Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Zweiter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Jörg Muckenhuber

1860

Erstes Kapitel

Im Jahre 1594 hatte der Stadtschreiber von Nördlingen einen seltsamen Besuch. Ein etwa zwanzigjähriger, baumstarker fremder Bursche, verwahrlost und zerlumpt, kam eines Morgens auf die Amtsstube, pflanzte sich ohne Gruß dem Schreiber gegenüber und starrte ihn schweigend an.

Auf die barsche Frage: »Was willst du?« antwortete er ebenso barsch: »Einen Strick!«

Der Stadtschreiber sagte, da sei er fehlgegangen, der Seiler wohne links um die Ecke. Der Bursche aber erwiderte, den Seiler brauche er nicht, sondern den Henker; er wolle gehenkt sein. Dem Stadtschreiber gruselte es, denn er glaubte, der fremde Kerl sei verrückt. Er rief daher einen handfesten Knecht herbei, ehe er das wunderliche Gespräch weiterführte.

Der Fremde bekannte sich nun als einen heimatlosen Landstreicher, von seinen Genossen Jörg Muckenhuber geheißen, und da seine Sprache aus ebenso vielen Lappen von allerlei Mundart zusammengeflickt war wie sein Rock aus alten Tuchlappen, so mußte man ihm auch wohl ohne Heimatschein glauben, daß er überall und nirgends zu Hause sei.

Er erzählte dann kurz und kalt, daß er vor mehreren Wochen einen reisenden Krämer auf Nördlinger Gebiet ermordet, auch zwischen Augsburg und Kaufbeuren einen welschen Juden umgebracht habe. Der Jude und der Krämer ließen ihm aber nachts keine Ruhe mehr: darum wolle er gehenkt sein, und da er den letzten Mord auf Nördlinger Grund und Boden begangen, so könne sich der Rat dieser Reichsstadt auch nicht weigern, ihn an den Nördlinger Galgen zu hängen.

Der Stadtschreiber schimpfte gewaltig und meinte, da könne jeder gelaufen kommen; die Stadt habe ihren Galgen für ihre eigenen Bürger gebaut und nicht für fremdes Gesindel, ließ aber doch den Muckenhuber in Gewahrsam führen und trug den Handel dem Rate vor.

Der Rat in corpore konnte zwar anfänglich auch nicht daraus klug werden, ob der Bursche ein Narr sei oder ein verzweifelnder Bösewicht. Da man aber damals Verrückte ohnehin in dasselbe Loch zu werfen pflegte, in welchem Diebe und Mörder saßen, so lag Jörg Muckenhuber einstweilen gut und sicher im Turm, und die Sache war jedenfalls richtig eingefädelt, mochte auch weiter ans Licht kommen, was da wollte.

Der Folterknecht, der Pfarrer und der Feldscherer, welche den Gefangenen der Reihe nach besuchten und jeder nach seiner Weise sondierten, erklärten einmütig, daß der Bursche zwar äußerst roh und verwahrlost sei, allein von sehr klarem Verstande und daß er bei seinem Geständnis beharre.

Inzwischen durchlief die Neuigkeit natürlich rasch die Stadt, und die guten Bürger stritten heftig darüber, ob man auch einen auf sein bloßes Geständnis und dringendes Begehren hängen könne, selbst wenn sich die Tat, deren er sich anklage, weiter gar nicht erweisen lasse. Denn nirgends war eine Spur von dem angeblich an dem reisenden Krämer verübten Morde aufzufinden.

Auch als man den Muckenhuber unter starker Wache und großem Zulauf hinausführte, daß er den Ort bezeichne, wo er den Krämer erschlagen und die Leiche verscharrt, wußte er zwar durch die feinsten Gründe und Ausreden seine Richter zu verwirren und stutzig zu machen, allein eine tatsächliche Urkunde des Frevels entdeckte man nicht. Der Gefangene aber blieb steif und fest bei seinem Satz, daß er den fremden Krämer auf Nördlinger Boden umgebracht habe und also am Nördlinger Galgen gehenkt werden müsse.

Obgleich die deutschen Reichskleinstädtler zu jener Zeit an hochgewürzte kriminalistische Dramen gewöhnt waren wie ans tägliche Brot, so wuchs doch die Spannung über diesen unerhörten Fall von Tag zu Tag; namentlich konnte man die Antwort des Augsburger und Kaufbeuerner Magistrates kaum erwarten, denen das Nördlinger Gericht die Akten zugesandt hatte mit dem freundnachbarlichen Ersuchen um genaue Forschung nach dem angeblich zwischen beiden Städten an einem welschen Juden verübten Mord. Allein auch hier hatte man weder von einem welschen Juden noch von einem Morde das mindeste aufgespürt.

Weil nun aber im peinlichen Verfahren des sechzehnten Jahrhunderts das eigene Geständnis hoch über jedem anderen Beweise stand, so konnten sich die Richter nicht beruhigen, zumal der Bursche mit immer neuen Gründen den Mangel aller äußeren Anzeichen zu erklären wußte.

Man schritt also zum schärfsten Prüfstein der Wahrheit, zur Folter. Hatte man schon so oft bei Leuten, die keine Verbrecher sein wollten, das Geständnis der Schuld herausgefoltert, warum sollte man nicht auch einmal umgekehrt bei einem Manne, der schlechterdings ein Verbrecher sein wollte, das Geständnis der Unschuld herausfoltern können?

In der Folterkammer aber kam der Nördlinger Rat erst recht vom Regen in die Traufe. Denn bei den Daumschrauben blieb Jörg Muckenhuber bei seinem alten Lied, und als man ihm zur Steigerung weiter die spanischen Stiefel anlegte, begann er sogar noch eine Liste von Räubereien dazu zu bekennen, von denen jede einzelne für sich schon den Galgen verdient hätte. Der Untersuchungsrichter hatte zwar auch noch einen Ritt auf dem scharfkantigen Esel für den Inquisiten in Aussicht genommen, allein aus Furcht, der unbeugsame Jörg möge da wohl gar noch etliche Brandstiftungen als Zugabe dreinschenken, ließ man's bei den zwei ersten Graden der peinlichen Frage bewenden und führte den triumphierenden Burschen wieder in sein Loch zurück, indes der Rat ratloser war als zuvor.

Denn obgleich den Klügeren nun ein ziemlich helles Licht aufging, daß Jörg Muckenhuber die ganze Reichsstadt zum besten habe, so war doch ein solcher Galgenhumor ganz beispiellos. Auch konnte niemand einen Grund ersinnen, weshalb der struppige Gesell mit einem Mut und einer Willenskraft ohnegleichen seinen Hals dem Strick und seine Glieder der Folter darbot. Das war doch selbst für den boshaftesten Spaß zuviel. Dazu kam, daß nicht bloß das angebliche Verbrechen, sondern auch die ganze Person dieses Muckenhuber wie über Nacht aus dem Boden gewachsen erschien. Denn von seiner Herkunft ließ sich ebensowenig eine Spur auffinden wie von seinen Verbrechen. Einige behaupteten kurzweg, es sei der Teufel selber, der sich den Spaß mache, in dieser Maske ganz Nördlingen an der Nase herumzuführen.

Allein hiermit war der schwierigste Teil der Frage doch nicht gelöst, nämlich was man denn überhaupt nun mit dem Landstreicher anfangen solle.

Die öffentliche Meinung neigte damals so ziemlich zu dem Satze, daß es im Zweifelsfalle besser sei, drei Unschuldige zu hängen, als einen Schuldigen laufen zu lassen. Und überdies war Jörg Muckenhuber unter allen Umständen schuldig. Denn hatte er jene Mordtaten verübt, dann verdiente er den Galgen; hatte er sie aber nicht verübt, dann verdiente er erst recht den Galgen, weil er den ganzen Rat einer Reichsstadt so fabelhaft zum Narren gehalten hatte. Da man sich aber durchaus nicht einigen konnte, auf welche von diesen beiden Arten er den Galgen verdient habe, so ließ man ihn einstweilen ruhig in seinem Loche sitzen.

Zweites Kapitel

Dort sah es nicht gar freundlich aus. Die Zelle war halb über, halb unter der Erde in einem kleinen Turm, der nach drei Seiten in einem sumpfigen Wassergraben stand; an Licht hatte das Gemach gerade keinen Überfluß, doch fiel durch ein schmales Fensterchen wenigstens so viel Helldunkel herein, daß man an einem sonnigen Mittage einen Tisch von einem Stuhl hätte unterscheiden können, wenn nämlich derlei Luxusgeräte vorhanden gewesen wären. Desto besser war die Nachbarschaft. Unter der Fensterscharte sangen die Frösche im Sumpfgraben sehr mannigfaltig und vollchorig. Zur Seite aber grenzte ein anderes Gefängnis, von einem alten Weibe bewohnt, welches hartnäckig leugnete, daß sie eine Hexe sei. Ihr sogenanntes Fenster ging gleichfalls auf den Graben, und wenn beide Nachbarn zu ihren Fenstern hinaussprachen, so konnten sie sich recht gut unterhalten, doch ohne einander zu sehen, und niemand außer den Fröschen belauschte ihre Zwiesprach.

Auf ganz eigene Art hatte dieser Verkehr begonnen. Jörg erhielt nämlich die erste Kunde von seiner Nachbarin, indem er sie laut beten hörte. Es war kein weiches, demütiges Beten, sondern heftig, fast stürmisch, als ob die Alte eher Befehle als Bitten an unseren Herrgott zu schicken habe. Jörg hatte nie beten gelernt, weder laut noch leise, und anfangs deuchte ihm die Andacht der Alten sehr wunderlich; allmählich aber imponierte es ihm, daß ein altes Weib so nachdrücklich mit Gott zu sprechen sich getraue, und er meinte, die daneben müsse wohl baumstark sein und zehn Männer im Zaum halten können.

Er gab übrigens seinerseits nicht das erste Wort zum Gespräch, sondern wartete, bis die Nachbarin seine Anwesenheit erlauschte und ihn anredete. Auch heroische Weiber plaudern gern. So brachte eine Rede die andere, und bald waren die beiden Leidensgenossen recht vertraut miteinander, ohne daß sie sich jemals gesehen hatten. Das Ohr mußte zugleich Auge sein. Anfangs warf Jörg der Nachbarin manchen trotzigen und spöttischen Satz in die freundliche Ansprache; allein die Alte antwortete immer so mild und doch so überlegen, daß Jörgs Übermut bald gezähmt war.

Die vorher verhöhnte Zwiesprach mit der Unbekannten ward ihm zum süßen Bedürfnis. Drei Dinge begannen ihm das harte Herz zu bewegen: die Stille des Kerkers, in welcher er sich selber fand, die Stimme der Natur tief unten herauf von den Fröschen im Graben, die ihm manchmal wie ein Lockruf zur verlorenen Waldesfreiheit des Landstreichers klang, und die Stimme nebenan aus mitfühlender Menschenbrust.

Doch blieb er fest bei seinem Satze, daß er auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt werden wolle.

Nach etlichen Tagen kannte Jörg schon haarklein die Schicksale seiner Nachbarin, doch schwieg er immer noch hartnäckig über sein eigenes.

Die Alte war die reiche, kinderlose Witwe des Kronenwirts, Maria Hollin. Mit sechzig Jahren mußte sie den Jammer erleben, als Hexe angeklagt zu werden. Eine reiche Hexe ist eine Rarität. Man hatte aber in Nördlingen seit fünf Jahren fast alle häßlichen und armen Weiber weggebrannt, und da jede Hexe Mitschuldige angeben mußte und der Eifer der Hexenrichter mit der Zahl der Scheiterhaufen wuchs, so kam die Reihe zuletzt auch an die schönen, jungen und reichen Frauen. Unglückliche Frauen gab es da genug, aber so unglücklich und so heldenhaft zugleich wie Maria Hollin war keine zweite. Sie hatte achtundfünfzigmal auf der Folterbank gelegen und doch nichts gestanden! Wohl hatte Jörg Muckenhuber aus dem Ton ihres Gebetes richtig herausgehört, daß sie zehn Männer im Zaum halten könne. Die Richter waren in Verzweiflung; denn eine achtundfünfzigmal Gefolterte freizusprechen das ging doch nicht an, und sie ohne Geständnis zu verurteilen, ebensowenig.

Dazu kam, daß die Kunde von der Sündhaftigkeit der Hollin ins Volk gedrungen war und ihr viele verstohlene Teilnahme erweckt, auch ein leise anwachsendes Murren gegen die gefürchteten Hexenrichter erregt hatte. Bisher war alles so glatt und nett abgelaufen. Zweiunddreißig Weiber waren angeklagt, gefoltert, überführt, verbrannt worden: keine hatte große Umstände gemacht. Höchstens, daß man die eine oder andere einmal mit Fußgewichten so lange am Strick ausgerenkt mußte schweben lassen, bis die Richter gefrühstückt hatten. Kamen sie dann vom Frühstück zurück, so erfolgte allemal das offenste Geständnis. Und nun war durch die Halsstarrigkeit dieser Hollin der ganze schöne Rechtsgang auf einmal ins Stocken geraten! Denn außer ihr war noch eine große Zahl verdächtiger Frauen eingesperrt. Bei dem wachsenden Mißvergnügen des Volkes wagte man aber nicht, neue Prozesse auf den Rocken zu stecken, bevor nicht der alte abgesponnen war.

Nun mußte gar noch obendrein der Skandal mit dem Muckenhuber aus blauer Luft herunterfallen!

Die eine wollte ihre Schuld nicht bekennen, und man hätte sie doch so gern verurteilt; den anderen hätte man so gern laufen lassen, aber selbst auf der Folter gab er seine Unschuld nicht zu! Der Stadtschreiber meinte, wenn nur der Jörg Muckenhuber auch ein Weibsbild wäre, dann könnte man durch einen kühnen Mißgriff jenen als Hollin verbrennen und diese als Muckenhuber laufen lassen, so hätte ein jedes seinen Willen und das Gericht sein Recht.

Das Ärgerlichste drohte aber dem Rat zu alle diesem von fernher. Am südöstlichen Horizont, von Regensburg herüber, stieg nämlich ein schweres diplomatisches Unwetter auf. Maria Hollin war nicht von der Gasse aufgelesen, sondern eines Ulmer Amtmannes Tochter, und ihre angesehene Verwandtschaft in jener Reichsstadt, von der Unschuld der Beklagten überzeugt, hatte den Ulmer Magistrat vermocht, beim Nördlinger Rate Fürsprach einzulegen. Doch das half nicht viel. Denn der Stadtschreiber meinte, es sei gefährlich für die Reputation eines Gerichtes, jemand achtundfünfzigmal zu foltern und ihn schließlich nicht einmal etwas anbraten, geschweige verbrennen zu dürfen. Die Ulmer gaben aber keine Ruhe.

Zu Regensburg war im selbigen Jahre ein wichtiger Reichstag und Kaiser Rudolf II. in Person gegenwärtig; der Gesandte von Ulm erhielt von seiner Stadt den Auftrag, bei dem Gesandten von Nördlingen zugunsten der Hollin zu interzedieren, und da er auch hier anfangs abfuhr, so drohte er, Kaiser und Reich gegen die Nördlinger Rechtspflege in Harnisch zu setzen.

Kannte die Hollin diesen Stand der Sache auch nicht genau, so wußte sie doch, daß mächtige Freunde für sie tätig waren, und diese Überzeugung machte ihren Mut erst recht stahlhart. Um so genauer kannten dagegen die Richter den Stand der Sache, und weil sie nicht vorwärtsgehen konnten und nicht rückwärtsgehen wollten, so blieben sie stehen, ließen den Prozeß hängen und sämtliche Arrestanten sitzen. Durch ein diagonales Entgegenwirken der verschiedensten Kräfte gab es plötzlich unfreiwillige Rechtsferien in Nördlingen.

Auf den Jörg Muckenhuber machte die Geschichte der Hollin einen gewaltigen Eindruck. Vor seinen Richtern hatte er sich bisher einen Helden gedünkt, vor dieser wahren Heldin dagegen kam er sich vor wie ein böser Bube. Aus Trotz und Stolz hatte er vor jenen seine wirkliche Geschichte verschwiegen; vor diesem Weibe schwieg er aus Scham. Doch konnte er der festen, teilnehmenden Stimme der unsichtbaren Genossin auf die Dauer nicht widerstehen. Sie klang ihm manchmal wie eine Stimme vom Himmel, denn es war eine echte Menschenstimme, und die war ihm zur Zeit noch so neu wie der Himmel selber.

So ward er endlich zahm und begann der Alten seine wahre Geschichte zu beichten, und ob er wohl wußte, daß die Untersucher gern Gefangene anstiften, um verstockte Mitgefangene auszuhorchen, so wußte er doch auch, die Hollin werde sein Geständnis so treu bei sich behalten wie die Frösche, welche unten im Sumpf lauschten. Nur fand er schwer den rechten Anfang.

Zuerst fragte er, ob sie nicht einmal ein paar verbissene Hunde gesehen, die ihre Zähne so fest ineinander geschlagen hätten, daß sie sich immer fester packten, je mehr man sie auseinander prügeln wolle. Er und seine Richter seien ein Paar solcher verbissener Hunde. Der Stadtschreiber allein habe gescheiten Rat erteilt, indem er gleich am ersten Tag auf Daumschrauben angetragen. Dann hätte er wohl gestanden. Als er aber einmal verbissen gewesen sei mit den Richtern, da habe die Folter so wenig genützt wie der Prügel, den man auf einen verbissenen Hund wirft. Doch nein, das sei nicht der rechte Anfang.

Nachdem sich Muckenhuber hierauf lange wieder besonnen, erzählte er der Hollin, daß er von Kind auf mit seinen Eltern das frechste Landstreicherleben geführt habe und alle die wilden Freuden eines ruhelos schweifenden Tagediebs ausgenossen, aber auch alle Mühsal, Entbehrung und Schmach. Gemordet habe er nie, auch nie geraubt oder gestohlen, sondern nur mitgenommen, was er gebraucht. Solch ein Treiben werde man bald satt. Er sei zerfallen mit seinen Verwandten und Freunden und mit sich selbst. Herumstreifen wollte er nicht länger, und festsitzen konnte er auch nicht. Das Leben war ihm entleidet, allein sich selber umzubringen, daß man ihn aus dem Wasser gefischt oder im Walde gefunden hätte wie ein krepiertes Vieh, das war auch nicht nach seinem Geschmack.

Nun hatte er oft den Tod am Galgen als den schönsten preisen hören, und wenn seine Genossen von den »besten Männern« und »Helden« erzählten, so waren diese Helden immer Leute, welche auf der obersten Sprosse der Galgenleiter die höchste Stufe ihrer Laufbahn erstiegen hatten. Sich hängen lassen hieß bei den Genossen Hochzeit halten; der Delinquent war der Bräutigam, der Galgen die Braut, der Henkersknecht der Kranzelherr und der Henker der Pfarrer, welcher mit der stärksten Kopula, dem Strick, kopulierte: der Tanz in der Luft der Hochzeitstanz.

Um dem Leben, welches ihm reizlos geworden, ein glänzendes und ehrenvolles Ende zu machen, ging Jörg nach Nördlingen als einer wegen hurtiger Justiz damals berühmten Stadt und meldete sich.

Übrigens, sagte Jörg, er würde selbst dann keinen Menschen, ja nicht einmal einen Juden umgebracht haben, wenn er auch vorher gewußt hätte, daß man hier so viel Umstände mache. Zuletzt schloß er dann wieder mit dem Satze, womit er begonnen: er habe sich nun verbissen mit den Ratsherren und wolle recht behalten; hätte man ihn gleich am ersten Tage peinlich gefragt, so würde man die Wahrheit herausgepreßt haben, ja es hätte damals nur eines Buckels voll Schläge bedurft, aber eines recht tüchtigen Buckels voll. Jetzt möge man ihn mit glühenden Zangen zwicken, und er werde seine gelogenen zwei Mordtaten aufrechthalten. Diese gehörten ihm jetzt eigen, sie seien sein unantastbarer Besitz, den er mit seinen Schmerzen gekauft und bezahlt habe.

Die Hollin hielt dem Jörg hierauf eine fürchterliche Bußpredigt. Er glaubte nach dem Ton ihrer Stimme, sie müsse jetzt wie der Engel mit dem feurigen Schwert in ihrer dunklen Zelle stehen. Trotzdem rührte ihn diese Predigt nicht besonders. Viel tiefer zerknirschte es ihn, wenn er in der schweigenden Nacht den Heldenmut der Hollin und ihre Todesverachtung mit seiner eigenen Geschichte verglich, denn sein starrer Trotz dünkte ihm dann nur die Fratze jenes edeln Mutes. Darum gab er auch der Frau Nachbarin in allen Stücken recht, wenn sie, ihm mit derber Hand am Gewissen rüttelte; nur den anderen Leuten konnte er nicht recht geben. Und wenn ihn die Hollin verdammte, so schreckte ihn dies fast, als ob er beim Jüngsten Gericht verdammt werde; allein vor dem Jüngsten Tag wollte er doch erst noch den Nördlingern den Possen spielen und an ihrem Galgen gehenkt sein.

Inzwischen verstrichen Monate. Die beiden Nachbarn kamen sich ungesehen immer näher. Jörg hatte nie einen Menschen so lieb gehabt wie Frau Hollin, vor der er sich doch so tief schämte und die ihn so erbärmlich abkanzeln konnte, und die alte Frau entdeckte so manch vergrabene Tugend in dem Gemüt des wilden Naturburschen, daß es ihr fast Gewissensangst machte, sie höre des Guten zuviel aus dem bösen Buben heraus. Zum Trost gelang es ihr, der verstockten Hexe, ihm, dem vor Gericht sich selbst anklagenden Büßer, wenigstens ein klein Stück Christentum beizubringen, so viel nämlich durch zwei schmale vergitterte Kerkerfenster sich hindurchzuzwängen vermag. Jörg nahm alle Glaubensartikel willig an, blieb aber auch bei seinem eigenen Glaubensartikel, daß er auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt werden müsse.

Drittes Kapitel

Jörg hatte sich mit dem Rate verbissen und der Rat mit Jörg: aber der Rat hatte sich auch in sich selbst über den Jörg verbissen.

Es bestanden zwei Parteien, die sich dermaßen stritten, daß der Gegenstand des Streites über dem Streit als solchem ganz vergessen ward. Die einen wollten, wie schon oben erwähnt, den Jörg hängen, weil er gemordet, die anderen, weil er nicht gemordet habe. Nur der Stadtschreiber bildete – aber ganz im stillen und für sich allein – eine dritte, vermittelnde Partei. Er wollte den Jörg laufen lassen. »Denn«, so sprach er zu sich selber, »hätte man den Inquisiten gleich am ersten Tage torquiert, so wäre wohl die Wahrheit ans Licht gekommen; jetzt ist es zu spät; warten wir aber ab, bis die beiden Parteien sich geeint haben, aus welchem Grund der Muckenhuber gehenkt werden solle, so kann er inzwischen im Turm an Altersschwäche sterben. Den Schaden aber hat die Stadt, welche dem hergelaufenen Kerl so lange freie Kost und Obdach gibt.« Da nun der Stadtschreiber mit seiner Menschenkenntnis weiter schloß, Jörg möge nach so vielen Wochen wohl mürbe und die schmale Küche des Eisenmeisters satt geworden sein, so deuchte ihm die beste Lösung, dem Burschen so ganz von ungefähr die Tür offen zu lassen, daß er davonlaufen könne. Mit dem Gegenstande des Streites werde dann auch der Streit verschwinden, ja jedermann werde sich wundern, wie man sich über solch einen Halunken so lange habe den Kopf zerbrechen können, die Ehre der Justiz sei gerettet und die Rechtfertigung des nachlässigen Eisenmeisters wolle er, der Stadtschreiber, schon auf sich nehmen.

So veranlaßte er es denn, daß die Riegel an Jörgs Kerkertür zum öfteren nicht vorgeschoben wurden. Jörg merkte es wohl, blieb aber doch sitzen; er wollte auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt sein.

Als er jedoch eines Tages seiner Nachbarin von der wachsenden Nachlässigkeit des Eisenmeisters erzählte, kam die Sache in ein anderes Geleis. Mit dem bloßen Gedanken der offenen Tür (wenn auch nicht des eigenen Gefängnisses) erwachte bei Frau Hollin die ganze mächtige Liebe zur Freiheit. »Wenn ich hinaus könnte!« rief sie, »nicht entfliehen wollte ich; ich wollte fortgehen, um wiederzukommen, um meinen Ulmer Freunden alle die erlittene Schmach zu erzählen, wiederzukommen mit den Zeugnissen und Zeugen meiner Unschuld, – ich will gar nicht einmal die Freiheit, ich will nur meine Ehre und Reputation retten – –!« Sie brachte den Satz nicht recht zu Ende, doch hatte ihn Jörg verstanden.

Schon lange arbeitete er daran, die dünne Scheidewand zwischen den beiden Kerkern zu durchbrechen; er war bisher, bloß mit einem kleinen Stückchen Eisen bewehrt, nur langsam vorgeschritten; nach jenem Ausruf der Hollin aber schaffte er Tag und Nacht mit Riesenkraft, und in der dritten Nacht konnte er's versuchen, durch das Loch, welches er im dunkelsten Winkel geöffnet, hindurchzukriechen.

Da war keine Zeit zu verlieren. Heute nacht stand Jörgs Tür wieder offen: also gab es kurzen Abschied. Frau Hollin kroch herüber in des Nachbars Zelle. Da umfaßte Jörg, am ganzen Leibe zitternd, des alten Weibes Knie und rief – als wolle er in dieses einzige Wort die ganze Fülle seines Gehorsams und seines Dankes schütten –: »Mutter!« – und sie fuhr ihm mit der Hand übers Gesicht, im schwarzen Dunkel seine Züge befühlend, und rief: »Mein armer, unglücklicher Sohn!«

Dann trennten sich die beiden Freunde, die sich nie gesehen und doch so nahegestanden. Die kinderlose Witwe hatte in dieser Stunde zum erstenmal mit der vollen Empfindung einer Mutter den Kindesnamen ausgesprochen, und der Landstreicher, welcher nie seine Mutter gekannt, zum erstenmal den Mutternamen in tiefster kindlicher Ehrfurcht.

Frau Hollin verbarg sich in derselben Nacht noch bei treuen Freunden, um mit dem nächsten Tage nach Ulm zu entkommen. Jörg aber schlüpfte hinüber in das leere Hexenkämmerlein, und als am Morgen der Eisenmeister an die Türe kam, um die karge Speise durch einen Schieber hereinzubefördern, kauerte er sich, in den zurückgelassenen Mantel der Frau gehüllt, in die hinterste Ecke, und als der Mann dann weiter zu der Türe seines eigenen Kerkers ging, schlüpfte er geschwind durch das Mauerloch hinüber und nahm nun als Jörg Muckenhuber die andere Portion in Empfang. So trieb er es fast eine Woche mit vielem Geschick und stillem Vergnügen, wenn ihm nicht der Gram über den Verlust der treuen Nachbarin die Freude erstickt hätte.

Eines Tages öffnete sich jedoch nicht bloß der Schieber, sondern die ganze Tür, und herein trat der Stadtschreiber mit dem Eisenmeister und forderte die Hollin auf, ihm zur Gerichtsstube zu folgen. Jörg spielte seine Rolle weiter, solange es gehen wollte, drückte sich wie aus höchster Angst in den dunkeln Winkel und wies die Andringenden mit stummer Gebärde zurück. Als aber der Stadtschreiber ermunternd rief: »Weib, folge uns getrost, ich führe dich nicht mehr zur Folter, sondern zur Freiheit!«, da vergaß der Muckenhuber völlig seine Maske, warf den Mantel weg, sprang trotzig hervor und erwiderte, die Fäuste in die Hüften gestemmt, dem erschrockenen Stadtschreiber: »Das werdet ihr wohl bleibenlassen, gehenkt will ich sein, und zwar auf Nördlinger Grund und Boden!«

Der Stadtschreiber zerraufte sich das Haar vor Wut und Arger, als er sah, daß die Hexe davongelaufen und der Landstreicher sitzengeblieben war. Er wollte in der Tat die Hollin zur Freiheit führen, aber zur Freiheit unter gewichtigen Bedingungen, und nun war sie ganz bedingungslos verschwunden; Jörg dagegen, der bedingungslos hätte verschwinden sollen, saß dem Rate nun wieder auf dem Nacken. »Kerl, du bist gar nicht umzubringen!« schrie der Stadtschreiber dem Muckenhuber in schäumendem Zorn entgegen. Dieser aber erwiderte ganz kalt: »Das eben ist ja meine Klage, daß Ihr's niemals probieren wollt!«

Mit dem Prozeß der Hollin stand es nun aber folgendergestalt. In Regensburg drängte und drohte man so gewaltig, daß die Mehrheit des Rates stutzig wurde und gegen die drei Mitglieder, welche die ganze Hexentragödie aufgebracht und seit fünf Jahren als wahre Schreckensherrscher fortgespielt hatten, Front zu machen begann. Die immer stürmischeren Beschwerden des Volkes, welches wie aus einem Fiebertraum erwachte, ermutigten jene Mehrheit, und die Hexenrichter sahen nur zu klar, daß ihr Regiment zu Ende gehe und daß sie an ihre eigene Sicherheit denken müßten. Sie wollten daher die Hollin freigeben unter der Bedingung, daß selbige eine Urkunde unterschreibe und beschwöre folgenden Inhalts: Sie nehme ihre Freiheit als Gnade für Recht, wolle niemals anderweit Klage erheben gegen ihre Richter noch sich persönlich an ihnen rächen, die Stadt binnen vierundzwanzig Stunden verlassen, dazu gelobe sie über den ganzen Verlauf des Prozesses ewiges Stillschweigen. Von einem geängsteten alten Weib, welches hinter sich die Folter hatte und vor sich den Scheiterhaufen sah, glaubte man, leicht Schwur und Unterschrift zu so billigen Bedingungen erhalten zu können. Groß war daher der Schreck, als man hörte, die Hollin sei entflohen; denn nun konnte sie von außen her Beschwerde führen und das Volk aufhetzen, soviel sie wollte.

Der Stadtschreiber stand wie ein begossener Pudel vor seinen Amtsbrüdern, als er ihnen statt der Alten den Jörg Muckenhuber auf die Gerichtsstube brachte. Die Ratsherren machten sich gegenseitig die bittersten Vorwürfe, erst leise, dann lauter, zuletzt wuchs der Sturm, und alle schrien durcheinander wie in der Judenschule. Da schaffte der Stadtschreiber, mit seinem tiefen Baß das ganze Stimmengewirr übertönend, plötzlich Ruhe und einigte die Zänker durch ein Wort wie mit einem Schlag. Er rief: »An alle diesem Unheil ist nur der Muckenhuber schuld. Hängt ihn auf, wenn er nicht augenblicks seine alten Geständnisse widerruft!« Jörg entgegnete: »Ich widerrufe nicht!«, und als ihn der Stadtschreiber zum zweitenmal fragte: »Jetzt widerruf' ich erst recht nicht!« und zum drittenmal – –

Da stand, wie aus dem Boden gewachsen, die alte Hollin in der Stube, geführt von zwei der angesehensten Bürger aus Nördlingen und Ulm. Sie sah dem Muckenhuber scharf ins Auge und sagte ihm mit festem Ton: »Jörg, du wirst dein falsches Geständnis widerrufen!« Die Stimme traf den verbissenen Burschen wie ein Donnerstreich. Er schwieg lang und schlug die Augen nieder. Alles schwieg; man hörte nur die leisen Atemzüge – dann sprach er: »Keine andere Macht der Welt hätte mich zum Widerruf bringen können, aber dieser Frau kann ich nicht ins Gesicht lügen; – ich widerrufe!«

Inzwischen wuchs von außen das Getümmel der Menge, welche unter den wildesten Drohungen gegen den Rat die augenblickliche Freilassung der Frau Hollin begehrte. Die Herren spürten Gefahr auf dem Verzug. Nach kurzem, geheimem Wortwechsel las daher der Stadtschreiber der Alten im artigsten Ton jene Urkunde vor, welche sie beschwören sollte. Frau Hollin aber erwiderte, sie fordere Recht und keine Gnade, sie habe sich auch nur gestellt, damit man ihren Prozeß in aller Form zu Ende führen könne; diese Schrift beschwöre sie nicht.

Die Herren vom Rat machten sehr lange Gesichter und wollten sich aufs Überreden legen, wußten aber schon von früher, daß bei dieser Frau Überreden nicht viel verfange.

Da sah die Alte, daß der Eisenmeister dem Muckenhuber schwere Ketten anlege, um ihn in festeren Gewahrsam zurückzubringen, und der gebrochene Blick, mit welchem er zu ihr herüberschaute, fiel ihr schwer aufs Herz. Nach kurzem Besinnen sprach sie zu den Richtern: »Ihr Herren habt euch bei mir aufs Unterhandeln gelegt, ihr seid also gar keine ordentlichen Richter mehr; denn Richter unterhandeln nicht. Seid ihr aber keine Richter, so könnt ihr mir auch kein Recht mehr schaffen. Wohlan, auch ich lege mich aufs Unterhandeln: Gebt mir dort den bösen Buben frei, ich will ihn an Kindes Statt annehmen und mit mir nach Ulm führen und sehen, ob ich ihn besser erziehen kann als ihr. Mein Vermögen hat tot gelegen während der elf Monate, da ich im Turme saß, ihr solltet mir wohl die Zinsen vergüten, die ich inzwischen verloren habe: gebt mir diesen bösen Buben mit, ich will ihn als den Zins nehmen, welchen Gott während meines Leidens meinem Besitztum hat zuwachsen lassen. Unter dieser Bedingung beschwöre und unterzeichne ich eure Schrift.«

Schon stürmten drohende Volkshaufen in die Vorhalle des Hauses. Dem Rat wäre keine Wahl geblieben, auch wenn die Hollin ganz andere Dinge begehrt hätte.

Als sie die Urkunde unterzeichnete, fand sie noch die Rechnung beigelegt über ihre Verköstigung während der elfmonatlichen Haft. Sie reichte jedoch das Blatt mit artigem Lächeln dem Stadtschreiber zurück, und da die Menge bereits an der Tür pochte, so zerpflückte derselbe die interessante Beilage möglichst geschwind und streute die Stückchen unter den Tisch.

Dem Jörg hatte man derweil die Ketten wieder abgenommen; er schaute umher wie im Traum und ließ sich alles schweigend gefallen.

Frau Hollin nahm ihn bei der Hand und ging zur Tür, wo beide von der hereindrängenden Menge jubelnd empfangen wurden. Der Stadtschreiber wollte auch jetzt noch zeigen, daß er doch nicht gar aufs Maul geschlagen sei, und rief halblaut den Abgehenden nach: »Nun findet dies edle Pflegkind in Ulm doch wenigstens einen Galgen, an welchem es heimatberechtigt ist.«

Frau Hollin hatte ihn wohl verstanden, darum kehrte sie sich in der Tür noch einmal zurück und rief mit erhobenem Ton: »Stadtschreiber, man sollte Euch auch einmal elf Monate einsperren, damit Ihr des Menschen Herz kennenlerntet. Ihr würdet dann vielleicht finden, es gibt Leute, die verachten den Tod und begehren ihn zugleich, so öd und reizlos ist ihr rohes Leben, andere dagegen haben die wahre Herrlichkeit des Lebens so reich geschmeckt und so gewaltigen Lebensmut dadurch gewonnen, daß sie darum den Tod verachten, den sie nicht gesucht. Jene schreckt der Tod nicht, weil sie noch gar nicht leben gelernt haben; diese aber schreckt er noch viel minder, weil sie so ganz zu leben verstehen. Ich will diesen meinen Sohn nun leben lehren, damit er den Tod, welchen er in der ersten, wilden Weise so wohl zu verachten gewußt, auch in der anderen, feinen Weise eines wahren Christen verachten lerne.«

Die Alte hielt Wort. Jörg ward in ihrem Hause ein redlicher und tapferer Mann, der seiner neuen Vaterstadt Ulm im ersten Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges große Dienste leistete, daß man dort seines Namens noch lange in Dank und Ehren gedachte. Die Nördlinger Hexenrichter aber mußten ihr Amt niederlegen, der ganze Magistrat ward gereinigt und erneuert, und auf jene fünf Jahre des Schreckens folgte ein besseres Jahrzehnt, in welchem Recht und Gerechtigkeit wieder herrschten in der altehrwürdigen Reichsstadt.


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