?«

Herr von Staffel meinte, Martin sei freilich ein braver Mann gewesen bis auf diese seine letzte Schlechtigkeit. Denn er hätte den Unterschied des Standes bedenken müssen und das Mädchen nicht berücken dürfen.

»Wie?« fuhr der Markgraf auf, »Ihr seid ein simpler ›Herr von‹ – meines Wissens etwas neuen Ursprungs –, und dieser Martin ist ein gelernter Handwerker von der ehrsamen Zunft der Geigenmacher; – ich bin Reichsfürst, und meine Gemahlin ist die Tochter eines bürgerlichen Kapitäns. Ich glaube fast, der Sprung war größer bei mir, als er da bei Euch wäre.«

»Verzeiht, gnädiger Fürst«, entgegnete Staffel. »Mann und Frau ist zweierlei, und der Mann macht das Haus. Ihr würdet eine Prinzessin auch nicht an einen bürgerlichen Kapitän verheiraten.«

»Da habt Ihr recht, Staffel. Ich muß schon anderswie Hilfe schaffen. Meine Kanzlerstelle ist vakant. So wollen wir denn diesen Hausknecht zu unserem Kanzler machen. Genügt Euch das?«

»Durchlauchtigster Herr! Ihr könnt alles; allein einen Hausknecht zum Kanzler machen, das könnt Ihr doch nicht, – um des eigenen Landes willen nicht. Es wäre ein Skandal vor dem ganzen Reich und allen Fürsten. Ein Kanzler muß ein rechtskundiger Mann sein, und wer eine Geige zusammenleimen kann, der kann darum noch lange keine Markgrafschaft zusammenleimen.« So sprach der ehemalige Kanzler mit wachsendem Mute.

Der Markgraf wandte sich an seinen Schützling: »Hat Er die Rechte studiert, Martin?«

»Jawohl, gnädigster Herr, in Leipzig.«

»In Leipzig«, wiederholte der Markgraf, »wo sich eine treffliche Juristenfakultät findet – keine Esel, wie ich früher einmal irrtümlich sagte; und die Leipziger Juristen haben mir das schätzbare Gutachten geschrieben, welches mich dieser Martin erst richtig verstehen lehrte. Denn Ihr, Staffel, laset nur die erste Hälfte, in der zweiten Hälfte aber steht bewiesen, daß, obgleich Johanna nicht von den Grafen von Leuwarden stamme, unsere Ehe dennoch ebenbürtig sei, da ihr als der vornehm bürgerlichen Tochter eines Offiziers zur See Nobilitätsrechte zuständen nach den Reichstagsabschieden wie nach allen gemeinen Rechten. Die Helmstedter Fakultät aber hat auf Euer geheimes Befragen diesen Standpunkt noch viel schlagender erwiesen und gezeigt, daß sich ›die deutschen Könige und Fürsten in der guten alten Zeit bei ihrer ehelichen Liebe niemals die Hände hätten binden lassen‹. Das nenne ich eine gute Fakultät und eine gute Zeit! Sie droht zu verschwinden; ich aber halte sie fest – für mich. Und auf Grund dieser Gutachten, die Ihr unterschlugt, hat Martin von hier aus die Sache in Wien eingefädelt, und wir haben beim Kaiser gewonnen! Bei Tag arbeitete dieser Martin wie ein Hausknecht, bei Nacht widmete er sich der Wissenschaft, was sicherem Vernehmen nach auch andere deutsche Gelehrte tun sollen. Und nun wollte ich, Martin Schwarz wäre wirklich nichts weiter wie ein Geigenmacher; ich hätte dann eine rechte Freude, Euch sagen zu können, daß ehrlicher Mutterwitz mehr erreicht als alle Gelehrsamkeit und staatskünstlerische Spitzbubenpraktiken. Aber leider ist dieser Martin, der Marquard heißt, gar kein Geigenmacher, schreibt sich auch nicht Schwarz, sondern Behaim, aus dem alten Nürnberger Hause, ist Doktor der beiden Rechte. Wollt Ihr den Mann zu Eurem Schwiegersohne?«

Mit etwas gemischten Gefühlen gab Jakob von Staffel dem jungen Behaim die Hand und sprach: »In Gottes Namen – ja!«

Der Markgraf rief fröhlich: »Morgen fahren wir mit unserer Ehefrau, der Markgräfin, heraus und mit unserem Sohn, dem Erbprinzen, und mit Eurer Tochter und etlichen Zeugen. Dann wollen wir drüben im Jagdhaus Verlöbnis halten. Aber ihr beiden müßt dann fort aus diesem Hause; ihr habt zu langsam gearbeitet, andere müssen schleunigst nachhelfen, daß wir vor dem ersten Schnee noch des jungen Kanzlers Hochzeit feiern können. Sie soll hier gefeiert werden, Herr von Staffel, damit die neugierige Stadt das Schauspiel nicht zu sehen kriegt. Und dann kann Euer Schwiegersohn in das schöne Kanzlerhaus ziehen. Ihr aber wählet vielleicht eines Eurer entfernteren Güter zum Ruhesitz. Doch wollt Ihr mich und die Frau Markgräfin in Jahr und Tag einmal besuchen, dann sollt Ihr willkommen sein.«

Im Übermaß des Glückes sagte Marquard Behaim dem Fürsten seinen Dank.

Dieser aber unterbrach ihn: »Ich weiß alles, was Ihr sagen wollt, Herr Kanzler. Übrigens habt Ihr auch diesmal wirklich wieder das Gescheiteste im Wald getan. Ihr habt mir hier im Walde den schönsten Prozeß gewonnen und Euch selbst die schönste Frau. Nun freue ich mich recht darauf, Eure Waldweisheit weiter zu benützen. Könntet Ihr dann nur auch Eure philosophische Geheimkunst auf mich übertragen, kraft deren Ihr erreicht, was Ihr wollt, weil Ihr Euch einbildet, das Erwünschte bereits erreicht zu haben!« Marquard Behaim erwiderte: »Übertragen läßt sich diese Kunst nicht, weder durch eine magische Weihe noch durch überzeugende Belehrung. Das Talent dazu muß angeboren sein, mehr noch wie beladen übrigen freien Künsten. Allein mancher besitzt ein solches Talent und weiß es selber nicht: der schlummernde Genius muß dann geweckt werden, und dies geschieht durch die ansteckende Kraft des erfolggekrönten Beispiels. Scharlach und Blattern sind nicht halb so ansteckend wie das siegesgewisse Streben nach Erfolg. Der Kanzler will sich alle Mühe geben, seinen durchlauchtigsten Fürsten mit diesem Beispiele anzustecken. Mehr kann ich nicht versprechen. Scharlach und Blattern sind Kinderkrankheiten: vielleicht nennt es mancher Griesgram auch eine Kinderkrankheit, daß ich mir einbilde, bereits zu besitzen, was ich erst erringen will, damit ich's desto sicherer erringe. Ich bestreite aber, daß dies eine Krankheit sei; es ist vielmehr die Folge überströmender Gesundheitsfülle der Jugend. Darum müssen sich Eure Durchlaucht beeilen, Ihr schlummerndes Talent zu wecken. Denn man sagt, mit dem Alter versiege Talent und Kunst hier wie anderswo, und während der Jüngling wettet und wagt, weil er die köstlichsten Güter im Geiste vorwegnimmt, verzagt im Gegenteil der müde alte Mann, weil er gar nicht mehr zu fassen vermag, welche längst erworbenen Schätze in der Tat sein eigen sind.«


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