Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Passiflora

Gebt mir die Toten, ich schenke euch die Lebendigen. Nur dich wünsche ich mir lebend und blühend; ich habe keinen Namen für dich, meine Augen werden so trüb, daß ich deine Züge kaum erkennen kann, aber ich muß noch einmal deine Arme um mich geschlungen fühlen, dein Herz schlagen hören und von deinen Lippen die Ruhe der erfüllten Leidenschaft saugen. Sonst aber schenke ich euch die Lebendigen, gebt mir die Toten! Es ist auch an der Zeit, daß ich mich mit meiner zukünftigen Gesellschaft bekannt mache.

Ich wollte etwas nachsuchen in »Romanzero«. Unter den Bänden von Heines Werken, welche mir der Raub guter Freunde gelassen hat, ist er noch vorhanden. Aus dem Suchen wurde aber nichts, der alte Zauber überwältigte mich. Die Passionsblume ist eine Schlingpflanze, sie umrankte mich mit wollüstig pressenden Schlingen, daß mir der Atem fast verging; und ihre großen Blüten, violett, weiß, schwefelgelb, wuchsen um mich empor und dufteten narkotische Träume mir ins Gehirn, bis ich mich selber als toten Mann liegen sah im offenen Marmorsarg und das Mitleid mit diesem Toten den atemraubenden Druck der unter großen hoffnungsgrünen Blättern fortkriechenden Flechten löste. Armer Kerl! rings um dich Passiflora und in ihrem Blumenschoße Geißel, Dornenkrone, das Kreuz, der Kelch – o dieser Kelch! selbst den Wein macht er zu Gift – die Nägel und der Hammer. Auch am glatten Marmor kriecht das Gewürm empor, hier rastet es in den Skulpturen des Sarkophages, aber die Avantgarde streckt schon lüstern die scheußlichen Köpfe über den Rand. Und keine Mouche, die toten Lippen zu küssen, keine dämmernden Sterne, in die kommende Nacht der Verwesung goldene Tränen zu weinen!

Weh mir, warum habe ich mich in diesen Zaubergarten gewagt! Mein Herz pocht, als ob es selbst die Toten überholen wollte, und mein Doktor muß in Zukunft auf seinen Prohibitionszettel ergänzend schreiben: Zu vermeiden: Wettrennen, Sekt ohne Selters, Ärger, schwere Speisen, Liebe, Zugluft, Haß und – Heinrich Heine.

Das war aber ein merkwürdiges Gefühl, als ich in Heines letzten Gedichten wieder den Wein einschlürfte, der mir schon längst in Fleisch und Blut übergegangen, als etwas Altes, Geprüftes und doch berauschend Neues. O, ihr lieben Kinder, einst ahnte ich nicht, daß man nur so das ganze Recht hat, den 18. Band der Hoffmann und Campeschen Ausgabe zu lesen.

Und dabei mußte mir der andere unbesiegt Gefallene vor das Seelenantlitz treten: Friedrich Nietzsche, der titanische, der prometheische Heuchler, zu dem unsere marklos gewordene Wahrheit kaum die Augen aufzuschlagen wagt. Er büßte, nicht in seinen unbewußten und darum glücklichen kranken Tagen, nein in den Tagen seines gesunden Alleingehens die Heuchelei der Zufriedenheit in der Hoheit. Er ragt in unsere Zeit wie ein erratischer Block, der vom Anfang und vom Ende spricht, eine tragische Figur, die von einer höheren Gewalt als von den Göttern geschaffen wurde.

Rundköpfe der Aufklärung haben es immer versucht, die Göttersagen der Völker zu Priesterlügen zu stempeln; und wie die Priester, welche aus den Fäden zwischen dem Verstandenen und dem Unbegreiflichen Stricke für die armen hoffenden und kindergläubigen Menschen drehten, so wollten sie andererseits für das Leugnen und Profanieren dieser – »Sommerfäden« Anerkennung und Belohnung. Zehn Priester, einfach gewissenlose Handlanger der ihnen in die Hand gewachsenen Macht, und hundert revolutionäre, fanatische Rundköpfe kommen auf einen langgebauten Schädel, in welchem die Ehrfurcht vor den Göttersagen aller Völker die tiefste Grundlage aller Erkenntnis ist. Freidenker schreiben sich die Finger wund und schreien sich die Kehlen heiser, wenn sie ein naives Dogma mit einem gescheiten Axiom in die Berge zurückjagen können. Fort mit Gott Vater, Sohn, heiligem Geist und Maria der Schmerzensreichen! – die Pfaffen leben davon, und ohne Pfaffen keine Tyrannei. Wir geben euch dafür die bedingte Willensfreiheit, die unbewußte Vernunft der Atome, die Ordnung im Hinblick auf die Nützlichkeit, ohne welche auch unser »Staat« nicht existieren kann. In der Göttersage aller Völker aber, in dem, was die Menschen gefühlt, welche mit der Natur auf du und du standen und ohne Zangen und Hebel die gegenseitigen Geheimnisse ahnten, ist es unerbittlich ausgesprochen, daß hinter den Höchsten, hinter den Göttern das gemeine Schicksal steht, das Fatum, die Dira Necessitas, die Ananke, das ewig Unberechenbare; und wer wie Thoreau in den Wasserkreisen, welche das fliegenschnappende Raubtier Fisch verursacht, die Andeutung der ewigen Harmonie erblickt, ist dem Verständnis am nächsten.

Thoreau war aber nicht wie wir in der Laubhütte der Passiflora geboren. Hier war ein Amerikaner mit dem Blute Rousseaus in den Adern; er sog die Milch klassischer Musen, die der Pan eines urwäldlichen Erdteiles befruchtet hatte. Wir können bei ihm eine Gedankenstunde ausruhen, aber wir finden uns immer wieder in der mondbeglänzten, romantischen Wildnis, wo im Marmorsarkophag der tote Mann liegt.

Der titanische »Heuchler« Nietzsche – ich spreche es und weiß, daß mich wohl Menschen, aber Füchse und Raben ganz gewiß nicht mißverstehen – ist unsern Augen entrückt, vielleicht unter die Sterne versetzt; »abgestürzt« und »Strafe muß sein!« wispern die Rundköpfe, aber es hat ihm noch Niemand die Grabrede gehalten. Die Grabreden aber, welche dem ehrlichsten aller Menschen, dem Dichter Heinrich Heine zu Leid und Lieb losgelassen werden, nehmen nie ein Ende. Bei Nietzsche müssen sie gelehrt tun und bändeweises Studium prätendieren, bei Heine könnten sie sich auf die eine Strophe versteifen, diese Gladiatoren des »Gemeinverständlichen«:

Wer ein Herz hat und im Herzen
Liebe trägt, ist überwunden
Schon zur Hälfte; und so lieg ich
Jetzt geknebelt und gebunden –

Mit diesen gerechtfertigten Abschweifungen aber (gerechtfertigt, weil von der schonungslosesten Selbstkritik einer unbezwinglichen Ehrlichkeit bis zu der selbstvernichtenden Übermenschlichkeit eines Phaeton nur ein Schritt ist) betrüge ich mich nicht um das Doppelgefühl beim abermaligen Schwelgen in dem 18. Band.

O wie klein bin ich! jammerte der proletarische Teil meiner Seele. Und ich sah zwei riesige Waagschalen im goldblauen Herbsthimmel schimmern. In die eine packte ich einhundert deutsche Dichter: Dehmel, Liliencron, Holz, Wille, Stauff von der March, Mackay, Franz Held (einige Fetzen seines liederlichen Rockes wollten mit Gewalt im Winde flattern), Bierbaum – wie kann ich sie alle nennen, die mir in der Fremde liebgeworden sind! – in die andere legte ich den »Romanzero«. Und die letztere Schale sank, sank, bis sie an meinem Herzen lag, die andere aber segelte hin vergnüglich und verschwand mit den Wölkchen des Abendrots.

Da bemerkte ich, daß in der schweren Schale mein eigenes Herz gelegen hatte, und daß ich ein frevelhaftes Spiel gespielt. Wäre sie nicht zurückgekehrt, hätte ich in Ewigkeit an den Kanälen zur Würdigung der neuen deutschen Dichter Handlanger sein müssen. So aber sprach mein wiedergewonnenes Herz mit, und ich kritisierte, als ob es sich im 18. Bande um Manuskriptblätter handelte, auf welche ich erst das Imprimatur zu setzen hätte: Hier müssen drei Verse gestrichen werden, das ist unnötige Ausmalung eines zufällig gewonnenen Witzes. Salopp? wozu? man braucht dem Publikum nicht dadurch seine Verachtung auszudrücken, daß man gerade so ungeniert spuckt. Streichen wir für die Gesamtausgabe dieser Werke das ganze Gedicht. Ich beschließe förmlich das letzte Gedicht, das letzte Abschiedswort – nur die dicke Mathilde geniert mich, sie war nicht einmal eifersüchtig! Aber was sind solche Kritteleien im Vergleich mit der gemeinsamen Vergangenheit: Harz, Schwarzwald, Göttingen, Heidelberg, Paris, Washington, alle Trikoloren unbändiger Nationen gleichfarbig gemacht durch unser verschwenderisch vergossenes Herzblut! – Ich lese, ich lese Korrektur, ich bin gezwungen dazu, weil es zu meinem Geschäft gehört, ich mit meinen verlöschenden Augen. Da fall' ich, wie man in der Überstürzung der Liebeseile die Treppe hinauf fällt, aus dem grotesk gräßlichen Fluch, semitischen Erbteils, aus der Rumpelkammer des Gedächtnisses hervorgeholt wie eine Gespenstergeschichte, mit der man Philister auf ihr Niveau zwingt, in die sprachlose Bewunderung des Fanals: Enfant perdu – »Verlorner Posten in dem Freiheitskriege – Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus ... Ein Posten ist vakant ...«; und ich lag in einem Grübeln, ob ich oder der tote Mann im Sarkophag oder Heinrich Heine das ausgeströmt, und es fiel mir das Trivialste ein, daß ich noch nicht alt genug, um auf dreißig Kriegsjahre Anspruch zu machen. Aber – »die Wunden klaffen«, und »meine Waffen sind nicht gebrochen ...«

Nietzsche sagt einmal, daß keine Sprache die höchsten Gedanken ausdrücken könne, aber er sprach doch selber, voll von Mitleid mit andern und mit sich, dieser weise unweise Zarathustra, der ein Adler, aber nur ein Adler war und außerhalb der atmosphärischen Erdhülle erstarren mußte. Heine sang, und er hatte immer seinen Text. Der Höhengänger hat selten einen neuen Ausblick gewonnen, ohne seinem Wolfgang Apollo einen Denkstein zu setzen; er wußte aber kaum, was er unsrem undefinierbaren Vogel zu verdanken hatte, diesem Wundervogel aus Tausendundeiner Nacht, der heute kosmopolitischer Spatz war, morgen deutsche Nachtigall und immer die ohne Nest in den Lüften waffenschön klirrende Lerche: Allons enfants!

Als ich wieder »Romanzero« las, wußte ich, daß es für mich keiner verständlicheren Sprache brauchte. Ich erinnerte mich daran, daß sehr viele gescheite Leute, welche die Bibel als das A und O des Unsinns bezeichnen, geflügelte Worte gebrauchen, die schon bald ein halb Jahrtausend in der Lutherschen Übersetzung dieses merkwürdigen Sammelwerkes gedruckt stehen, und ich konnte nicht umhin, mit Mitleid die Anstrengungen der jungen deutschen Dichter Revue passieren zu lassen; von meinen sehnsüchtigen Nachklängen in der skythischen Verbannung gar nicht zu sprechen.

Du, Mouche! Ich fühle es, du kamst zu mir, solang ich noch sehen und fühlen und deine Tränen im Wein als die kostbarsten Perlen trinken kann; weißt du, von was der tote Mann in seinem Sarg manchmal träumt? Von der Königin Pomare:

Sie tanzt mich rasend, ich werde toll,
Sprich, Weib, was ich dir schenken soll?
Du lächelst. Heda! Trabanten! Läufer!
Man schlage ab das Haupt dem Täufer.

Und weil der tote Mann an sie gedacht, ist sie unsterblich wie Paris selber. Mein Freund Franz Held hat sich die Mühe gegeben, eine ganze Unzahl von Grisetten und Cocotten der deutschen literarischen Unsterblichkeit einzuverleiben. Es sind wesenlose Schatten, schon verblüht, als sie der Dichterjüngling in sein Notizbuch schrieb, wie die Veilchen, die man am Abend eines heißen Tages einem Straßenkind auf dem Boulevard Strasbourg abkauft. Nur Tartarin würde an ihnen noch Wohlgeruch finden, dieser Tartarin, der durch Alphonse Daudet das Eigentum der halben gebildeten Welt geworden ist und es durch Franz Helds famose Fortentwicklung des südfranzösischen Don Quixote (»Tartarin in Paris«) für die ganze zu werden verdient.

Aber, Königin Pomare! das ist ja nur ein Glastroddelchen an dem sternhimmelgroßen Kronleuchter Heinescher Dichtung, der nur durch die Elektrizität des Herzens zu seiner Strahlenpracht entzündet werden kann.

Um einem Bann zu entrinnen, wollte ich mir noch einmal den Mann ansehen, den hinwelkenden Griechen in jüdisch-germanischer Hülle. Eine Nachtigall, der man die Augen ausgestochen, sie sang das Glück, das sie nie erlebte, für Alle. Aber als ich das Nachwort zum »Romanzero« las, da packte mich ein Schrecken. Solches habe ich ja selber geschrieben, fast wörtlich; und doch habe ich weder abgeschrieben, noch nachgeahmt, nur ein ähnliches Schicksal hämmerte ähnlichen Galgenhumor aus mir heraus:

... Ich hatte damals noch etwas Fleisch und Heidentum an mir, und ich war noch nicht zu dem spiritualistischen Skelette abgemagert, das jetzt seiner gänzlichen Auflösung entgegenharrt. Aber existiere ich wirklich noch? Mein Leib ist so sehr in die Krümpe gegangen, daß schier nichts übrig geblieben als die Stimme, und mein Bett mahnt mich an das tönende Grab des Zauberers Merlin, welches sich im Walde Brozelind in der Bretagne befindet, unter hohen Eichen, deren Wipfel wie grüne Flammen gen Himmel lodern. Aber um diese Bäume und ihr frisches Wehen beneide ich dich, Kollege Merlin, denn kein grünes Blatt rauscht herein in meine Matratzengruft zu Paris, wo ich früh und spät nur Wagengerassel, Gehämmer, Gekeife und Klaviergeklimper vernehme. Ein Grab ohne Ruhe, der Tod ohne die Privilegien der Verstorbenen, die kein Geld auszugeben und keine Briefe oder gar Bücher zu schreiben brauchen. – Das ist ein trauriger Zustand. Man hat mir längst das Maß genommen zum Sarg, auch zum Nekrolog, aber ich sterbe so langsam, daß Solches nachgerade langweilig wird für mich, wie für meine Freunde. Doch Geduld, Alles hat sein Ende. Ihr werdet eines Morgens die Bude geschlossen finden ...

Nein, da bin ich doch um so viel weniger gestraft worden, als mein Geist weniger teuflische Gewalt über die Menschen hat. Meine Wiese hat jetzt noch im Morgennebel einen schönen grünen Schimmer, und üppig wächst das Unkraut. Ich kann mich doch noch bisweilen unter Menschen tragen lassen und mit Pferdebeinen über den Strom und durch den Wald reisen. Ja, ich habe in dem kuriosen Badenest Mt. Clemens gelebt wie ein Sardanapal. Gesang und Sekt und Saitenspiel und – Kartoffelklöße! sie waren kulinarische Verkörperung des träumerischen Schimmers der süßen, dunkeln Augen, die über ihre Zubereitung gewacht. Ach, daß eine solche »Gesundheitsliebe« nie die Matratzengruft in der Rue d'Amsterdam erreicht hat!

Was aber soll aus den armen Hanswursten werden, fragt Heine, die ich euch und mir zum Spaß tanzen ließ? Ich werde in meiner nächsten Stunde der Andacht mit dem »Romanzero« zeigen, daß sie noch alle lebendig sind, ja daß sie heute noch kräftig übel riechen, wenn sie nur den Namen des Dichters hören, der sie als Marionetten benützte. Das ist Heinrich Heines Unsterblichkeit, daß ihm das ganze Pack von Heuchlern, Sykophanten und Lakaien, von feierlichen Lügnern und boshaften Dummköpfen nie verzeihen wird. Sie wüten heute, als ob er noch verwundet werden könnte, der kranke Mann, der zollweis sterbende Held, dessen Gebeine schon vor vierzig Jahren im Friedhof des Montmartre zu Staub und Asche geworden sind.


 << zurück weiter >>