Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Zweiter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Die rechte Mutter

1863

Neben dem alten Grafenschlosse lag die Schloßmühle. Sie galt eine Goldgrube, obgleich sie nicht freies Eigentum des Müllers war, sondern dem regierenden Grafen gehörte, dessen Vorfahr dieselbe vor grauer Zeit an einen Vorfahren des Müllers als Erblehen übertragen hatte. Das Lehen ging aber nur auf die Söhne über nach dem Rechte der Erstgeburt, und wenn einmal keine männliche Nachkommenschaft mehr vorhanden war, so fiel die fette Mühle wieder an den Grafen heim. Die Gülten und Fronden, welche auf dieser Erbleihmühle ruhten, waren klein, die Rechte und Nutzungen groß. Vor allem besaß sie ein weitgestecktes Bannrecht; alle Bauern der Umgegend mußten ihr Korn gerade auf diese Mühle bringen und durften es bei schwerer Strafe nicht zu einem anderen Müller verschleppen. Das Werkholz zum Mühlwerke durfte sich der Erbleihmüller unentgeltlich aus den gräflichen Wäldern holen, und wenn an Haus oder Stall ein Bauschaden entstand, dessen Reparatur über drei Gulden kostete, so mußte der Graf denselben flicken lassen; kleinere Schäden fielen dem Müller zu. Derlei kleine Schäden kamen aber gar nicht vor, denn wo sich ja ein solcher zeigte, da ließ man ihn stehen, bis er recht ausgewachsen war, oder man gab ihm auch einen kräftigen Puff aus freier Hand, daß er augenblicklich über drei Gulden groß wurde.

Kein Wunder, daß die Müllersfamilie ein so vortreffliches Erblehen gern in alle Ewigkeit behalten hätte und daß der Schloßmüller sich allezeit frühe verheiratete und so besorgt der Geburt eines Sohnes entgegensah wie nur irgendein adliger Herr.

Dem Müller Kurt, welcher sich im Jahre 1634 verheiratet hatte, ward freilich diese Zeit des Wartens etwas lang gemacht, denn er lebte zwölf Jahre in kinderloser Ehe. Endlich wurde ihm aber doch ein Sohn geboren, und zwar am 9. Oktober 1646. Der Jubel würde hellaut gewesen sein, wäre die Zeit nicht so schlecht gewesen. Die großen Plagen, Krieg, Hungersnot und Pestilenz, zogen selbdreie Arm in Arm durchs Land, und bei dem Ruin des gegenwärtigen Geschlechtes dachte man wenig an Erblehen für das künftige. Vierzehn Tage nach der Geburt des Kindes belagerten die Kaiserlichen das Städtchen, und die Mutter, ohnedies gar schwach und elend, starb vor Schrecken in einer Nacht, wo die Belagerer Stall und Scheune der Schloßmühle in Brand schossen. Da man einen Sturm befürchtete, so wurde in den nächsten Tagen alles wehrlose Volk, Greise, Weiber und Kinder, aus der Stadt geschafft; denn noch war Flucht möglich.

Der Müller mußte sich von seinem Kinde trennen. Es bildeten nämlich die sämtlichen waffenfähigen Männer der Stadt eine Schützengilde, die aber damals nicht zum Paradieren und Scheibenschießen, sondern zum wirklichen Kampf die Büchse trug und mithelfen mußte, die Mauern zu verteidigen. So blieb denn auch der Müller als Schütze zurück und übergab das Kind in Gottes Namen einer altbefreundeten Nachbarsfrau, der Sibylle Beck, die gleichfalls ein Büblein von nur drei Wochen hatte, aber als junge, starke Person schon wieder reisefähig war. Ihr Mann, der Krämer, mußte ebenfalls unter den Waffen zu Hause bleiben.

Was man befürchtet hatte, geschah: die Stadt ward im Sturme genommen und nach damaligem Kriegsrecht drei Stunden lang geplündert. Der Krämer wurde bei der Plünderung niedergehauen, der Müller entkam. Er irrte wochenlang in der Gegend umher und wagte sich erst wieder zu seiner Mühle zurück, als der Feind abgezogen und der Kriegslärm fernhin verhallt war. Die Stadt sollte in diesem Kriege keinen Kampf mehr sehen, und so baute denn der Müller Stall und Scheune auf des Lehnsherren Kosten wieder auf und war wieder zu leidlichem Behagen gekommen, als die Glocken der Stadtkirche im Spätherbst 1648, genau zwei Jahre nach jenen Schreckenstagen, zum Dankgottesdienste für den Westfälischen Frieden läuteten.

Von Frau Sibylle Beck hatte man lange Zeit nichts gehört, und der Müller gab sich vergebens alle Mühe, Nachricht von dem Schicksale seines Kindes zu erhalten. Die Schar der Flüchtlinge war nämlich zwar den Belagerern glücklich entronnen, aber schon etliche Stunden vor der Stadt fiel sie unter räuberische Nachzüglerbanden, ward ausgeplündert und zersprengt. Ein Teil der hilflosen Leute ging zugrunde, andere kehrten bald wieder heim in die verödete Stadt, nicht wenige aber wurden von den Strudeln des Krieges immer weiter fortgetrieben. Zu den letzteren gehörte auch die Krämersfrau mit den zwei Kindern; sie galt bald für völlig verschollen.

Nach Ablauf des Trauerjahres heiratete der Müller wieder, und zwar eine junge Witwe. Da er seinen Sohn schon für verloren gab, so war er zu dieser Heirat geschritten, um wieder einen Sohn zu erzielen und so jedenfalls das Erblehen bei der Familie zu erhalten, und er nahm gerade deshalb die Witwe, welche schon einen Buben hatte, weil er's für wahrscheinlich hielt, daß sie nun auch noch einen kriegen könne. Allein dem vorsichtigsten Manne spielt das Schicksal am liebsten einen Possen: die neue Müllerin kam zweimal mit Zwillingen nieder, und beide Male waren es zwei Mädchen.

Inzwischen verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, die Sibylle Beck sei da und dort im Sächsischen gesehen worden und ernähre sich mit ihrem Kinde durch einen Hausierhandel. Und einige wollten wissen, dieses Kind sei das Söhnlein des Müllers, das Kind der Krämerin sei gestorben; andere behaupteten das Umgekehrte.

Der Müller erneuerte hierauf seine Nachforschungen; da erschien unerwartet die Sibylle Beck selber wieder in der Stadt. Sie hatte den Tod ihres Mannes und den Verlust all ihrer Habe durch die Plünderung bald nach jenen Vorfällen erfahren; wie sie aber immer für eine ehrgeizige Frau galt, so wollte sie jetzt auch nicht als Bettlerin zurückkehren, sondern ging nicht eher heim, als bis sie durch einen kleinen Hausierhandel die bescheidene Grundlage selbständigen Erwerbes neu gewonnen hatte. Mit dem wenigen Gelde, welches sie bei der Flucht mitgenommen und den Augen der raubenden Nachzügler glücklich zu verbergen gewußt, begann sie diesen Handel.

Sibyllens erster Gang war zu dem Nachbarn, dem Schloßmüller. Sie erstaunte gewaltig, als dieser nach seinem Kinde fragte, und erzählte dann, das Kind sei schon kurze Zeit nach der Flucht auf einem kaum zwölf Stunden entfernten Dorfe gestorben; der arme Wurm sei zu elend gewesen für alle die Last von Hunger, Nässe und Kälte, welche er in jenen Greueltagen zu tragen gehabt. Übrigens habe sie ja den Wirt jenes Dorfes gebeten, daß er die Nachricht von dem Tode des Kindes dem Müller zur Stadt hinübersagen lasse. Allein der Wirt wurde bald darauf gleichfalls verjagt, und so unterblieb diese Botschaft. Wer kümmerte sich damals auch viel um den Tod eines dreiwöchigen Kindes! Sibyllens Kind war am Leben geblieben. Der Müller hörte diesen Bericht gelassen an und zweifelte nicht, daß er wahr sei.

Sibylle wohnte nun in der Stadt und fristete sich mit großem Fleiße ein ehrliches, aber kümmerliches Dasein. Milde Gaben, die man ihr anfangs wohl gereicht hätte, verschmähte sie, und da sie für ein stolzes, in sich verschlossenes, ehrgeiziges Weib galt, so verlor sie bald die wenigen Freunde wieder, welche ihr anfangs das unverschuldete Unglück gewonnen hatte. Einem ehrgeizigen Menschen bereitet es schon Scham, daß er überhaupt ins Unglück gekommen ist, wenn auch ganz ohne Schuld; er will eben, daß sein Glücksstern geradeso hell und heller leuchte wie anderer Leute. So schämte sich auch Sibylle, daß ihr Mann erschlagen und ihr Haus geplündert worden war, während sie sich der dadurch bedingten Armut und niedrigen Arbeit gar nicht schämte. Ihr einziger Stolz aber war, daß ihr Bube am Leben geblieben, und ihr höchster Ehrgeiz, denselben zu einem recht prächtigen Burschen großzuziehen. Obgleich sie nun jene Gedanken nicht klar aussprach, ja vielleicht nicht einmal ganz klar dachte, so sprangen dieselben doch überall aus ihren Reden und Handlungen merkbar hervor, und der große Haufe, dem alles Ungewöhnliche verdächtig ist, flüsterte sich zu, das angebliche Kind der Krämerin sei eigentlich des Müllers Kind. Die Frau habe es für sich behalten, weil es ihr Stolz nicht eingestehen könne, daß sie alles verloren habe, den Mann und das Vermögen und das einzige Kind obendrein.

Dem Müller kamen diese Gerüchte natürlich auch zu Ohren, und er setzte Sibyllen wiederholt und hart zu, daß sie ihm die Wahrheit bekenne. Allein Sibylle war höchst entrüstet über den Verdacht; sie schwur bei Gott und ihrer Seelen Seligkeit, der Bube sei ihr leibliches Kind, und ging dem Müller wie den anderen Leuten von nun an um so trotziger und mißtrauischer aus dem Wege. Der Müller hatte zwar kein weiteres Zeugnis als das allgemeine Gerede, allein er sprach doch schon manchmal zu seiner Frau: »Mit dem angeblichen Kinde der Krämerin ist es nicht ganz richtig!« Die Frau hingegen, die immer noch auf einen eigenen Sohn hoffte, schlug ihm dann die Skrupel wieder aus dem Sinn und war vielleicht die einzige Seele in der Stadt, die für Sibylle entschieden Partei nahm.

Nun traf aber die arme Sibylle ein neues schweres Unglück. Ihr Sohn, zu einem stattlichen fünfjährigen Knaben herangewachsen, bekam entzündete Augen, die immer röter wurden und immer schmerzhafter brannten, und zuletzt zog sich dem Jungen ein Schleier vor den Blick, daß er die Gegenstände nur noch wie im trübsten Nebel zu erkennen vermochte. Auch diese schwache Sehkraft schwand dann mehr und mehr; es drohte in kurzem völlige Erblindung. Ein Blinder war aber damals ein ausgestoßener Mann, für den es in der Jugend keine Schule gab, keinen Beruf im reiferen Alter, und hatte der arme Verlassene vollends kein Vermögen, so blieb ihm gar nichts übrig, als betteln zu gehen. Mit Entsetzen erkannte Sibylle diese unabwendbare Zukunft ihres Sohnes. Sie betete nächtelang inbrünstig zu Gott, daß er ihr das Kind wieder sehend machen möge, aber es half nichts: dem Knaben ward's immer schwärzer vor den Augen.

Da hörte sie in ihrer höchsten Not, daß ein Arzt die Frankfurter Messe bezogen habe, der wunderbare Kuren an kranken Augen vollbringe, der hochberühmte Doktor Strambelius von Gunzenheim. Sie raffte all ihre kleine Barschaft zusammen, verkaufte ihren Patenlöffel und ihren Ehering als die einzigen Wertgegenstände, die sie noch besaß, und machte sich mit dem Kinde auf den weiten Weg nach Frankfurt. Dort angekommen, fand sie leicht die Bretterbude des berühmten Doktors in der zweiten Reihe neben den Waffelbäckern auf dem Römerberg; es hielt ihr aber schwer, sich durch den Knäuel hilfesuchender Menschen zu drängen, welche den Eingang belagerten. Doch gelangte sie auch hier mit Geduld zuletzt ans Ziel. Der Doktor besichtigte die Augen und erklärte, es habe sich ein dünnes Fell über dieselben gezogen, das müsse er durchschneiden, dann werde der Knabe wieder geradeso gut sehen wie je zuvor. Der Erfolg sei ganz gewiß. Er habe die Operation schon hundertmal vorgenommen, sie sei aber sehr mühselig; darum könne er sie nicht machen, wenn ihm die Frau nicht vorher fünfundzwanzig Gulden auf den Tisch lege; nach der Operation gebührten ihm dann noch einmal fünfundzwanzig. Sibylle wurde totenblaß im Gesichte und dann wieder hochrot und gestand dem Doktor unter Tränen, daß all ihr Hab und Gut zur Zeit nur in vierzehn Gulden bestehe und auch die habe sie nur mit größter Not zusammengebracht. Doktor Strambelius tröstete sie aufs freundlichste und sprach, er sei allezeit mild gegen Arme und richte sich mit dem Honorar gerne um Gottes willen nach den Umständen seiner Patienten. Wenn sie ihm daher gleich bar sieben Gulden auf den Tisch lege und morgen nach vollbrachtem Werk die anderen sieben, so wolle er den Knaben ganz ebensogut operieren, als ob er die gebührenden zweimal fünfundzwanzig erhalten habe.

Sibylle bezahlte die sieben Gulden. Am folgenden Tage griff der Doktor nach manchen qualvollen Vorbereitungen wohlgemut zum Messer, sagte mit höchster Zuversicht: »In acht Tagen wird der Junge kuriert sein« und vollführte dann den Schnitt. Die Schmerzen des Kindes waren groß, aber die Schmerzen der Mutter noch viel größer. Als nun die Augen verbunden waren und Sibylle den Doktor zitternd fragte, ob alles wohl gelungen sei, erwiderte derselbe salbungsvoll: »Das stehet in Gottes Hand!« Sie legte die anderen sieben Gulden auf den Tisch und trug das Kind in ihren Armen zur Herberge zurück.

Dort, aus der ersten Betäubung wieder erwachend, dachte sie über die beiden Worte des Doktors nach und erschrak darüber. Die Worte schienen ihr nicht richtig gestellt, und sie meinte in ihrem einfältigen Sinne, wenn der Doktor umgekehrt vor dem Schnitt die Sache in Gottes Hand empfohlen, nach demselben aber die rasche Heilung zuversichtlich verkündet hätte, dann sei es besser gewesen.

In der Herberge mußte Sibylle noch acht Tage bleiben und den Knaben ruhig im Dunkeln halten, so hatte es Doktor Strambelius verordnet. Sie lebte inzwischen von des Herbergsvaters und einiger Mitgäste Barmherzigkeit, die ihr auch einen kleinen Reisepfennig zusammenschossen. Aber es ward dem armen Weib schwerer, dieses Almosen anzunehmen, als vorher dem Doktor all ihr Vermögen auf den Tisch zu legen. Am achten Tage nahm der Doktor dem Knaben die Binde herab: er sah jetzt gar nichts mehr. Der Doktor tröstete die verzweifelnde Mutter und sagte ihr, sie solle die Augen gut verbinden und möglichst langsam und schonend wieder nach Hause fahren; in mindestens ein paar Wochen werde das Gesicht wiederkommen, der langsame Verlauf sei eigentlich der allerbeste. Ein mit Waren heimziehender Meßfuhrmann des Städtleins nahm die beiden auf seinem Wagen mit.

Sibylle harrte noch ein paar Wochen, allein der Junge war und blieb nun stockblind. Da faßte sie sich endlich ein Herz und führte ihn zu dem Leibarzte des Grafen, einem geschickten, aber groben Manne, der darum bei den Bürgern wenig beliebt war. Dieser untersuchte die Augen lange und sorgsam und sagte dann der Krämerin derb heraus, sie sei eine eigensinnige, verblendete Frau, die jetzt für ihren Eigensinn in dem Kinde gestraft werde. Das Augenübel sei gar nicht so schlimm und von einem tüchtigen Arzte recht wohl zu heben gewesen; der Doktor Strambelius aber sei ein niederträchtiger Pfuscher, der dem Knaben geradezu die Augen ausgestochen habe, und jetzt müsse dieser freilich stockblind bleiben sein Leben lang.

Die Witwe brach bei diesen harten Worten besinnungslos zusammen und wußte später selber nicht mehr, wie und wo sie wieder zu klarem Verstande gekommen war. Als sie sich mit dem Knaben allein zu Hause befand, fluchte sie in lautloser Verzweiflung dem Wunderdoktor und fluchte sich selbst und bedeckte dann wieder das Kind mit Liebkosungen und betete zu Gott, daß er sie mit aller ersinnlichen Qual strafen möge, nur möge er ein Wunder wirken und dem unschuldigen Kinde die Augen wiedergeben. Aber es geschah kein Wunder, und der Knabe blieb blind.

Der ganze Vorgang samt dem Ausspruche des Leibarztes wurde bald stadtbekannt, und man tadelte einmütig die unvernünftige Frau, obgleich die meisten, welche also den Stab über Sibylle brachen, im ähnlichen Falle gewiß nicht weiser gewesen und gleichfalls eher zehn Meilen weit zu einem Quacksalber gelaufen wären als zehn Schritt zu einem ordentlichen Arzte. Besonders heftig aber wirkte die Geschichte auf den Schloßmüller. Das allgemeine Mitleid, welches sich dem blinden Knaben zuwandte, fachte in ihm wieder den hellen Glauben auf, daß der Unglückliche dennoch sein Kind sei, daß er sich des Knaben annehmen, daß er ihn dem törichten Weibe entreißen und nach Menschenkraft als der rechte Vater wiedergutmachen müsse, was die unrechte Mutter verdorben habe. Und oftmals sprach er sich vor: das sei die Sündenstrafe für die Frau, daß sie das Kind, welches sie mit dämonischem Wahnsinn liebe, in ihrer Liebe habe zugrunde richten müssen, das sei ein Gottesurteil, durch welches der Herr selber rede, weil jeder menschliche Zeuge verstumme, und also den Diebstahl des Kindes ans Licht bringe. Der Müller vergaß, von rein menschlichen Gefühlen überwältigt, diesmal sogar ganz die Erbleihfrage, die ihm sonst bei dem Streite über den Sohn immer im Vordergrund gestanden.

Allein als die Gemüter wieder etwas kühler geworden waren und die erneuten Bedenken des Müllers über des Kindes Herkunft nun auch wieder ihren Lauf durch die Stadt machten, verband man sogar den Fall wegen der Erbleihe mit dem Unglücksfall der Erblindung. Einige behaupteten, selbst wenn jetzt erwiesen werde, daß der Blinde des Müllers Sohn sei, so könne das Lehen doch nicht auf ihn übergehen. Denn ein blinder Knabe sei zwar ganz gewiß ein Sohn, aber ebenso gewiß könne er niemals ein Müller werden, und beides werde zur Vererbung des Lehens erfordert. Andere hingegen erwiderten, wenn der Blinde auch selber keinen Müller abgebe, so vermöge er doch vielleicht einmal noch ein halbes Dutzend sehender Müller zu erzeugen, und sowenig das Recht für die Familie erlösche, wenn etwa bloß ein minderjähriger Erbe vorhanden sei, der ja auch auf Jahre hinaus nicht selber mahlen könne, sowenig erlösche es für die Nachkommen, wenn einmal ein Blinder mit unterlaufe. Der Streit war einfältig genug; allein er würde die Leute ja nicht ergötzt und wahlverwandt gefesselt haben, wenn er nicht einfältig gewesen wäre, und jedenfalls wirkte er bedeutend mit, den Müller in dem Glauben zu bestärken, daß der Blinde sein Sohn sei und daß er keine Mühe und kein Opfer scheuen dürfe, das gestohlene Kind in aller Form wiederzubekommen.

Er ging zur Krämerin, bat, schmeichelte, beschwor sie, bot ihr schweres Geld; allein das verfing alles nicht. Dann drohte er, geriet in Zorn und Wut und beschuldigte das Weib in viel stärkeren Worten als der Leibarzt, daß sie mitschuldig sei an des Knaben Blindheit, ja daß hier recht eigentlich ein Gottesurteil an ihr offenbar geworden wegen des gestohlenen Kindes. Sibylle, die bei den Worten des Arztes zusammengebrochen, hörte die viel härtere Rede des Müllers mit eisiger Ruhe, sagte, was sie an dem Kinde verschuldet, das habe sie vor sich und unserem Herrgott allein zu verantworten, und ließ sich darauf keine Silbe mehr herauspressen.

Weil ihr aber der Aufenthalt in der Stadt täglich unerträglicher wurde und sie zudem fürchtete, der Müller möge ihr, wie er gedroht, den Knaben mit Gewalt wegnehmen, so zog sie zu einem Vetter, der ein zwei Stunden entferntes, höchst einsam gelegenes kleines Bauerngut besaß. Sie verdingte sich hier als Magd, um kein geschenktes Brot zu essen, und erklärte sich zu jeder härtesten Arbeit bereit, wenn der Vetter mit ihr das Abendmahl auf den Schwur nehmen wolle, den blinden Knaben gegen jeden etwaigen Raubversuch des Müllers zu verteidigen. Der Bauer, welcher ohnedies als Vetter zu seiner Base hielt und den Müller von alters her haßte, tat den Schwur, und er war ein Mann, dessen Mut und Faust man wohl fürchten durfte.

Auf dem abgelegenen Hof hatte Sibylle eine Zeitlang Ruhe und wurde von den Bauersleuten gut gehalten, nicht wie eine Magd, sondern wie eine Verwandte. Da sie sich schwer auch nur auf wenige Stunden von dem Knaben trennte, so vertraute ihr der Bauer im Sommer die Hut des Weideviehs. Wenn sie dann so im Schatten einer Eiche am Saume der sonnigen Grasmatte saß und der Knabe neben ihr, vergaß sie das vergangene Unglück und erfreute sich still des heimlichen Friedens der Gegenwart. Es war aber kein müßiges Träumen, sondern eine Arbeit ganz eigener Art, was ihr dann solch süße Selbstvergessenheit bot: sie unterrichtete das blinde Kind in allerlei nützlicher Kenntnis und prägte ihm tief ins Herz, was sie von Gott und seinem Worte wußte. Sibylle war nämlich lutherisch und also, wie sich's damals fast von selbst verstand, gehörig bibelfest. In die Schule konnte sie den Knaben nicht schicken, er hätte mit seinen blinden Augen dort wohl wenig genug gelernt; auch fürchtete sie, der Müller möge das Kind, wenn es zur Stadt komme, aufgreifen. Also machte sie selber den Schulmeister, während sie das Vieh hütete, und tat damit eigentlich nur nebeneinander, was der damalige Schulmeister des Städtchens nacheinander getan; denn er war vor seinem Eintritt ins Schulamt jahrelang Schweinehirt gewesen.

So verflossen still und friedlich drei Sommer und drei Winter, und über dem Streit um das Kind schien Gras gewachsen zu sein. Allein der Schein trog. Dem Müller rückte der Gedanke an den gestohlenen Knaben wieder näher, je ferner sich für ihn die Aussicht verlor, aus der zweiten Ehe noch einen Sohn zu erhalten, und als er wieder einmal von Freunden recht heftig aufgehetzt worden war gegen die Krämerfrau, zog er, gefolgt von mehreren handfesten Müllerknechten, mit Büchsen und Prügeln wohl bewehrt, nach dem einsamen Hofe, um den Knaben mit Gewalt zurückzuführen. Der Bauer aber und seine Knechte leisteten verzweifelten Widerstand, es kam vom Streite zur Schlägerei, und als der Müller seine Büchse auf den Bauern anlegte, schoß ihm dieser mit einem alten Reiterpistol in den Unterleib. Die Müllerknechte flohen und schleppten den Verwundeten für tot hinweg.

Dieses Ereignis, welches Sibyllen von ihrem bittersten Feinde zu befreien schien, brachte sie aber vielmehr wieder in die tiefste Not. Der Bauer, in der Angst, wegen Mord und Totschlag vorgefordert zu werden, ging sofort zur Stadt, berichtete dem Amtmanne den ganzen Hergang und wies nach, daß er nur aus äußerster Notwehr auf den Müller geschossen habe. Dieser aber genas wider Erwarten, obgleich ihm die Folgen der Wunde sein Leben lang nachhingen. Als er sich nämlich zu dem Auszug nach dem Hofe entschloß, war er so aufgeregt gewesen über sein Vorhaben, daß er den ganzen Tag nichts hatte essen können. Der Feldscherer erklärte dies für die Ursache der Rettung: die leeren, schlaffen Eingeweide waren der Kugel widerstandslos ausgewichen, und so hatte dieselbe keine edleren Teile verletzt. Sobald er sich nun wieder erholte, tat er möglichst rasch einen Gegenzug wider die von dem Bauern gegen ihn angeregte Klage auf Friedensbruch, indem er die Sibylle Beck wegen Unterschlagung seines Kindes gerichtlich belangte. Führte er den Beweis, daß sie ihm wirklich sein Kind genommen und trotz aller gütlichen Mittel dauernd vorenthalten habe, so war der verzweifelte letzte Versuch, den Knaben gewaltsam zurückzuholen, wenn auch nicht gerechtfertigt, so doch wenigstens in hohem Grade entschuldigt.

Hiermit war nun der alte Streit dann doch endlich den Advokaten in die Hand gegeben, was beide Teile bis dahin schon gar oft gedroht, aber auch immer wieder gefürchtet und vermieden hatten.

Vor allen Dingen lag es dem Müller ob, seine Ansprüche auf das Kind durch Beweise zu stützen. In Romanen werden diese Beweise gewöhnlich durch eine alte Narbe auf der Brust des Kindes oder durch ein Muttermal auf dem Rücken geliefert oder durch ein Amulett, welches die Mutter dem Neugeborenen um den Hals hängte und welches selbst nach dreißig Jahren immer noch am Halse hängt. Allein von alledem gab es bei dieser wirklichen Geschichte nichts. Die Freunde des Müllers behaupteten zwar, der Junge sei ja dem Müller aus dem Gesichte geschnitten und das sei auch ein Beweis, allein die Freunde der Krämerin sagten, nein, der Knabe sei vielmehr der Sibylle aus dem Gesichte geschnitten. Im Grunde sagt man das ja von jedem Kinde, und wenn die Eltern auch schön sind wie ein Bild und das Kind sieht aus wie ein kleiner Pavian.

In dem Dorfe, wo der angebliche Sohn des Müllers gestorben war, lebten aber noch Leute, die ein entscheidendes Zeugnis ablegen konnten. Ihre gerichtliche Aussage bestand wesentlich in folgendem:

Sibylle war allein mit den beiden Kindern, als das eine in der Scheune starb, wo sie Unterschlupf gefunden. Bald darauf aber kamen mehrere Frauen zu ihr und fanden sie in hellen Tränen bei der Leiche. Da sprach eine der Frauen tröstend: »Es sterben ja so viele Kinder, sie sind gut aufgehoben; ich habe sieben, die ich nicht ernähren kann, aber von mir will unser Herrgott niemals eines zu sich nehmen.« Hierauf fuhr die Krämerin zürnend in die Höhe, verwies ihr das Wort und sagte, wenn sie erst einmal ein Kind verloren habe, dann werde sie nicht mehr so sprechen, und rief dann zum öfteren: »O mein Kind, mein Kind! O hätte ich nur mein Kind wieder!« Die Umstehenden, lauter fremde Leute (denn die Mitbürgerinnen der Sibylle waren ja auf der Flucht zerstreut worden), glaubten darum nicht anders, als das tote Kind gehöre ihr. Auch andere versicherten, damals vernommen zu haben, wie die Krämerin den verstorbenen Knaben »ihr« Kind nannte. Überhaupt sei sie in einer Trauer und Verzweiflung über den Todesfall gewesen, die bei einem fremden Kinde unnatürlich und undenkbar sei. Erst mehrere Tage später bezeichnete sie das gestorbene Kind ausdrücklich als das anvertraute des Schloßmüllers.

Sibylle gestand zu, daß sie ungefähr so gesprochen haben möge, wie die Zeugen aussagten. Allein das anvertraute Kind sei zur Zeit doch auch »ihr« Kind gewesen, obgleich nicht ihr leibliches; selbst gemietete Ammen nennten ja oft genug das Kind, welches sie stillen, »ihr« Kind. Sie habe nun einmal um Gottes willen Mutterstelle an dem fremden Knaben übernommen gehabt, also habe sie ihn auch mit Mutterliebe gepflegt und mit Mutterschmerz beklagt. Diese zarte und edle Auffassung war den Richtern, den Söhnen einer rohen, stumpfen, verkommenen Zeit, geradezu unverständlich und unwahr. Zudem galt Sibylle allgemein als eine harte, kalte, männlich trotzige Frau, der man zwar die heftigste kalte Leidenschaft zutraute, nicht aber eine so überaus warme Empfindung.

Die Waage neigte sich schon stark zuungunsten der Beklagten, da entdeckte man ein schriftliches Zeugnis, welches ihr vollends den Hals zu brechen drohte. Der Müller hatte schon gleich bei seinen ersten Zweifeln an den Pfarrer jenes Dorfes geschrieben, weil der Name und Todestag des Kindes im Kirchenbuch mußte eingetragen sein. Allein das Kirchenbuch war in den letzten Kriegswirren versteckt und später nicht wiedergefunden worden. Jetzt aber, wo man auf amtlichen Befehl wiederholt und genauestens nachforschte, fand sich das Buch. Es enthielt auf den 6. November 1646 wörtlich folgenden Eintrag: » item: starb auch ein kleyn Kind, gehört einer frembden Kramersfrauen.« Durch diese Worte glaubte der Müller den Prozeß bereits gewonnen zu haben, und die Richter dachten kaum anders. Vergebens deutete Sibylle das Wort »gehört« jetzt wieder in dem uneigentlichen Sinne wie früher das Wort »mein Kind«, vergebens beteuerte sie, die Angabe sei nicht von ihr für das Kirchenbuch gemacht worden, der arme Kleine habe in dem allgemeinen Durcheinander ja nicht einmal ein christliches Begräbnis gehabt und kein Pfarrer habe sie über den Namen und Vater desselben gefragt.

Sibylle würde verloren haben, wenn sich nicht ihr Advokat das Kirchenbuch zu genauerer Einsicht ausgebeten hätte. Und nun ergab sich folgendes. Das Dorf hatte in jenen Schreckenstagen gar keinen Pfarrer mehr, der Schulmeister versah zur Not die laufenden Amtsgeschäfte. Aber auch dieser Mann war inzwischen längst gestorben. Der Eintrag war wie bei den anderen Sterbefällen von seiner Hand, allein er stand nicht in der fortlaufenden Zeile, sondern quer an den Rand geschrieben, und zwar mit einer anderen Tinte. Dazu war gegen alle Vorschrift nicht einmal der Name des Kindes beigefügt. Der Advokat folgerte nun hieraus, der Eintrag sei vom Schulmeister später und aus ungefährer Erinnerung gemacht, wahrscheinlich zu einer Zeit, wo Sibylle das Dorf schon wieder verlassen hatte, und so beweise er auch nichts weiter, als daß der Glaube damals im Dorfe verbreitet gewesen sei, das verstorbene Kind sei ein Sohn der fremden Krämersfrau.

Kaum hatte der Advokat solchergestalt den gefährlichen Schlag leidlich abgewehrt, so trat auch schon wieder ein anderer Zeuge gegen Sibylle auf: der Wirt jenes Dorfes. Sie hatte diesen nicht gleich anfangs, sondern erst acht Tage nach dem Tode des Kindes gebeten, die Nachricht an den Vater desselben, den Müller, durch Fuhrleute oder Reisende gelangen zu lassen. Es schien also auch hier wiederum bestätigt, daß sie anfangs ihr eigenes Kind beklagt, erst mehrere Tage nachher aber auf den Gedanken gekommen sei, das überlebende Kind des Müllers für ihr eigenes auszugeben und jenes totzusagen. Sie entgegnete: anfangs habe sie gehofft, alsbald zur Stadt heimkehren und dem Müller den genauesten Bericht mit eigenem Munde bringen zu können; erst als ihr die Rückkehr vereitelt und sie aus ihrer Zufluchtsstätte weiter in die Fremde getrieben worden sei, habe sie dem Wirte den ausdrücklichen Auftrag gegeben.

Allein aus welchem Grunde nahm sie denn überhaupt die Last auf sich, zu all ihrer Not und Armut auch noch ein fremdes Kind mit durchs Leben zu schleppen? Wollte sie's unserem Herrgott selber abdisputieren, daß er ihr Kind habe sterben lassen? Hatte sie sich im brennenden Schmerz über den Tod des eigenen Kindes so verzweifelt an das fremde geklammert, daß sie es lieber wider Recht behalten, als diesen letzten Trost und Ersatz von sich geben mochte? Freilich war auch damals ein Kind nicht in dem vollen Sinne eine Last für eine arme Witwe wie heutzutage. Ein Kind und namentlich ein Sohn war ein Kapital in dem entvölkerten Lande, und schon im kräftigeren Knabenalter konnte er Hilfe und Stütze der Mutter sein. Kinderraub war darum viel häufiger als heutzutage, Kindesmord viel seltener. Sibylle mochte den fremden Knaben immerhin aus Eigennutz behalten haben; als er erblindete, ward er ihr wohl schlechthin zur Last, doch nun verbot ihr Furcht, Trotz und Stolz zugleich, den begonnenen Frevel einzugestehen. Allein wenn man auch jedweden Tadel über Sibylle ausgoß, so konnte man ihr doch wenigstens Eigennutz nicht vorwerfen. Daher nahmen einige Männer milderen Urteiles endlich gar an, sie lebe wirklich des guten Glaubens, die rechte Mutter des fremden Kindes zu sein. Das gehäufte Elend hatte in dem fürchterlichen Kriege vielen Menschen derart die Sinne verwirrt, daß gar manchmal die Mutter ihr Kind, der Mann seine Frau weder mit dem Auge noch mit dem Herzen mehr zu erkennen vermochte. Die niedergeschmetterte Frau hatte die Kinder ausgetauscht, nicht in Wirklichkeit, sondern in der Einbildung ihres gestörten Gemütes, und diese fixe Idee hatte allmählich, wie es schien, in den nächsten Tagen nach dem Todesfall Wurzel gefaßt, dann aber ungebrochen und mit furchtbarer Widerstandskraft das Feld behauptet.

Wie man aber auch das Rätsel deuten mochte: die ganze Stadt sprach der unheimlichen Frau jedenfalls das Kind ab, und die Richter waren sehr geneigt, das gleiche zu tun, konnten aber zu keinem Schlusse kommen, da alle scheinbaren juristischen Beweise, welche man beiderseits vorgebracht, doch immer wieder, näher betrachtet, in bloße psychologische und moralische Wahrscheinlichkeitsgründe zerrannen.

So vergingen mehrere Jahre. Die arme Sibylle aber fühlte sich derart gefoltert von der rastlos neu herandrängenden Seelenpein des Prozesses, daß sie um einen jähen Tod würde zu Gott gefleht haben, wenn sie sich nicht für den blinden Knaben hätte erhalten wollen. Sie sah zuletzt in der Tat unheimlich aus, blaß und hager wie ein Gespenst, mit starren Augen, in welchen man lesen konnte, daß ihre Seele woanders war als ihr Blick. Sie mied alle Menschen, ging nur zur Stadt, wenn sie des Prozesses wegen mußte, und hielt den Knaben sorgsamer versteckt als je zuvor.

Inzwischen hatte derselbe sein dreizehntes Lebensjahr zurückgelegt. Ostern nahte heran. Da erschien eines Tages die Sibylle Beck beim Stadtpfarrer und wollte ihm den Knaben zur Konfirmation anmelden. Der Pfarrer erklärte, so geschwind gehe das nicht; der Knabe müsse zuvor einen ordentlichen Religionsunterricht erhalten, daß er die Prüfung vor der Gemeinde bestehen könne; sie möge ihn darum nur im Herbste wiederbringen und während des Winters pünktlich zur Konfirmandenstunde führen lassen, dann könne er übers Jahr zur Konfirmation reif sein. Sibylle aber bat den Pfarrer inständigst, daß er ihren Sohn doch nur sogleich prüfe und ausfrage, er könne den Katechismus und alles übrige wie Wasser. Aus Neugierde tat ihr der Pfarrer den Willen, und die Prüfung mußte wohl besonders gut ausgefallen sein, denn nachdem er stundenlang den Knaben vorgenommen, erklärte er ihn vollkommen befähigt zur Konfirmation. Doch schwieg er von der Sache gegen andere Leute, ging aber häufig hinaus auf den Bauernhof, um den Blinden noch insbesondere vorzubereiten. Die Witwe würde das Kind ja nur mit Todesangst so oft nach der Stadt geschickt haben.

So kam erst wenige Tage vor der feierlichen Handlung das Gerücht in Umlauf, der streitige Knabe solle konfirmiert werden. Es erregte großen Lärm bei der Bürgerschaft; viele meinten, man dürfe den Knaben gar nicht zur Konfirmation lassen, bevor das Gericht entschieden, als wessen Kind er zu konfirmieren sei. Der Pfarrer entgegnete, er konfirmiere den Knaben ja nicht auf sein Erblehen an der Schloßmühle, sondern auf sein Erblehen am Reiche Christi; was aber die irdischen Elternrechte betreffe, so halte er sich an den gegenwärtigen Bestand und greife dem späteren Urteile des Gerichtes in keiner Weise vor.

Am Tage der öffentlichen Prüfung, die eine Woche vor der Konfirmation abgehalten wird, waren alle Kirchenbänke dicht besetzt; der regierende Graf saß mit seiner ganzen Familie im herrschaftlichen Stuhle, und sogar der Schloßmüller, obgleich er wieder stark kränkelte, hatte sich zur Kirche führen lassen. Er müsse doch sehen, sagte er, wie sein Kind konfirmiert werde. Der blinde Knabe stand als der letzte in der Reihe der Konfirmanden; die Mutter hätte gern in seiner Nähe gesessen, aber man hatte sie hinweggedrängt bis hinter den fernsten Pfeiler.

Der Pfarrer begann seine Prüfung bei den obersten Schülern der Reihe nach. Da geschah es mitunter, daß einer oder der andere steckenblieb; aber der Pfarrer rief dann nur den untersten, den Blinden, auf, der wußte sogleich Bescheid und half den Sehenden wieder auf die rechten Wege. Als aber die Reihe an jenen kam, griff der Geistliche recht weit aus und fragte viel länger, schärfer und verfänglicher als bei allen anderen, ja er nahm noch einmal alle sechs Hauptstücke des lutherischen Katechismus vor, von den zehn Geboten bis zum Amt der Schlüssel und der Beichte. Der blinde Knabe hatte nicht bloß alle die vielen Sprüche und vorgeschriebenen Antworten bis aufs Tüpfelchen auswendig gelernt, sondern er wußte auch in so treuherziger Einfalt und so kindlich frommen Sinnes ganz frei von Gott und göttlichen Dingen zu reden, daß ein wahrer Aufruhr des Staunens und der Teilnahme durch alle Gemüter ging.

Da sagte der Pfarrer, nun müsse die Gemeinde auch wissen, wer den Knaben so fein unterwiesen habe; das sei kein anderer gewesen als dessen arme Mutter. Und er erzählte darauf von all den schweren Opfern, welche die Frau ihr Leben lang freudig dargebracht für das Kind, namentlich aber seit es blind geworden. Als sie aber fast verzweifelt sei darüber, daß der Knabe vielleicht durch ihre Mitschuld das Augenlicht ganz verloren, und vergebens zu Gott gefleht habe, daß er's ihm wiederschenken möge, da habe sie plötzlich wunderbaren Trost in dem Gedanken geschöpft, sie müsse nun das innere Auge des Kindes um so eifriger sehend machen, je dunkler die Nacht sei, welche das äußere bedecke. So habe denn Sibylle mitten unter Arbeit, Entbehrung und Herzeleid das blinde Kind sorgsamer erzogen als die meisten reichen Leute ihre sehenden Kinder und habe es zu gar mancherlei nützlicher Kenntnis geführt, vor allem aber zum Worte Gottes und zu einem christlichen Wandel. Und in dieser Pflichterfüllung echter Mutterliebe habe sie allein die Kraft gefunden, die ungeheure Seelenpein der letztvergangenen Jahre zu ertragen. Weil sie verzweifelt sei, sich vor den Menschen als des Kindes rechte Mutter auszuweisen, so habe sie wenigstens vor Gott sich ausweisen wollen als die rechte Mutter.

Die härtesten Herzen in der Gemeinde schmolzen bei diesen Worten; die Frauen weinten. Nur Sibylle stand regungslos wie eine Bildsäule im hintersten Winkel der Kirche an dem Pfeiler und blickte unter sich in das aufgeschlagene Gesangbuch; ein leises Zittern der Lippen verriet allein den Sturm der Gefühle, der durch ihre Seele ging.

Als nach dem Vaterunser das Schlußlied angestimmt wurde, ließ der Graf seinen Geheimerat aus dem adligen Stuhle in den herrschaftlichen heraufrufen und sagte zu ihm: »Ich will einen Machtspruch tun. Sibylle Beckin ist die rechte Mutter!« Der Geheimerat aber erwiderte: »Gnädiger Herr, das geht nicht an; der Prozeß schwebt noch, und das Recht muß seinen Lauf haben.« Der Graf blickte ungeduldig hin und her und sann und schwieg lange. Endlich sprach er: »Nun gut! Wenn ich den Prozeß nicht zerreißen darf, so kann ich doch so gut wie irgendeiner meiner Untertanen den streitenden Parteien einen Vergleich vorschlagen.« – »Das kann der gnädige Herr ohne Zweifel«, entgegnete der Geheimerat, »und wie mir scheint, wird der Vergleich jetzt leichter zu stiften sein als vor einer Stunde.« Bei diesen Worten deutete er gegen den Pfeiler hinüber: da stand der Müller neben der Witwe und hatte ihr die Hand gegeben.

Der Graf ließ die beiden nach dem Schlusse des Gottesdienstes in die Sakristei rufen. Dort sprach er zu ihnen: »Euer Prozeß wird in Ewigkeit nicht ausgefochten werden; ich möchte darum einen Vergleich stiften. Ein jedes von euch beiden soll erhalten, was es begehrt hat: Er, Meister Müller, begehrt einen Träger des Erblehens für seine Familie; Sie, Frau Beckin, begehrt ihren Sohn. Ich verspreche dem Schloßmüller mit Brief und Siegel, daß ich als Lehensherr das Erblehen auf den ersten Schwiegersohn übertragen will, welchen ihm eine seiner vier Töchter ins Haus bringen wird, doch nur unter der Bedingung, daß die Frau Sibylle Beckin von nun an auch unangefochten ihren blinden Knaben behalte. Da aber ein vaterloses Kind schon schlimm genug daran ist, wenn es seine beiden Augen hat, wieviel mehr, wenn es blind durch die Welt laufen muß, so bitte ich mir aus, von nun an Vaterstelle an dem Blinden vertreten zu dürfen. Ich hoffe, die Mutter wird sich nicht auch vor meinen väterlichen Ansprüchen fürchten, denn der Himmel hat uns bekanntlich schon längst mit einem Erbgrafen gesegnet.«

Beide Parteien sagten nicht nein, aber es dauerte auch lange, bis sie die Sprache finden konnten, um ja zu sagen und unter Tränen zu danken.

Beim Heimgehen zupfte der Geheimerat den Pfarrer am Rock und fragte ihn leise, ob er denn wirklich glaube, daß Sibylle des Kindes leibliche Mutter sei. Der Pfarrer erwiderte: »Herr Geheimerat, das ist ein sonderbares Ding. Mit der Selbstgewißheit der rein leiblichen Mutterschaft steht es bei den Menschen im Grunde nicht besser als bei den Hunden und Katzen und anderem Vieh. Wenn wir nicht zufällig auch mit dem Herzen Vater und Mutter sein könnten, so würden unsere Mütter wohl auch nur gerade so lange ihre leiblichen Kinder kennen wie die Katze ihre Jungen. Indem wir aber das Kind in unsere Seele als Eigentum aufnehmen, bleibt es unser Kind fürs ganze Leben, ja übers Grab hinaus. Wie es mit dem Mutterrechte dieser Frau im impertinent natürlichen Sinne des Wortes steht, das müsset Ihr unsere Advokaten fragen, die haben ja schon jahrelang darüber nachgeforscht, ich weiß es nicht. Dies aber weiß ich, daß sie das Kind mit wahrer Heldenkraft in ihre Seele als Eigentum aufgenommen hat, und also lebe und sterbe ich auch des festen Glaubens, daß sie die rechte Mutter sei.«


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