Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Zweiter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Mein Recht

1875

Erstes Kapitel

An einem schwülen Sommernachmittage im Juli des Jahres 1577 saßen sechs langweilige und gelangweilte Männer in der Schenke des holsteinischen Dorfes Radesloe bei Reinbeck, nämlich vier Bauern, ein verlumpter Spielmann und der Wirt.

Die Bauern waren ganz nüchtern und tranken sehr schüchtern, denn das Bier war dünn und sauer. Der Wirt saß mit gekreuzten Armen schweigend am Schenktisch und betrachtete die schweigsamen Gäste, und sein schläfriger Blick war so sauer wie sein Bier.

Drei von den Bauern waren Brüder: Hennecke, Klaus und Joachim Gülzow, wohlhabende ordentliche junge Leute, drei Prachtbursche an Wuchs und Kraft, mit roten Haaren und einer dem anderen wie aus dem Gesicht geschnitten. Der vierte, Peter Graumann, ihr Ortsnachbar, gleichfalls ein stattlicher Mann, hatte immer gute Freundschaft mit den Gülzows gehalten und teilte sich auch heute brüderlich in ihre Langeweile. Klaus streckte die Beine weit von sich und beobachtete zurückgelehnt zwei Mücken, welche langsam hintereinander am Ofen auf- und abspazierten, Joachim trommelte auf dem Tisch, Hennecke sah unverwandt in den Bierkrug und dachte nach, warum die Welt immer schlechter werde; Peter Graumann stützte beide Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf beide Hände und dachte gar nichts. Hart neben ihm saß der Spielmann, der »lütte Hans«, der einzige in der schweigenden Gesellschaft, welcher beständig redete, ohne daß ihm jemand zuhörte, und Witze riß, über die er jedesmal ganz allein lachte. Er war auch der einzige, der das saure Bier in vollen Zügen trank und gähnend einen frischen Krug begehrte. Da er aber die Gewohnheit hatte, niemals zu bezahlen, so schob ihm der Wirt den leeren Krug zurück und rief: »Du sündhafter Narr, willst dich am hellen Sonntag vollsaufen auf anderer Leute Kosten und bist diesen Morgen nicht einmal in der Kirche gewesen!«

Hans machte eine possenhafte Gebärde der Zerknirschung, kreuzte die Arme über der Brust, beugte den Kopf bis auf den Tisch und verharrte in dieser Büßerstellung.

Da reckte sein Nachbar, Peter Graumann, phlegmatisch den rechten Arm aus, indes sein Kopf in der linken Hand gestützt blieb, ergriff seinen Bierkrug und goß das Bier dem zerknirschten Spielmann in den Nacken. Dieser fühlte jedoch kaum das kalte Naß den Rücken hinunterlaufen, so schnellte er empor und stieß den Peter mit der Faust ins Gesicht. Darauf gab Peter dem Hans bedächtig, aber kräftig eine so furchtbare Ohrfeige, daß derselbe durchs halbe Zimmer zurücktaumelte. Nun erhob sich Hennecke Gülzow langsam und gemessen und verwies dem Peter Graumann, daß er den schwachen armen Narren mißhandle; doch Peter behauptete, er habe nur gleicherweise dem Hans wie dem Biere sein Recht getan.

Bei diesen Worten mengten sich auch die beiden anderen Brüder samt dem Wirte in den Streit und stellten Peter so deutlich zur Rede, daß in dem fünfstimmigen Chore keiner sein eigen Wort mehr verstand, und zuletzt packte Klaus den Peter um den Leib und warf ihn zu Boden, damit doch endlich wieder Friede werde.

Peter, der sich nicht sogleich wieder aufraffen konnte, zog sein langes Messer, streckte es vor sich hin und rief, jetzt solle ihm keiner mehr nahe kommen. Joachim aber schrie: »Willst du graue Ratte dich noch wehren? Hinweg mit dem Messer!« und trat mit dem Fuße danach; doch er schlug das Messer nicht weg, sondern rannte sich's einen Finger tief in den Schenkel. Nun warf er dem Peter noch einen Bierkrug nach dem Kopf, fehlte ihn aber und brach zusammen. Peter, als er das Blut fließen sah und die anderen den Verwundeten einen Augenblick umringten, sprang zum offenen Fenster hinaus und floh ins Weite.

So war auf einmal Leben in den langweiligen Sonntagnachmittag gekommen.

Die damaligen Bauern trugen Waffen und wußten sie zu führen, sie wußten aber auch einen zerschlagenen Kopf oder ein durchstochenes Bein zu verbinden. Also legten die beiden Brüder dem Joachim einen Notverband an, und der Wirt rief den Barbier. Dieser erklärte die Wunde für ungefährlich. Man trug den Verwundeten nach Hause, wo er drei Wochen im Bette lag, bis er das Bein wieder etwas bewegen konnte. Inzwischen sann der Genesende Rachepläne und beschwor seine Brüder, den Peter Graumann tüchtig durchzuprügeln, das werde seinem kranken Beine wohler tun wie des Barbiers bester Wundbalsam. Klaus, der jüngere Bruder, stimmte ihm zu und suchte sich schon einen trefflichen Prügel aus; Hennecke dagegen, der älteste, ein äußerst ruhiger und besonnener Mann, warf den Prügel in die Ecke und meinte, es sei schon Übels genug geschehen, das Unrecht sei geteilt auf beiden Seiten; und es gelang ihm, Joachim auf versöhnlichere Gedanken und den streitlustigen Klaus zur Ruhe zu bringen.

Joachim, der schon alle Gefahr überstanden glaubte, schonte sich aber nicht genug; er sprang einmal im Zorn aus dem Bette, als des Nachts Korn eingefahren wurde und nicht sofort eine Laterne zur Hand war. Da öffnete sich die Wunde aufs neue, es trat eine Entzündung hinzu, und in der fünften Woche nach jenem unglücklichen Sonntage sagte der Barbier, man möge den Pfarrer rufen, daß er dem Kranken das Abendmahl gebe, denn er werde den nächsten Tag nicht überleben. Joachim aber verzieh nun dem Peter Graumann freiwillig und unaufgefordert angesichts des Pfarrers und sagte auch dem Hennecke, der ihn immer zur Versöhnung gemahnt, er hege keinen Groll mehr gegen seinen Mörder. Er starb am 19. August.

Mit dem Tode seines Bruders ging eine auffallende Veränderung in Hennecke vor. Sonst der Pünktlichste und Fleißigste im Hause, ließ er jetzt die Arbeit liegen und streifte scheu und unstet durch Feld und Wald; ja er vergaß sogar das Vieh zu füttern. Die Nachbarn und Freunde mied er, und wenn ihm jemand begegnete, sah er in den Boden wie ein Hühnerdieb. Des Nachts schlief er nicht, sondern sprach mit sich selber. Den Klaus erfaßte ein Grauen; denn diese Bauern waren so redefaul, daß man ihnen am hellen Tage die nötigsten Worte aus dem Munde ziehen mußte; da war es doch ganz unheimlich und gegen die Naturgesetze, wenn Hennecke vollends gar die halbe Nacht mit sich selber sprach.

Zweites Kapitel

Am 21. August wurde Joachim Gülzow begraben, ganz Radesloe folgte dem Sarge; nur Peter Graumann wurde nicht im Geleite gesehen. »Er hat nicht den Mut, eine Schaufel Erde auf den Sarg zu werfen, der Tote würde sich im Grabe umdrehen«, so flüsterten die Leute.

Aber Peter war dennoch mit dabeigewesen. Ganz verstohlen schlich er hinter der Kirchhofsmauer herum und spähte aus dem Versteck eines großen Holunderbusches zum Grabe hinüber, und der Wind trug ihm die Worte des Pfarrers ins Ohr: »Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet!«, und er sang und betete auch ganz leise von fernher mit den anderen und sprang dann rasch davon, bevor das Leichengefolge den Gottesacker wieder verließ.

Kein Mensch hätte ihn erblickt, wenn nicht das Auge des jüngeren Bruders des Verstorbenen ins Weite geschweift wäre; es war nur eine Sekunde, da Klaus die flüchtige Gestalt vorüberhuschen sah, aber er hatte sie erkannt.

Als darum die Leidtragenden schweigend ins Trauerhaus zurückgingen, flüsterte er dem älteren Bruder zu: »Peter Graumann stand hinter der Mauer; er ist querfeldein zum Walde gelaufen. Wir wollen ihm nachgehen und unseren Joachim von ihm zurückfordern, denn der hat ungerächt keine Ruh' im Grabe.«

Hennecke aber erwiderte streng und kalt: »Joachim hat Ruhe; er weiß, daß der Totschläger seinen Richter finden wird, nicht bloß droben, sondern auch hier unten, und zwar bald. Uns ziemt es nicht, zu richten. Wenn wir jetzt mit Peter sprechen, dann gibt es Streit, und wenn wir jetzt mit ihm streiten, dann gibt es Mord und Totschlag. Sollen wir Mörder werden, weil Peter ein Totschläger gewesen ist?«

Kaum hatte Hennecke dieses Wort gesprochen, da trat ein fremder alter Mann mit langem Bart zu ihnen heran; er sah matt und elend aus, bestaubt und abgerissen, als komme er von weiter Wanderschaft, und führte ein zartes, bleiches Mädchen an der Hand, ein Kind von zwölf Jahren, welches sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen zu halten vermochte.

Bescheiden bat der Alte die beiden Brüder, daß sie ihm und dem Kinde doch auf ein paar Tage Obdach geben möchten und Arbeit bei der Ernte, damit sie wieder einmal satt zu essen bekämen, denn sie seien mittellos und ungefreundet in diesem Lande. Seine Mundart aber klang so fremd, daß ihn die Brüder kaum verstanden.

»Woher kommt Ihr?« fragte Klaus.

»Vom Oberrhein.«

»Und wohin des Weges?«

»In die weite Welt.«

»Und was willst du danach beginnen, wenn wir dir nur auf so kurze Zeit Arbeit und Obdach geben?«

»Genug, daß wir für morgen sorgen. Kann nicht schon übermorgen jene Zeit kommen, da keine Zeit mehr ist?«

»Die Ernte ist bald vorüber.«

»Kann nicht schon vorher jener größere Erntetag anbrechen, von welchem geschrieben steht: ›Der Tag zu ernten ist gekommen; denn die Ernte der ganzen Welt ist dürre geworden?‹«

Hennecke schob den seltsamen Alten rauh zur Seite, dessen Worte er, in seine Gedanken versunken, gar nicht gehört zu haben schien, und sprach ungeduldig zu Klaus: »Laß das Plaudern, wir haben Wichtigeres zu tun!« und zog ihn eilend mit sich hinweg.

Der Alte aber blieb schweigend stehen, ohne daß die kalte Abweisung irgendeinen merkbaren Eindruck in seinen Zügen zurückließ; nur dem Mädchen traten die hellen Tränen in die Augen. Hennecke heftete im Fortgehen noch einen festen Blick auf das still weinende Kind; allein es schien, als habe er sie trotzdem gar nicht gesehen.

Kaum zu Hause angelangt, ging Hennecke, ohne jemand eine Silbe davon zu sagen, nach Reinbeck aufs Amt und erhob dort Klage gegen Peter Graumann, der seinen Bruder Joachim ums Leben gebracht habe. Er kam erst nach Mitternacht wieder heim und weigerte seinem Bruder jede Auskunft, wo er gewesen sei.

Als die Brüder des anderen Morgens sich zu ihrem Tagewerk rüsteten, sagte Hennecke zu Klaus: »Hat sich uns nicht gestern ein fremder Mann mit einem Kinde zur Erntearbeit angeboten? Mir fällt eben ein, daß wir sie brauchen könnten, denn Joachim fehlt uns, und ich tauge nichts zur Arbeit. Und das Kind weinte, als ob es in Not sei, jetzt sehe ich erst die Tränen in seinen großen blauen Augen. Oder sah ich sie nicht auch gestern? Wir wollen den armen Leuten helfen.«

Klaus meinte, der Entschluß komme wohl zu spät; wo möge man nun die beiden finden?

Hennecke dagegen sprach: »Ich bin freilich langsam von Begriff, und die besten Gedanken kommen mir immer hinterher. Aber man soll sich auch Zeit lassen. Indes will ich ausgehen und den fremden Mann mit dem armen Kinde suchen.«

Nachdem er einen halben Tag gesucht, fand er sie auch richtig in der Scheune eines Nachbardorfes, wo sie sich eben an geschenktem Brote sättigten, und redete ihnen freundlich zu und brachte sie am Abend mit nach Hause; dort wies er ihnen die Schlafstätte des verstorbenen Bruders an. Und da sie gar zu elend waren von der Mühsal und Entbehrung langer Wanderschaft, so gönnte er ihnen vorerst einen Tag Ruh' und Pflege, damit sie wieder zu Kräften kämen, und zeigte ihnen dann auf dem Felde, wie sie helfen sollten das Korn einbringen: der Alte bei den Schnittern, das Kind bei den anderen Kindern, welche die Schwaden zu den Garben trugen und die zerstreuten Ähren lasen.

Drittes Kapitel

Das Amt hatte Henneckes Klage angenommen, Peter Graumann wurde schon am nächsten Morgen eingezogen und die Zeugen vorgefordert. Die Sache nahm rasch ihren geweisten Weg.

Während sonst ein solcher Prozeß doch auch den Kläger aufzuregen und aus dem gewohnten Geleise des täglichen Lebens zu drängen pflegt, ging es bei Hennecke umgekehrt. Je öfter er mit den Zeugen vor Amt geladen wurde, je mehr man von dem Prozesse sprach, je näher die Entscheidung rückte, um so frischer griff er wieder die Arbeit an; er schweifte nicht mehr träumend durch Feld und Wald und sah nicht mehr unter sich in den Boden; auch sein gesunder Schlaf kam zurück, und statt nachts mit sich selbst zu sprechen, sprach er wieder bei Tage mit anderen Leuten.

So verging eine Woche.

Da saß Hennecke eines Abends auf der Bank hinterm Hause und ruhte sich aus; er hatte heute besonders scharf gearbeitet, und der fremde Alte, welcher gleich eifrig mitgetan, saß neben ihm; das Kind spielte seitab mit einem jungen Hunde. Hennecke hatte den rätselhaften Gast noch mit keinem Worte ausgefragt über Herkunft und Schicksal; er wußte nur, daß der Alte Matthias Plattner heiße und daß das Mädchen – Martha – eine Waise sei und seines Bruders Tochter. Wozu brauchte er noch mehr zu wissen?

Nach langem Schweigen begann Hennecke ein kleines Gespräch, natürlich von seinem Prozeß; wovon hätte er auch sonst sprechen mögen? Er meinte, Peter Graumann sei schon so gut wie verurteilt, denn vier Zeugen hätten in der Voruntersuchung bereits gegen ihn geschworen. Er hielt inne und sah Matthias fragend an. Aber Matthias schwieg. Darauf rief Hennecke in steigendem Ton: »Ich meine, vier Eide! Das ist ein Wort!« Er machte abermals eine Pause und blickte erwartend auf den Alten. Der aber schwieg wiederum. »Was sagt Ihr zu vier Eiden?« fragte Hennecke aufgebracht.

Matthias Plattner erwiderte ganz ruhig: »Ich sage, daß vier Eide vier Sünden sind; denn es steht geschrieben: Ihr sollt aller Dinge nicht schwören, eure Rede sei ja, ja – nein, nein.«

Hennecke fuhr auf: »Und wie soll man einen Rechtsstreit führen ohne Eid?«

»Ich verstehe nichts von Rechtsstreiten«, entgegnete der Alte.

»Haltet Ihr's vielleicht auch für eine Sünde, wenn man sich Recht schafft auf dem Rechtswege?«

»Ich halte es für unchristlich, meinen Nächsten zu verklagen.«

»Ihr Oberrheiner haltet es wohl für christlicher, durch Fehde und Gewalt den Tod eines Bruders zu rächen?« rief nun Hennecke in zornigem Spott.

Schnell, doch immer ruhig antwortete Matthias: »Fehde und Gewalt wie aller Krieg ist noch unchristlicher als ein Prozeß und ein Eid.«

Hennecke staunte. »Guter Mann«, sprach er dann nach langem Sinnen, »Euch muß niemals jemand ein Unrecht getan haben, geschweige daß die Rache für den Tod eines Bruders auf Eurer Seele brennte!«

Hierauf erwiderte Matthias Plattner: »Glaubet mir, ich hätte den Mord nicht eines Bruders, sondern vieler hundert Brüder zu rächen; allein es steht geschrieben: ›Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr!‹ Und ob mir selbst kein Unrecht geschehen sei? Blicket her!« Und er entblößte Arm und Schulter und zeigte viele tiefe Narben, wie sie von den Marterwerkzeugen der Folterkammer zurückzubleiben pflegen.

Dann sagte er Hennecken leise ins Ohr, daß es Martha nicht höre, die daneben mit dem Hunde spielte: »Für dieses Kind hätte ich einen Vater zu rächen, der mein Bruder war. Das Kind weiß, durch wessen Hand es seinen Vater verloren hat. Es trauert, aber es zürnt nicht und weiß in seinem unschuldigen Herzen noch nichts von Rache. Wir aber sollen werden wie die Kindlein.«

Hennecke war durchaus nicht neugierig, sonst hätte er jetzt den Alten wenigstens gefragt, was er mit diesen dunkeln Worten meine. Allein er dachte nur an seinen Prozeß, und mit dem wunderlichen Manne war ja gar nicht von Prozessen zu reden. Doch würde er nach seiner Art vielleicht nächste Woche auf den Gedanken gekommen sein, Matthias zu fragen, wie denn Martha eigentlich ihren Vater verloren habe.

Aber am nächsten Morgen überraschte ihn Klaus mit einer Nachricht, die ihn alles andere vergessen ließ. Er erzählte ihm, daß Peter Graumann wieder auf freiem Fuße sei; er habe ihn soeben in seiner Haustür stehen sehen. Hennecke wollte es gar nicht glauben; aber während er noch zweifelnd auf die Straße blickte, ging Peter in eigener Person vorbei und schaute so trotzig zum Fenster herein, als wolle er sagen: »Jetzt fürchte ich euch da drinnen nicht mehr!«

Hennecke stand versteinert. Klaus wollte hinaus und Peter befragen, wie er denn frei geworden sei, und griff auch gleich zum Messer, um etwa eine ungehörige Antwort verbessern zu können. Doch Hennecke hielt ihn zurück und rief: »Du bleibst, und ich gehe! Aber nicht hinter dem Mörder drein, sondern aufs Amt nach Reinbeck. Ich muß doch erfahren, ob es noch Recht und Gerechtigkeit in der Welt gibt!«

Und er ging nicht, sondern er rannte; in einer Stunde schon war er auf der Amtsstube. Den Amtmann fand er da freilich nicht; denn er war weit über Land geritten zu einer fröhlichen Hirschjagd. (Er fühlte sich überhaupt das ganze Jahr im Freien wohler als in der Amtsstube.) Dagegen saß die Amtmännin, Frau Beate, am Gerichtstisch und kramte in den Akten, während der Amtsschreiber in der Ecke kauerte und ihr Kind wiegte.

Nach kurzem Gruß fragte Hennecke den Schreiber, wie es denn mit seiner Klage gegen Peter Graumann stehe und warum Peter wieder auf freiem Fuße sei.

Der Schreiber wollte antworten, allein Frau Beate nahm ihm das Wort vom Munde: »Ich will Euch Bescheid geben, Hennecke; über die Woche werdet Ihr ihn ohnedies schwarz auf weiß erhalten. Auf Befehl des Amtes ist Eure Klage abgewiesen und das Verfahren gegen Peter Graumann eingestellt; er befand sich in gerechter Notwehr und hat auch gar nicht nach Joachim gestochen, sondern Euer Bruder hat sich selbst das Messer ins Bein gerannt. Überdies starb dieser erst nach fünf Wochen, die Gefahrtage waren längst vorüber, die Wunde geheilt, und der Verwundete zog sich hinterher den Tod durch seine eigene Unvorsichtigkeit zu. Also ist Peter der Klage ledig – von Rechts wegen.«

Hennecke konnte vor Staunen lange kein Wort finden; er mußte sich die kurzen Sätze erst zergliedern, verbinden, sie von vorn nach hinten und von hinten nach vorn wiederholt durchdenken, bis er den Zusammenhang des Urteils begriff, welches so ganz von seinem eigenen Urteil verschieden war.

Dann aber rief er rasch, und wilde Leidenschaft durchzitterte seine Stimme: »Und also soll mein erschlagener Bruder ungerächt bleiben?«

»Das sage ich nicht«, entgegnete Frau Beate gelassen und blickte ihn lächelnd an mit ihren stechenden grauen Augen. »Das Gericht hat getan, was es tun mußte. Ihr werdet nun ja selber wissen, was Ihr zu tun habt, Ihr und Euer Bruder Klaus.«

Ohne ein Wort weiter zu verlieren und ohne Gruß entfernte sich Hennecke. Seine Füße trugen ihn nach Hause; allein er wußte selbst nicht, wie er eigentlich hingekommen war. Seine Gedanken drehten sich unterwegs unablässig im Kreise. Er hatte bis dahin geglaubt, ein Gerichtshaus sei ein Heiligtum so gut wie die Kirche, und jetzt hatte ein vorwitziges Weib am Altar dieses Heiligtums gesessen, und der eine Priester des Rechts war seinem Vergnügen nachgelaufen, während der andere ein Kind wiegte. Konnte aber nicht trotzdem die Abweisung der Klage durch das Amt wohlbegründet sein? Hennecke vermochte dies sich gar nicht vorzustellen, er vermochte es nicht zu fassen, daß etwas anderes Recht sein könne, als was er sich fort und fort so steif und fest als sein Recht gedacht hatte. Sein Bruder Klaus war ihm bis dahin wie ein toller Junge erschienen, da er sich nach roher alter Weise stracks mit Prügel und Messer Recht schaffen wollte; er deuchte sich ihm gegenüber der reifere Mann, der Sohn einer reiferen, besseren Zeit, die das Recht nur noch aus der lauteren Quelle des kundigen, unbestechlichen öffentlichen Gerichts geschöpft wissen wollte, in welchem »fromme Holsten«, echte angesessene Bauern, den Wahrspruch fällten. Und der Amtmann hatte es hintertrieben, daß ihm und dem getöteten Bruder Recht geschaffen werde durch dieses Volks- und Gottesgericht! Nun war am Ende doch der jähe Klaus gescheiter gewesen und brüderlicher gesinnt gegen den erschlagenen Bruder wie er in all seiner lahmen Weisheit! Hatte dies nicht sogar die Amtmännin angedeutet, hatte sie nicht gesagt: Ihr werdet nun ja wohl selber wissen, was Ihr zu tun habt – nämlich um den Bruder zu rächen? Ein salomonischer Spruch des widerlichen Weibes! Er bewunderte sie jetzt fast wegen dieser Worte. Aber dann faßte ihn wieder ein Abscheu vor der Frau, die ihm den Tempel des Rechts entweiht hatte, jenes Amthaus, wo er so gewiß das Recht, sein Recht zu finden gehofft wie die Seligkeit im Himmel. Und so waren seine Gedanken wieder zum Anfang des Kreises gekommen, den sie aufs neue durchliefen.

Daheim erwachte er wie aus einem Traum, als plötzlich der alte Matthias Plattner mit dem Mädchen vor ihn trat, unter Dankesworten bittend, daß er sie nun weiterziehen lassen möge; die Ernte sei eingebracht, und sie seien in seinem Hause nichts mehr nütze.

Hennecke hatte keinen Grund, die Leute länger zu behalten; doch hieß er sie noch eine Weile warten, weil er ihnen noch ein paar Pfennige und Brot mit auf den Weg geben wollte. Während aber Klaus hineinging, beides zu holen, konnte Hennecke den Blick gar nicht wegwenden von dem Kinde, welches ihn mit seinem guten großen Auge so treuherzig ansah, und ihm war, als streiche ihm ein kühlender Hauch des Friedens über die glühende Stirn. Da entsann er sich, gestern abend im Anschauen dieses Kindes Ähnliches empfunden zu haben, und die seltsamen Worte des Alten dämmerten dunkel in seiner Seele auf.

»Habt Ihr nicht gestern gesagt«, so fragte er nun den Mann, »das Mädchen habe auf traurige Weise seinen Vater verloren? Wie ging das zu?«

»Die Geschichte wäre zu lang, daß ich sie jetzt erzählen könnte«, entgegnete Matthias. »Und da kommt Euer Bruder zurück mit Euren freundlichen Gaben. Auf Wiedersehen hier oder dort! Ein anderer wird Euch unsere Schuld zahlen, wenn er an jenem Tage sprechen wird: Ich bin hungrig gewesen, und Ihr habt mich gespeiset!«

Sie schieden unter Händedruck. Hennecke wollte die Hand des Kindes lange nicht loslassen. Er sah den Wanderern sinnend nach, bis sie an der Straßenecke verschwanden.

Viertes Kapitel

Matthias Plattner kam nach seinem Abzüge ins Gerede des ganzen Dorfes. Die Bauern meinten, er müsse anderswo wohl schlimme Dinge verübt haben, da er so heimlich und schweigsam getan und gekommen sei wie aus dem Boden gewachsen und wieder verschwunden wie vom Winde verweht, man wisse nicht woher und wohin.

Hennecke nahm keinen Teil an diesen Gesprächen, er schien die beiden Wanderer sofort wieder vergessen zu haben.

Der Pastor schloß aus einzelnen seltsamen Reden des Matthias, derselbe möge wohl gar ein Wiedertäufer gewesen sein. Wurden doch diese armen Leute, welche längst dem tollen Wesen ihrer Vorfahren Münsterischen Andenkens entsagt hatten, damals allerorten so grausam verfolgt! Allein er behielt seine Gedanken für sich; denn als ein milddenkender Mann wollte er auf diesen bloßen Verdacht hin den Flüchtlingen, die vielleicht noch im Lande weilten, nicht neue Verfolgung bereiten.

September und Oktober vergingen, das Laub färbte sich und fiel, der Herbstwind wehte über das kahle Feld; er schien auch die Erinnerung an den ungerächten Tod Joachim Gülzows verweht zu haben; nur wenige sprachen noch davon, Hennecke Gülzow am wenigsten.

Er hatte sich in seinem Hof eine hohe Stange aufgestellt und an der Spitze einen toten Raben befestigt, nach diesem Vogel schoß er jeden Abend mit einer Büchse, bis er ihn sicher traf. Als ihm einmal die Nachbarskinder zusahen und ihn fragten, warum er denn nach dem Vogel schieße, der schon lange tot sei, rief er statt der Antwort: sie sollten zu Peter Graumann gehen und ihm erzählen, was sie hier gesehen hätten, der werde wissen, warum er sich übe, nach Galgenvögeln zu schießen.

Die Kinder liefen sofort zu Peter und richteten lachend den Auftrag aus.

Bald nachher drang Hennecke mit seinem Bruder in das Haus Peters, fand ihn aber nicht daheim. Einem Knechte, der am Herdfeuer saß, befahlen sie, seinem Herrn zu sagen, er solle sich in acht nehmen, daß er ihnen nicht außerhalb des Dorffriedens begegne; denn wo sie ihn dort träfen, würden sie ihn »feinden«. Das sei ihm nun in aller Form angekündigt.

Peter getraute sich seitdem nicht mehr ohne Begleitung aus dem Dorfe. Er kaufte sich ein altes Feuergewehr und übte sich auch seinerseits im Schießen.

Die holsteinischen Bauern der damaligen unsicheren Zeiten trugen, wenn sie über Land gingen, statt des Stockes einen Spieß. Neuerdings sah man jedoch die Brüder Gülzow sogar im Dorfe niemals ohne den Spieß ausgehen, und demgemäß wagte sich auch Peter Graumann nicht mehr vor die Haustür ohne den Spieß.

Hennecke schien sich übrigens Zeit zu lassen mit dem tatsächlichen Beginn der angekündigten Fehde; denn der Winter kam ins Land und Weihnachten und Neujahr, ohne daß etwas Weiteres geschah.

Da dachte Peter Graumann, im alten Jahre habe er sich nun genug gesorgt wegen der gedrohten Fehde, und es sei doch gar zu langweilig, auch im neuen Jahr Dorfarrest zu haben und immer nur mit dem Spieße von Haus zu Haus zu gehen, dem Ding müsse ein Ende gemacht werden. Er beschloß, sich um Schutz an das herzogliche Amt in Reinbeck zu wenden.

Also brach er am 5. Januar früh vor Tagesanbruch auf, wohlbewaffnet mit Spieß und Messer samt dem Feuergewehr und von einem Vetter, Eilert Behne, begleitet, und ging nach Reinbeck. Die Gülzows mußten aber Wind bekommen haben von seinem Gange, denn als es hell wurde auf der weiten Schneelandschaft, sah Peter, daß die beiden Brüder mit ihren Spießen eilends hinter ihnen dreinkamen; doch gelang es ihm, Reinbeck und das Amthaus noch vor den Verfolgern zu erreichen.

Der Amtmann war wieder nicht da, sondern vor einer halben Stunde auf den »Kieler Umschlag« geritten, der am Dreikönigstage eingeläutet wird, die Jahresbörse der holsteinischen Gutsbesitzer, und hatte den Amtsschreiber mitgenommen. Dagegen saß Frau Beate in der Gerichtsstube. Es blieb darum Peter nichts übrig, als der Frau Amtmännin seine Not zu klagen und um ihren Schutz zu bitten.

Beate schien anfangs dem Wunsche Peters nicht abgeneigt, der ein reicher Mann war und auch bereits das Geld in der Tasche klingen ließ. Um die Sache recht dringlich zu machen, erwähnte er aber unklugerweise, daß die Gülzows bewaffnet hinter ihm hergelaufen seien und sich bereits in Reinbeck befänden, ja wahrscheinlich vor dem Amthause lauerten. Als Beate dies hörte, ward sie plötzlich ganz anderen Sinnes und rief: »Ich wollte, daß Ihr nicht hierhergekommen wäret! Wie hat Euch denn der Teufel zu mir führen müssen? Ich kann nicht helfen. Kommt in vierzehn Tagen wieder, wann der Kieler Umschlag zu Ende ist; dann wird mein Mann Euch versöhnen mit den Gülzows.«

Peter wurde dringender und bat wenigstens für heute um ein Asyl im Amthause; allein nun ward auch Beate ganz wild und sagte, er solle sich aus dem Hause packen.

Es blieb ihm keine Wahl; er ging. Als er aus dem Amthause trat, waren die Gülzows verschwunden. Doch weilte er zu mehrerer Sicherheit den ganzen Tag noch in Reinbeck, und da man ihm sagte, die Gülzows seien gegen Hamburg gegangen, so trat er abends in entgegengesetzter Richtung den Heimweg an, immer von seinem Vetter begleitet.

Ungefährdet gelangten sie bis nahe bei Radesloe; es war schon dunkel geworden, und sie hatten nur noch ein Wäldchen vor dem Dorfe zu kreuzen. Dort eilten plötzlich die beiden Gülzows zur linken Hand vorüber und boten ihnen einen guten Abend, und Peter erwiderte: »Gott geb' euch einen guten Abend!« Hierauf schritten ihnen die Gülzows vor. Allein nach einer kleinen Weile wandten sie sich wieder um – es war bei einer großen Birke –, vertraten ihnen den Weg und riefen: »Wer seid ihr?«

Eilert Behne, dem das Herz in die Schuhe fiel, antwortete zitternd: »Gute Freunde!«

Hennecke aber rief: »Da wissen wir besseren Bescheid. Peter Graumann, wehre dich!«

Kaum hörte Behne diese Worte, so warf er seinen Spieß weg, lief davon und rief seinem Vetter zu: »Peter, wenn du laufen kannst, so lauf!« Peter versuchte auch zu entfliehen, allein die Gülzows waren hinter ihm her mit eingelegten Spießen und schrien: »Wir fordern das Blut unseres Bruders!«

Da kehrte sich Peter um und feuerte sein Gewehr auf die Verfolger, dessen Kugel Hennecke leicht streifte. Nun aber sprangen diese vor und stachen ihn nieder.

Eilert Behne hatte im Fliehen noch genug gehört, um den Ausgang zu wissen; er erreichte äußerst geschwind das Dorf und rief die Bauern zusammen, die mit dem Barbier an die nahe Unglücksstätte zogen. Sie fanden Peter bereits tot, von vielen Stichen durchbohrt.

Die Gülzows waren verschwunden.

Fünftes Kapitel

Der Vorfall überraschte keinen Menschen in Radesloe, man hatte dergleichen längst erwartet. Die Meinung der Bauern war geteilt, die meisten aber gaben den Gülzows recht; denn da das Gericht den erschlagenen Bruder nicht gerächt habe, so sei es ihre Pflicht gewesen, die Rache selber zu übernehmen. Hennecke und Klaus gingen ihrer Arbeit ganz ruhig wieder nach, als ob nichts geschehen sei.

Die Verwandten Peter Graumanns verklagten die Gülzows beim Amte zu Reinbeck wegen Mord, aber ohne Erfolg. Das öffentliche Gericht erkannte dort, daß diesmal die Gülzows sich in gerechter Notwehr befunden hätten, da Peter zuerst geschossen, ja Hennecke verwundet habe, der ihn doch nur mit Worten bedroht, und sprach die Brüder frei. Die Kläger hätten noch an die »vier Dingbauern« in Neumünster appellieren können; doch ein gewiegter Jurist widerriet es ihnen, da sie dort keinen besseren Entscheid finden würden. Es handle sich hier überhaupt nicht um Mord, sondern um Landfriedensbruch, und der rechte Gerichtshof für ein so hochpolitisches Verbrechen sei das Reichskammergericht in Speyer. Denn ob Fürsten und Herren den Landfrieden brechen, Fehde ansagen und Krieg führen oder ein Bauer, das gelte gleich. Nach Speyer sollten sie sich wenden, dort bei Kaiser und Reich würden sie Recht finden.

Die Graumanns waren ebenso reiche und stolze Leute wie die Gülzows, nicht minder steif und fest in der Behauptung ihres Rechts, nicht minder pflichteifrig, den Tod ihres Verwandten zu rächen. Sie befolgten den Rat und erhoben die Klage in Speyer, wo dieselbe auch angenommen wurde. Beide Parteien wählten sich ausgezeichnete Männer zur Führung ihrer Sache bei dem hohen Gerichtshofe, die Graumanns den niedersächsischen Rat Krause in Lauenburg, die Gülzows aber mit noch höherem Trumpfe gar den schleswig-holstein-gottorpischen Kanzler Tratziger.

Hennecke war ganz stolz auf »seinen Prozeß«, wie er ihn nannte, ja er freute sich über denselben, daß man hätte meinen sollen, nicht er sei der Beklagte, den im schlimmen Fall die schwerste Strafe erwartete, im besten die bloße Freisprechung, sondern er habe wunder was dabei zu gewinnen. Allein er hoffte in der Tat auf einen hohen Gewinn, nämlich auf sein Recht, und in den öffentlich anerkannten Besitz dieses Rechtes hatte er sich so tief hineingegrübelt, daß er nicht hätte leben mögen und sterben können, außer es wäre ihm vorher von Amts wegen attestiert gewesen, er habe ein Recht gehabt, den Peter Graumann zu fehden und totzustechen. Er schimpfte jetzt auf die miserablen Amtleute der kleinen Landesgerichte, die dem Teufel nichts taugten, aber vom kaiserlichen Gericht erhoffte er das wahre Recht, die Bestätigung seines Fehderechtes.

Es verlief freilich Jahr um Jahr, ohne daß der Prozeß in Speyer merkbar vorwärtsrückte; Hennecke bewunderte darob das Reichskammergericht, war es doch noch viel langsamer zu Wort und Tat wie er selber. Da sehe man die echte Gründlichkeit, in Reinbeck habe der Amtmann vordem alles übereilt und verhudelt; wäre der gründlicher und langsamer gewesen, so hätten sie den Peter Graumann gar nicht totzuschlagen gebraucht. Der Prozeß in Speyer kostete beiden Parteien ein sündhaftes Geld; Hennecke arbeitete um so fleißiger, lebte um so sparsamer und zahlte mit Freuden. Er sagte stolz, wenn neue Summen gefordert wurden: »Einen anderen hätte das ewige Bezahlen längst an den Bettelstab gebracht, ich kann mir das Vergnügen gönnen.« Nur konnten es leider die Graumanns ebensogut.

Hennecke ließ sich auch genau belehren über den Geschäftsgang des Reichskammergerichts und redete viel von Extrajudizial- und Judizialsenaten, von Rezessen, Rotuln, Narratis, Kompetenz, artikulierter Darstellung, von Sessionen und Audienzen. Besonders die Audienzen imponierten ihm. Er erzählte, bei so einer Audienz in Speyer, wo auch gegen die Gülzows verhandelt werde, sitze der Präsident, vom Kaiser aus dem hohen Adel erwählt, unter einem Thronhimmel gleich einem Könige. Das sei ein Gericht, wovor man Respekt haben müsse. Weiber kämen dort gar nicht hinter die Akten, und Kinder würden noch weniger im Gerichtssaale gewiegt, der so hoch und herrlich sich aufbaue wie das Schiff der Hamburger Petrikirche. Der Kammerrichter habe fünfundzwanzig Beisitzer, wie könne da eine Dummheit vorkommen? Und sein, des Beklagten, Advokat sei, wie allbekannt, der schleswig-holstein-gottorpische Kanzler, da dürfte doch seine Sache nicht zu den schlechtesten zählen. Übrigens sei es an sich schon eine Ehre, wegen Landfriedensbruches verklagt zu werden; denn solch eine Anklage werde nicht den kleinen Spitzbuben zuteil, sondern gewöhnlich nur den großen Herren. Auch der Strafantrag laute auf etwas Großes und Ehrenvolles, auf die Reichsacht. Grafen und Herzöge könnten in der Reichsacht liegen, ohne daß dies ein Stäubchen auf ihre Ehre werfe, ja sogar den Doktor Martin Luther habe man Anno 21 mit dieser Auszeichnung bedacht.

Der Prozeß hinderte inzwischen den Klaus Gülzow nicht, sich zu verheiraten. Hennecke blieb ledig; boshafte Leute meinten, er sei ja schon verheiratet, nämlich mit seiner Rechtssache, und jeder Christ müsse sich mit einer Frau begnügen.

So verflossen über elf Jahre, und außer den Nächstbeteiligten redete bereits kein Mensch mehr von dem Prozesse Graumann gegen Gülzow, der von einem Jahr ins andere lief und doch nicht von der Stelle kam. Wenn Hennecke unter alten Freunden von Speyer zu erzählen begann, dann hörte ihm niemand mehr zu, man konnte es schon auswendig, was er zu sagen pflegte. Das jüngere Geschlecht wußte kaum mehr etwas von der traurigen Geschichte Joachim Gülzows und Peter Graumanns; waren doch seitdem auch andere Totschläge genug im Lande vorgefallen!

Sechstes Kapitel

Am schwülsten Augusttage des Jahres 1588 gingen Hennecke und Klaus die Reinbecker Straße durch das Wäldchen hart bei Radesloe. Die einst so frischen Bursche waren jetzt feste, gestandene Männer, Hennecke vierzig, Klaus sechsunddreißig Jahre alt; doch hatten sich beide wenig verändert, nur daß Henneckes Züge starrer und härter geworden, wie in Stein gegraben.

Die Brüder kamen von Kiel, wo sie sich mit ihrem Anwalt, dem Kanzler, beraten hatten. Nach achttägiger Abwesenheit eilten sie, nun dem Heimatdorfe so nahe, mit verdoppeltem Schritt.

Vom völlig wolkenfreien Himmel warf die Sonne ihre grellsten Lichtblitze durch die Buchenzweige, die Mittagsglocke von Radesloe hatte eben ausgeklungen, es war so still im Walde, daß man den letzten Ton noch lange nachsummen hörte. Kein Vogel sang, kein Blatt rauschte, nur die Tritte der beiden Wanderer hallten durch den schweigenden Forst, und keiner sprach ein Wort zum anderen.

Da blieb Hennecke plötzlich stehen, lauschte lange und flüsterte dann seinem Bruder ins Ohr: »Klaus, vernahmst du die Stimme aus dem Busch?«

Klaus hatte nichts gehört.

Hennecke schüttelte den Kopf. »Die Stimme klang ganz deutlich. Sie sagte: ›Der Bote von Speyer ist schon unterwegs; aber der Prozeß wird erst in der Ewigkeit spruchreif‹. So sagte sie. Ich kenne die heisere Stimme – es war Peter Graumann!«

Klaus faßte den Bruder beim Arm und rief laut: »Hennecke, träumst du? Oder sind deine Ohren krank? Am hellen Mittag schlafen die Gespenster, und Peter Graumann spricht schon seit elf Jahren kein Wort mehr.«

Doch Hennecke stieß den Bruder zornig hinweg. »Ich bin kein Kind und kein Träumer und habe keine kranken Ohren, in welchen die Furcht Worte anschlägt, die nie gesprochen wurden. Fühle meinen Arm, die Ader klopft wohl stark, aber dennoch ruhiger wie die deinige. Ich sage dir: Peter Graumann spricht von Zeit zu Zeit mit mir, ich könnte seine Unterhaltung nachgehends gewöhnt sein.«

Klaus hatte noch nie etwas von dieser Geisterzwiesprach seines Bruders erfahren. Erstaunt fragte er, seit wann er denn Peters Stimme vernehme.

»Seit zehn Jahren.«

»Und du hast mir nie davon erzählt?«

»Ich nahm mir's gleich anfangs vor, allein man muß sich Zeit lassen; nun weißt du's ja!«

Ein kalter Schauer überlief Klaus. War sein Bruder am Ende gar verrückt geworden? Hennecke mochte einen solchen Gedanken ahnen.

»Ich bin bei klaren Sinnen, Klaus, und fürchte mich nicht, gerade hier an dieser Stätte den ganzen Vorgang aufs klarste vor Augen zu sehen. Hier steht die Birke, hier haben wir am 5. Januar vor elf Jahren den Peter erstochen; damals schatteten die Zweige des Baumes kaum auf den Weg, jetzt überdachen sie ihn ganz. Hier lag er auf dem Schnee. Ich sehe alles so genau vor mir, wie ich's am Jüngsten Tage sehen und bekennen werde. Wir gaben dem Toten ein jeglicher noch drei Stiche, zum Zeichen, daß wir's gemeinsam getan und ein Recht, ja die brüderliche Pflicht hatten, ihn totzuschlagen. Und als der Barbier die Leichenschau vornahm, da rief er: ›Der Mann ist ja zugerichtet wie ein Fisch, den man auf dem Roste braten will!‹ Aber die halbe Gemeinde lobte uns, und das Gericht hat uns freigesprochen. Doch seit die Graumanns in Speyer klagten, regt sich Peter wieder und spricht unsichtbar mit mir. Die vielen Stiche konnte er ertragen, aber so einen Reichskammergerichtsprozeß erträgt selbst ein Gespenst nicht. Es dauert ihm zu lange, er wird ungeduldig wie ich selber. Zwar muß ich's billigen, daß das Kammergericht langsam und gründlich vorgeht, aber ehrlich gesagt, ich wünschte doch auch, daß sie dort jetzt bald zum Schlüsse kämen, weil mir Peters Gerede zuviel wird. Denn ist der Prozeß zu Ende, dann wird auch Peter Graumann Ruhe haben.«

»Jawohl«, sagte Klaus, »und bis dahin haben wir alle Ruhe – im Grabe und unsere Kinder und Enkel dazu. Aber wie oft spricht denn Peter mit dir und zu welcher Zeit?«

Hennecke antwortete: »Dies geschieht immer nur um Mitternacht oder um Mittag. Sind andere Leute zugegen, dann hören sie seine Stimme nicht. Er benachrichtigt mich, wann der Prozeß einen Ruck vorwärts tut und ein Bote von Speyer abgeht, er wird mir auch das Urteil zuerst verkünden. Peter war bis jetzt immer ganz gut unterrichtet, ein einziges Mal ausgenommen; denn auch die Toten irren sich mitunter.«

Nun begann auch Klaus zu glauben, daß die Zwiesprache wirklich vor sich gehe und nicht bloß in Henneckes Einbildung. Allein so sehr er sich um noch genauere Auskunft bemühte, konnte er doch kein weiteres Wort aus Hennecke herausbringen. Dieser redete nun ganz vernünftig von anderen Dingen und sprach auch später niemals wieder von seinen heimlichen Unterhaltungen mit Peter Graumann.

Niemand ahnte, welch furchtbare Kämpfe dieser starke und verschlossene Geist seit Jahren, mit sich selbst bestanden hatte und daß er in qualvollen Stunden dennoch öfters irregeworden war an seiner so ehrlich und reif erwogenen Pflicht, den Totschläger seines Bruders totschlagen zu müssen.

Siebentes Kapitel

Auch nach der Heirat des jüngeren Bruders bewohnten Klaus und Hennecke noch immer gemeinsam das väterliche Haus. Als sie eben von dem Gange nach Kiel heimkehrten, wurden sie von einer fremden Magd begrüßt, welche auf dem Flur arbeitete. Sie bot ihnen so freundlich lächelnd guten Tag, als sähe sie alte Bekannte wieder. Doch weder Hennecke noch Klaus wußten, wer das Mädchen sei. Erst da Klausens Frau herzutrat und berichtete, dies sei eine neue Magd, die sie gestern gedingt habe, sie komme aus Dänemark, behaupte aber, vor Jahren schon einmal hier im Hause gewesen zu sein, faßte Hennecke die Dirne schärfer ins Gesicht und rief, seltsam bewegt: »Das ist Martha!« und gab ihr die Hand.

Kein Mensch im Dorfe hatte jenes blasse arme Kind wiedererkannt, das inzwischen zu einer stattlichen, frischen Jungfrau aufgewachsen war, nur Hennecke erkannte sie an ihren großen blauen Augen, die waren unverändert geblieben. Und er hatte diese Augen, welche Frieden sprachen und um Frieden baten, so oft im Geiste gesehen, wenn er irrewurde an seinem Recht! Den alten Matthias Plattner hatte er fast ganz vergessen, nur verwehte Laute aus seinen wunderlichen Reden hafteten noch in seinem Gedächtnis. Er glaubte aber zuletzt, Martha habe dieselben gesprochen, und was ihm aus dem Munde des Alten Torheit gewesen war, das dünkte ihm jetzt Weisheit aus dem Munde des Kindes – nicht häufig, aber doch zuweilen. Dann blickte ihn das Kindesauge so unschuldig an, und jener kühlende Hauch des Friedens strich ihm über die heiße Stirn – wie dazumal!

Hennecke aber begrüßte Martha und gab ihr die Hand. Dies war die ganze Szene des Wiedererkennens. Dann ging er in Stall und Scheuer und fragte nicht einmal, wie denn Martha wieder hierhergekommen und wo sie inzwischen gewesen und was aus dem alten Matthias geworden sei. Klaus erzählte es ihm des anderen Tages unaufgefordert; Hennecke schien kaum zuzuhören, hörte aber doch.

Matthias und Martha waren vor zwölf Jahren von Radesloe nach Schleswig gegangen, wo der Alte, wohl infolge der erlittenen Mißhandlungen und Entbehrungen, jählings starb. Das verwaiste Mädchen taglöhnerte hierauf von Ort zu Ort, bis es in Dänemark für geraume Zeit einen Dienst auf einem Bauernhofe fand. Jetzt aber wieder brotlos, war sie gegen Süden gewandert, und als sie durch Radesloe kam, entsann sie sich der guten Aufnahme, die sie hier vor Zeiten bei den Gülzows gefunden; sie fragte an und wurde von Klausens Frau gedingt, weil sie so stark und wohl anzusehen war, sich auch am ersten Tage schon als geschickt und fleißig erwies.

Hennecke nahm keine Notiz von diesem Berichte und redete gleich darauf von ganz anderen Dingen.

Nach einigen Tagen fragte ihn Klaus, ob der Bote von Speyer noch nicht angekommen sei, den ihm Peter Graumann verkündet, und ob Peter inzwischen wieder mit ihm gesprochen habe.

Peter hatte sich seitdem nicht mehr vernehmen lassen, auch war kein Bote gekommen.

Es verstrichen drei Wochen; Hennecke hörte die Stimme nicht wieder. Sonst zog er mitternachts, wenn Peter unsichtbar zu reden begann, die Bettdecke über den Kopf und hörte doch jedes Wort durch die Bettdecke hindurch; jetzt dagegen richtete er sich, erstaunt über des Gegners langes Schweigen, Schlag zwölf Uhr im Bette auf, blickte hellen Auges in den Mond und wartete mit Aug' und Ohr auf Peter; allein er sah und hörte nichts mehr.

»Peter schweigt, seit Martha im Hause ist«, so sprach er dann zu sich selber, »sollte sie ihn von der Schwelle treiben?«

Hennecke blickte manchmal verstohlen auf Martha, und seine Gedanken waren öfter bei ihr als in Speyer. Er machte sich Vorwürfe darüber und zwang sich, an den Reichskammergerichtspräsidenten unter seinem Thronhimmel zu denken, wenn er Martha die Kühe melken sah. Allein es gelang ihm durchaus nicht, die Stalldecke in einen Thronhimmel und die Magd in einen Präsidenten zu verwandeln. Übrigens würdigte er sie selten eines Wortes, und das war das wunderbarste: er erzählte ihr nicht einmal von seinem Prozeß, von seinem Rechte; denn wenn er davon hätte erzählen wollen, so hätte er ja zuerst von dem Totschlage erzählen müssen, durch den er den berühmten Prozeß erworben hatte, und er getraute sich nicht, vor Martha von dem Totschlage zu reden, dessen er sich doch sonst vor aller Welt berühmte. Ja, es beruhigte ihn, daß Martha noch gar nichts von demselben wußte; sie kam wenig unter die Leute, und die hatten sich ja auch längst schon satt gesprochen über jene alte Geschichte.

An einem Samstag nach dem Feierabend setzte er sich auf die Bank im Hofe, rief die Magd herbei und sprach: »Vor zwölf Jahren stellte ich hier deinem Oheim Matthias eine Frage, die er mir in der Eile nicht beantwortete. Ich möchte jetzt die Antwort haben: Wie und durch wessen Hand verlorst du deinen Vater?«

Martha errötete und zögerte, dann aber sagte sie schnell gefaßt: »Durch Henkershand.«

Hennecke fuhr auf. Doch war er gleich wieder ruhig. »Erzähle mir, wie das geschah.«

Martha sprach: »Mein Vater und sein Bruder Matthias lebten als Weber in Mergenholzen am Oberrhein, welches zur Herrschaft Windsberg gehört. Sie waren mit anderen aus Mähren dorthin eingewandert und bekannten sich in der Stille zur gereinigten Lehre, während der Herr von Windsberg und seine Leute zum römischen Glauben hielten. Der Herr hatte aber einen Amtmann, der meinen Vater ganz besonders haßte, weil er ihm einmal gesagt hatte, es sei nicht recht, daß er seine Bauern zum Prozessieren verhetze und sich von ihrem Hader reich mache. Darum kam der Amtmann eines Nachts mit dem Schreiber und vielen Knechten nach Mergenholzen; sie banden uns an die Pferde, und wir mußten nebenherlaufen aufs Schloß. Dort wurde uns befohlen, von unserem Glauben abzustehen und römisch zu werden. Da sich mein Vater und Oheim dessen weigerten, wurden sie auf die Folter gelegt, und weil ich noch zu zart fürs Foltern war, mußte ich zusehen, wie sie gemartert wurden. Sie blieben ihrem Glauben treu, und nun sprach ihnen der Amtmann das Leben ab und berief sich auf des Kaisers Befehl an seinen gnädigen Herrn. Meinem Vater wurde der Kopf abgeschlagen, dem Oheim Matthias aber gelang es, mit mir aus dem Kerker zu entfliehen, und so kamen wir damals hierher. Der Vater aber hat vor dem Block dem Henker verziehen und dem Amtmann und dem gnädigen Herrn und dem Kaiser und ist freudig gestorben mit dem Gebet, daß Gott seinen Verfolgern die Sünden vergeben möge. So erzählte mir's mein Oheim oft, wie er's von den überall zerstreuten Glaubensgenossen gehört hatte; denn diese waren zahlreich unter den Römischen im Oberland und hätten sich wohl rächen können an dem bösen Amtmann. Aber sie taten's nicht, und auch mein Oheim sann keine Rache, da er doch den Bruder und Hab und Gut verloren hatte und wie ein Bettler in der Fremde schweifen mußte. Und auch mich hat er oft beten heißen für unsre Verfolger; denn die unrecht an uns getan, bedürfen unseres Mitleids und unserer Fürsprache.«

Hennecke schwieg lange vor Staunen und Bewegung. Dann sprach er: »Es scheint, das gute Recht ist doch rarer in deutschen Landen und selbst beim Kaiser, als ich dachte. Aber wäret ihr und euer Anhang gleichstark gewesen wie der Herr von Windsberg, so hättet ihr euch dennoch gerächt und Blut mit Blut gesühnt. ›Aug' um Auge, Zahn um Zahn‹, so heißt's in der Bibel.«

Darauf entgegnete die Magd: »Der Spruch, den Ihr anführt, steht im Alten Testament, im Neuen aber, welches stärker ist als das Alte, steht geschrieben: ›Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr‹. Und jener, der der Geißel willig seinen Rücken bot und am Kreuze rief: ›Vater, vergib ihnen!‹, war dennoch der Stärkste, welcher je auf Erden wandelte.«

Hennecke erwiderte nichts weiter und ging ins Haus.

Achtes Kapitel

Nach zwölf Jahren hatte Hennecke nun also doch die Geschichte zu Ende gehört, welche Matthias damals begann und in der Eile nicht vollendete. Man erfährt zuletzt alles, wenn man Geduld hat.

So trug Hennecke denn auch die vollendete Geschichte ein Vierteljahr mit sich herum und dachte darüber nach, ohne mit Martha weiter davon zu reden. Er sprach überhaupt nicht mehr viel mit der Magd; fast schien es, als ob er ihr aus dem Wege gehe.

Am ersten Weihnachtstag nach der Kirche sagte er seinem Bruder, er wolle ihm etwas Neues mitteilen, und lud ihn auf seine Stube, deren Tür er von innen verriegelte. Dann sprach er: »Klaus, ich will heiraten!«

»Und wen denn?«

»Martha!«

Klaus war starr vor Schreck über diese ungeahnte Neuigkeit. Ein Scherz konnte es nicht sein, denn Hennecke spaßte niemals; aber welche Martha meinte er? Es gab nur eine, die nur allzu nahe zu finden war, und Hennecke meinte eben diese.

Vergebens stellte ihm Klaus vor, wie tief er sich herabwürdige durch eine solche Heirat, er, der reichste Bauer, mit einer bettelhaften Magd, er, ein Mann, gegen den das Reichskammergericht wegen Landfriedensbruchs verhandle wie gegen einen kriegführenden großen Herrn, mit diesem hergelaufenen Ding, das vielleicht nicht einmal von ehrlichen Eltern stamme.

Alle Gründe verfingen nicht; Hennecke gab sich nicht einmal die Mühe, sie zu widerlegen, er beharrte einfach auf seinem Willen, und Klaus wußte, daß dieser nicht zu beugen sei. Doch schöpfte er einige Hoffnung, als Hennecke ihm zuletzt versicherte, er habe Martha noch kein Wort von seiner Absicht gesagt, sich auch sonst nicht das mindeste gegen sie merken lassen. Denn er halte es für Recht und Pflicht, zuerst seinem einzigen nahen Verwandten, seinem leiblichen Bruder, Kunde zu geben von dieser Familiensache. Übrigens legte er ihm Schweigen auf. So gingen sie voneinander.

Klaus hielt das Schweigen keineswegs. Ratlos, wie er war, schüttete er zunächst seiner Frau sein Herz aus über Henneckes tolles Vorhaben, dann auch einigen Freunden, natürlich jedesmal unter dem Siegel der Verschwiegenheit.

Was sollte er tun? Etwa Martha sofort entlassen und aus dem Dorfe schaffen, bevor sie den Antrag erhalte? Das wagte er nicht aus Furcht vor dem Bruder. Oder sollte er unterderhand Hennecke eine schlechte Meinung von Martha beibringen und Martha eine schlechte Meinung von Hennecke? Beides würde schwerlich gelungen sein. In genauer Erwägung der Natur seines Bruders kam er zuletzt auf den gescheitesten Einfall: gar nichts zu tun. Hennecke ließ voraussichtlich wiederum Wochen und Monate verstreichen, ehe er Martha ein Wort sagte; inzwischen fand sich vielleicht doch ein unverhoffter Anlaß, das Mädchen zu entfernen oder den Bruder auf bessere Gedanken zu bringen.

Hennecke wartete in der Tat von Weihnachten bis Lichtmeß, ohne sich gegen Martha das geringste merken zu lassen. Aber im stillen tat er derweil nicht einen, sondern viele Schritte vorwärts. Er lebte nach alter Gewohnheit in sich selbst und mit sich selbst, er verkehrte mit seinen Gedanken und führte ganze Scharen von Gedanken auf, welche die längsten Gespräche untereinander hielten, sich verklagten und entschuldigten. Dabei rückte ihm Martha innerlich immer näher, sie ward ihm mit jedem Tage unentbehrlicher. Er wußte jetzt auch ganz bestimmt, daß sie allein Peter Graumann zum Schweigen gebracht; denn seit Martha im Hause war, hatte Peter nicht mehr mit ihm gesprochen. Hennecke suchte Martha zunächst nicht zu besitzen, aber er fürchtete sich, sie zu verlieren. Obgleich er Marthas Geist der Versöhnung nicht begriff und ihn keineswegs nachahmen wollte, bewunderte er ihn doch, vornehmlich weil sie ein Mädchen war; denn bei einem Manne wie Matthias hatte ihn dieser Versöhnungsgeist verdrossen. Wir bewundern auch eine Heilige, ohne sie zu begreifen, geschweige daß wir sie nachahmten. Er glaubte nach wie vor, recht gehandelt zu haben; aber Martha erschien ihm besser als er, und er wußte selbst nicht, warum. Alle wahre Liebe gründet darauf, daß wir in dem geliebten Wesen ein besseres Wesen ahnen. Wer sich zu der Geliebten herabläßt, wer ihr gleichzustehen meint, der liebt nicht. Und Hennecke liebte wahrhaftig. Es war nicht Unschlüssigkeit, daß er säumte, Martha seine Liebe zu gestehen, er zögerte mit diesem Bekenntnis bloß, weil er, der eiserne Mann, zu schüchtern war angesichts der armen Magd, die er für besser hielt als sich selber. Aber wenn sich etwa ein anderer gut genug für Martha gehalten haben würde, so hätte er dem gleich den Schädel einschlagen mögen. Das ist wahre Liebe.

Inzwischen ahnte Martha nicht das leiseste von dem Sturm, der durch Henneckes Seele brauste; sie merkte auch nicht, daß sie bereits ins Gerede des halben Dorfes gekommen war, daß man Hennecke um ihretwillen mitleidig, sie selbst aber um Henneckes willen neidisch anblickte. Denn Henneckes geheimer Vorsatz war von wenigen bald zu vieler Ohren gewandert. Doch wagte niemand gegen sie ein Wort davon zu äußern, teils aus Neid, teils aus Furcht vor Henneckes Zorn.

Da sah sie eines Tages den Gerichtsboten ins Haus gehen. Sie kümmerte sich nicht weiter darum. Allein andere Leute waren um so neugieriger, und eine Nachbarsfrau fragte sie noch selbigen Abends, ob der Bote wohl wieder Geld geholt habe für den großen, berühmten Prozeß in Speyer. Martha wußte von keinem Prozeß. Die Frau lachte sie aus, daß sie allein im Dorf, die seit Monaten unter dem Gülzowschen Dach wohne, von dem Prozeß nichts wissen wolle, von dem das ganze Reich wisse, von der Klage gegen die Gülzows wegen Mord und Totschlag, Krieg und Landfriedensbruch und wie man das Ding sonst heiße!

Nun wurde Martha doch neugierig und ließ sich von der Frau erzählen, wie Hennecke und Klaus den Peter Graumann erschlagen hätten und nun deshalb beim kaiserlichen Kammergericht unter Anklage stünden. Martha wollte es gar nicht glauben, sie verteidigte die Brüder, hielt die Frau für eine Verleumderin; aber etwas Wahres mußte doch an der Sache sein.

Da trat ihr bei der Heimkehr Hennecke entgegen. Heute hatte er endlich den Entschluß gefaßt, Martha sein Herz zu öffnen und ihr die Heirat anzutragen. Wie die Nachbarsfrau richtig erraten, hatte der Bote zwar nur Geld geholt, allein zugleich in Aussicht gestellt, daß der große Prozeß demnächst wieder einen Ruck vorwärts tun werde. Also drohte Peter Graumann wieder mit einer Unterredung, und Hennecke empfand ein mächtigeres Verlangen nach Marthas Besitz als je zuvor. Jetzt wollte er sprechen.

Neuntes Kapitel

Er hieß Martha ihn auf seine Stube begleiten. Dort verriegelte er die Tür von innen, genau wie er's gemacht, als er dem Bruder die wichtige Familiennachricht eröffnete, setzte sich nieder, ließ Martha vor sich stehen und erklärte dann dem erschrockenen Mädchen kurz und rund, daß er sie zur Frau begehre. Sie bringe ihm zwar keine Aussteuer mit, allein er bedürfe deren auch nicht und wolle ihr ein so gutes Wittum aussetzen, daß sie nach seinem Tode wie die beste Witwe in ganz Radesloe leben könne.

Martha zitterte an allen Gliedern, sie hielt diese Rede für Spott; aber Hennecke war immer so ernst und gut gegen sie gewesen, er konnte nicht so grausam spotten. Sie sagte darum, sie verstehe ihn gar nicht, er möge sich deutlicher aussprechen.

Hennecke erwiderte: »Ich will dich heiraten; das ist doch deutlich genug.«

Jetzt sah Martha aus seinem Auge, sie hörte aus seinem Tone, daß es ihm heiliger Ernst war; sie brach in Tränen aus und dankte ihm für die große und unverdiente Güte, aber sie konnte nichts weiter herausbringen.

Doch Hennecke begehrte, daß sie nun auch ebenso deutlich spreche wie er, nämlich: »Ja oder nein!«

Martha sammelte sich, vermochte aber erst nach sichtbaren inneren Kämpfen zu sprechen: »Ihr begehrt Unmögliches. Ich hatte bisher ein Geheimnis vor Euch, das müßt Ihr nun erfahren. Ihr könnt mich nicht heiraten: ich bin eine Wiedertäuferin!«

Das Wort traf den starken Mann wie ein Blitzschlag. Er wußte zwar gar nicht, was eigentlich ein Wiedertäufer ist, hatte aber doch gehört, daß diese Leute ihre Kinder zweimal taufen, zuerst wie andere Christen, wann sie eben zur Welt gekommen, dann aber und nun erst recht ordentlich, wann sie groß geworden seien und bei ihrem eigenen Taufschmause mitessen könnten. Das deuchte ihm ein furchtbarer Frevel: war dadurch das Sakrament der Taufe nicht ganz verdorben und auf den Kopf gestellt? Derselbe Schlüssel, welcher, einmal umgedreht, den Himmel öffnet, schien ihm, zweimal umgedreht, noch viel sicherer die Hölle aufzuschließen. Allein wenn er das weinende Mädchen ansah, wie sie ihm gleich einem Engel hilfreich in seinen Kämpfen und schweren Träumen erschienen war, dann konnte er doch nicht glauben, daß sie schon ganz dem Teufel verfallen sei. Darum fragte er endlich: »Und bist du denn wirklich zum zweitenmal getauft?«

»Ja und nein!« antwortete Martha. »Ich will Euch bekennen, wie's mit mir steht. Ich bin noch nicht zum zweitenmal getauft; denn als man uns gefangennahm, war ich noch zu jung, und dann irrte ich ja mit Oheim Matthias durch die weite Welt, und der Oheim starb so bald. Aber höret genau: Da man uns nach Schloß Windsberg der Marter und dem Tod entgegenführte, wurde ich von meinem Vater gefragt, ob ich bereit sei, mit ihm für unsern Glauben zu sterben. Und da ich es fest bejahte, legte er mir die Hand auf den Kopf und erklärte mich auch ohne Taufe für ein rechtes Glied der Gemeinde. Und so bin ich dennoch in Todesnöten wiedergetauft, wenn ich gleich die Taufe nicht zum zweitenmal empfangen habe.«

Hennecke atmete auf. »Das Handauflegen gilt nichts, und du bist also doch keine rechte Wiedertäuferin! Aber was hat man dich sonst zu glauben gelehrt?«

»Man lehrte mich, Gott zu lieben über alles und meinen Nächsten wie mich selbst, keine Rache zu nehmen für erlittenes Unrecht, keinen Streit zu führen, sondern vielmehr zu segnen, die mir fluchen, keinen Eid zu schwören, fleißig zu arbeiten und zu beten und in froher Hoffnung den Jüngsten Tag zu erwarten, der bald kommen wird. Ich war noch ein gar einfältiges Kind, vielleicht hat man mir gar nicht alles gesagt, und mein Oheim hätte mich gewiß noch mehr gelehrt, wenn ich größer gewesen wäre und wenn uns Hunger und Not nicht überall auf den Fersen gesessen hätten. Oheim Matthias war keiner von den Strengen, er trug keine Haften am Rock; mich ließ er zwar ein ganz besonderes schwarzes Häubchen tragen, aber weil mich im fremden Land die Kinder darüber auslachten, verbarg ich's unter der Schürze, und er schalt mich nicht, und jetzt könnt' ich das Häubchen gar nicht mehr aufsetzen, denn es ist mir viel zu klein geworden.«

Diese Worte wirkten auf Hennecke wie ein befreiender Zauber. Martha mußte ihm gehören, es koste, was es wolle. Sie war ja noch gar keine Wiedertäuferin. Er erklärte ihr jenen seinen Willen, zwar nicht minder kurz wie vorher, aber in leidenschaftsvollem Ton. Martha blickte betrübt zu Boden. Sie sagte leise: »Ich hatte ein Geheimnis vor Euch und habe es ausgesprochen; doch auch Ihr habt ein Geheimnis vor mir. Ist es wahr, daß Ihr den Peter Graumann mit Vorbedacht erschlugt, um Euren Bruder zu rächen? Ist es wahr, daß Ihr deshalb in Anklage verstrickt seid beim Reichsgericht und stolzer auf den Besitz dieser Anklage als auf Haus und Hof?«

»Das ist alles wahr«, entgegnete Hennecke. »Ich habe für meinen erschlagenen Bruder in aller Geduld Recht beim Richter gesucht und nicht gefunden; also mußte ich selber ihn rächen. Das tat ich auch gar nicht übereilt, sondern mit reifem Vorbedacht und mache kein Geheimnis daraus. Ich rühme mich der Anklage und des Prozesses in Speyer; denn derselbe beweist, daß wir, Klaus und ich, wie Männer handelten, und wir werden auch als Männer siegen.«

Da erklärte Martha fest: »Beharret Ihr bei diesen Worten, so kann ich niemals Eure Frau werden. Ich muß ja wohl bekennen, daß Euer gütiger Antrag mir das Herz bewegt; und jetzt will es fast brechen. Wie mit Gewalt kommt es plötzlich über mich, daß ich Euch lieb habe, woran ich doch vorher niemals dachte; ja, daß ich Euch lieb habe, den trotzigen, vornehmen Mann, der sich so mild zu einem verstoßenen Mädchen niederbeugt. Aber ich muß fort, ich kann Euch nicht heiraten. Gott weiß, ob unsere Gemeinde noch besteht und ob ich in aller Form zu ihr gehöre und recht glaube; aber im Geiste und Willen folge ich dem Geiste meines Vaters!«

Sie ging zur Tür und schob den Riegel zurück. Hennecke ließ es schweigend geschehen. Sie öffnete: allein auf der Schwelle wartete sie wieder und kehrte sich um. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht ist's eine schwere Sünde, was ich jetzt sagen will, und dennoch sei's gesagt! Hennecke! Ich will Euch heiraten; aber söhnet Euch vorher aus mit den Graumanns, bereuet Euren Totschlag, sühnet Euer Vergehen, rühmet Euch nicht mehr des Besitzes Eurer Anklage, sondern sorget mit aller Macht, daß sie zurückgezogen werde.«

»Das kann ich nicht!« rief Hennecke finster. »Meine Rache war mein Recht!«

»Ich gebe Euch drei Tage Bedenkzeit«, sprach Martha und trat noch einmal zu ihm heran und reichte ihm die Hand. »Suchet mich nicht auf, redet nicht mit mir in dieser Frist. Sind wir allein, dann kommen uns die guten Gedanken.« So schieden sie.

Zehntes Kapitel

Hennecke wußte nicht, wie ihm geschah; eine Magd, eine heimatlose Dirne, gab ihm drei Tage Bedenkzeit, daß er sich ihrem Willen füge, statt seinen Antrag mit beiden Händen zu ergreifen, einen Antrag, um welchen sie die reichsten und schönsten Mädchen im ganzen Dorfe beneiden mußten!

Er kämpfte die drei Tage mit sich selbst, daß er hätte von Sinnen kommen mögen; denn er liebte Martha nun noch heftiger als vorher.

Aber nach drei Tagen antwortete er ihr dennoch: »Ich will mich allem fügen, was du begehrst, nur dem einen nicht, daß ich bekenne, gegen Peter Graumann unrecht gehandelt zu haben, und bereue und Sühne biete. Ich war und bin in meinem Recht; das behaupte ich vor Kaiser und Reich, das nehm' ich auf meine Seligkeit beim Jüngsten Gericht!«

»So müssen wir scheiden!« sprach Martha zitternd. »Vergelt' Euch Gott, was Ihr mir Gutes getan!«

Hennecke wollte sie zurückhalten, wollte reden; aber er konnte nicht.

Sie ging hinüber zu Klaus und bat ihn um die Gunst, augenblicklich wieder abziehen zu dürfen. Sie fürchtete abschlägigen Bescheid, da sie sich bis Georgi verdingt hatte; allein Klaus war überfroh, die gefährliche Dirne so geschwind loszuwerden; er gab ihr noch den vollen Lohn bis Georgi zur Wegzehrung mit, und sie schnürte ihr kleines Bündel und ging.

Das alles geschah in einer halben Stunde.

Hennecke sah Martha mit dem Bündel aus dem Hause gehen, er wollte ihr nachrufen, die Stimme versagte ihm; er sah sie um die Ecke biegen, ohne daß sie einen Blick zurückwarf. Jetzt war sie verschwunden.

»Gottlob!« sprach Klaus zu seiner Frau. »Martha ist fort, nun wird Hennecke wieder gescheit werden.«

Sie wunderten sich, daß Hennecke nicht zum Abendessen kam. Er hatte sich eingeschlossen; als Klaus an der Tür pochte, rief er, man solle ihn allein lassen, er begehre nichts.

Des Nachts hörte ihn Klaus aus der anstoßenden Kammer heftig mit Peter Graumann reden.

Am anderen Morgen ging er in die nun wieder geöffnete Stube, um zu sehen, wie es mit dem Bruder stehe.

Der saß ganz feierlich vor dem Tisch auf einem Lehnstuhl. Auf dem Tisch aber lag die Hausbibel; er hatte sie mitten auseinandergeschnitten, in eine größere und kleinere Hälfte, das Alte und Neue Testament, welche gesondert zur Rechten und Linken geschoben waren. Es war nichts Auffallendes an Hennecke zu bemerken; nur seine Augen rollten unstet.

»Um Gottes willen, Hennecke! was treibst du?« fragte Klaus.

»Gerichtsdiener!« rief Hennecke. »Heißt den einfältigen Bauern schweigen, der mich unterbricht. Ich heiße nicht Hennecke; jener Hennecke Gülzow steht dort neben Euch an der Armensünderbank. Ich bin der Kammerrichter des höchsten Reichsgerichts, vom Kaiser bestellt. Ihr Beisitzer« – und er blickte im leeren Raum umher, als umringe ihn eine zahlreiche Versammlung –, »helft mir dieses große Buch mit dem kleinen in Einklang bringen. Dort stehet geschrieben: ›Aug' um Auge, Zahn um Zahn!‹ Hier dagegen: ›Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr!‹ Wie reimt ihr beides? Wir bedürfen dieser Textesstellen in dem weltberühmten Prozesse Graumann contra Gülzow. Das kleine Buch wird dem Hennecke den Hals brechen, wenn es über das große siegt.«

Klaus stürzte zur Tür hinaus und rief seine Frau. »O Jammer! Hennecke ist verrückt! Er hält sich für den kaiserlichen Kammerrichter, er hat die Bibel zerschnitten und sitzt über sich selbst zu Gericht!«

In der Tat, Hennecke war verrückt. Fruchtlos blieben alle Versuche, ihn zu überzeugen, daß da, wo er den Hennecke sehe, bloße Luft sei und daß er selbst kein Kammerrichter, sondern eben jener Hennecke. Er geriet in Wut über dieses Verbrechen des versuchten Austauschs seiner Person, wie er's nannte, und wollte gleich eine Klage darüber in Speyer anhängig machen; behandelte man ihn aber als Kammerrichter, dann war er ruhig. Wochenlang saß er von früh bis spät vor dem Tisch, die zerschnittene Bibel prüfend und vergleichend; dann verhörte er die beiden Angeklagten, hauptsächlich den Hennecke Gülzow, vernahm Zeugen, beriet mit den Beisitzern, ließ Gutachten abverlangen, Akten ausfertigen und unterschrieb Protokolle.

Eines Tages rief er alle Leute im Hause zusammen und befahl ihnen, die Fenster und Türen zu öffnen und sich dann im Kreise an den Wänden des Zimmers aufzustellen; denn um den Tisch – wie er meinte – saßen ja die Beisitzer und rechts und links etwas seitab Kläger und Beklagte. Man tat ihm den Willen.

Da nun alle ihn umstanden, erhob er sich mit furchtbarem Ernste und legte das Neue Testament über das Alte, daß es dasselbe ganz zudeckte. Dann sprach er mit weithallender Stimme: »Der weltberühmte Prozeß Graumann gegen Gülzow ist spruchreif. Das kleine Buch hat gesiegt über das große, und zwar mit dessen eigenem Spruche. Denn auch das große Buch, welches mich vorn rechtfertigte, verdammt mich hinterher, und die Stelle Römer 12, 19 ist abgeschrieben aus 5. Mose 32, 25. Bindet mir die Bibel wieder zusammen! Hennecke Gülzow, tritt vor! Dein Recht sollst du jetzt haben. Ich, der kaiserlichen Majestät Kammerrichter, erkenne dich schuldig des vorbedachten Mordes, verübt an Peter Graumann, und des Landfriedensbruchs. Du bist gerichtet!«

Bei diesen Worten sank er lautlos in den Lehnstuhl zurück. Er war tot.

Der wirkliche Prozeß in Speyer fand niemals ein Ende; er wurde nach Henneckes Tode noch lange gegen dessen Bruder fortgeführt, und die vorhandenen Akten zeigen keinen Abschluß. Aber ein höherer Richter hatte schon längst das Urteil gesprochen.


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