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Die letzte Position

Wie meine Seele blutete, wie ich erzitterte und ergrimmte wie unter unverdienten Geißelhieben, als ich vor zwanzig Jahren Heinzens »Sechs Briefe an einen frommen Mann« las und die mir mühsam gerettete Religion dahinschwinden sah wie einen Traum der Kindheit. Ich zerschlug die Broschüre in Fetzen, ich weinte dem Traum nach, der mir so hold erschienen war, ich versuchte noch hundertmal die Wiederherstellung – so wie ein Erwachender die lieblichen Spiegelbilder des Schlafes festzuhalten versucht – umsonst, was niemals mein war, war verloren, und bald lehrte mich der Sonnenschein das Lächeln über alle Träume.

Über alle Träume? Ich mußte die Erfahrung machen, daß ich noch viel Glaubensseligkeit zu verlieren hatte, Freundschaft und Liebe erschienen mir in zweifelflackerndem Lichte, und ich lernte mein Vertrauen auf die Menschen verachten, wie ich mein Gottvertrauen verachten gelernt hatte. Aber das ist ein Passionsweg, der nie aufhört, die Enttäuschung über Einzelne begleitet uns bis ans Grab, und ganz gehören uns nur die Toten.

Die Menschen sorgen selber dafür, daß wir ihnen als Einzelwesen keinen allzu großen Wert beilegen, aber der Mensch stand vor meiner Seele wie vor der Schillers als unverrückbares Ideal. Und nun kommt dieser Stirner mit seinem verfluchten Buch, das ich wieder in kindischer Wut zerschmeißen möchte, und will mir auch den Menschen stürzen mit seinem ganzen Hofstaat von Tugenden und Idealen! Ich weiß, ich fühle es, daß er, ein wohlmeinender Räuber, mir diesen abstrakten Menschen nur nehmen will, um mich mir selber zum Eigentum zu geben, mich, dieses konkrete Ganze, das lacht und weint und denkt und ißt und trinkt, um mich frei zu machen von der Sklaverei anerzogener Ehrfurcht, um mir ein Glück zu schenken, das ich nur erst ahnen kann.

Ich will aber meine letzte Position nicht kampflos aufgeben, ich will meine letzten Altäre verteidigen, ich will einmal noch denen aus der Seele sprechen, die gleich mir noch ein leises Grauen in sich tragen vor dem Priesterspruch: »Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld!«

»Im Anfang war die Tat« – so etwas hat nur noch für einen Faust Sinn, der noch mit Engeln und Teufeln sich herumschlägt, im Anfang und von Anbeginn unserer Erdexistenz war nichts Anderes, als was noch heute ist und sein wird bis zum Zusammensturz dieses Sonnensystems: Die Entwickelung, das Blühen, das Formwerden. Über den Urwassern, in den Gasen, in der Feuerflüssigkeit gab es weder Liebe noch Haß, weder Vollkommnes noch Unvollkommnes. Aber in der Pflanzenwelt schon begann der Kampf und die Verkümmerung, und in der Tierwelt fing man an, sich gegenseitig aufzufressen. In der Menschenwelt, wenn man dieselbe überhaupt von der Tierwelt unterscheiden kann, brachte man es so herrlich weit, daß man über sich selber nachdachte und darüber Bücher schrieb. Ob das eine Vervollkommnung oder eine Verkümmerung ist, bleibe dahingestellt. Nie wird die Menschenwelt den Frieden der Gestirne kennen. Der Mond ist nicht dankbar für das Licht, das er erhält, aber er ist der Sonne auch nicht neidisch. Wir aber lieben und verklagen uns untereinander, und so wird es bleiben, so lange die Erde Menschen trägt. Uns ist die Kraft der Selbstentäußerung gegeben, einerlei, ob wir das als Glück oder Unglück ansehen. Sie wird da sein, immer, und weder Stirner noch irgendein Selbstforscher wird mir die Tatsache hinwegklügeln können.

Einst erwachte ich aus erquickendem Schlafe. Im Nebenzimmer hustete ein Kind, und dieses Geräusch ließ mich nicht wieder einschlafen. Die Eisenbahn brauste alle zehn Minuten an dem Hause vorbei, die Dampfpfeifen dröhnten vom Flusse her, alles das hätte mich nicht gestört, aber dieser Husten! Das Kind ging mich nichts an, es hatte nichts mit meinem Eigentumsgefühl zu tun, ich hatte es nie gesehen. Aber mit jedem der stoßweise wiederkehrenden Anfälle sah ich deutlicher das blasse Gesichtchen mit den stark hervortretenden blauen Adern, den ängstlich und müd aus tiefen Höhlen blickenden Augen, und in mir wuchs ein tiefes, mich überwältigendes Mitleid. Ich vergaß meinen Zweck, wie Stirner sagen würde, ich wollte nicht mehr schlafen, ich kümmerte mich nicht um alle Erkenntnis der Welt, ich dachte nur an das Kind und an den Schwertstoß, der bei jedem Hustenanfall durch das Herz der über es gebeugten Mutter gehen mußte. Hätte ich in diesem Augenblick die Überzeugung gehabt, mit meinem Leben das Leiden dieses armen Lebens aufzuheben, ich hätte mein Leben hingegeben. Das war freilich nur ein Augenblick, gleich darauf regte sich wieder mein Egoismus und raisonnierte: »Welcher Unsinn! Dein Ich kennst du und weißt, wie viel es dir wert ist, es ist aber sehr zweifelhaft, was für ein Ich du in diesem Kinde retten würdest.« Das ist jedenfalls sehr richtig, aber freier war ich doch, auf höherer Entwicklungsstufe stand ich doch, als ich bereit war, meinem höheren Egoismus zu lieb, mein Leben hinzugeben.

Einst machten einige junge Leute auf dem Rhein eine Nachenfahrt. Der Kahn stieß an einen Brückenpfeiler und schlug um. Zwei der Jünglinge retteten sich, der Dritte versuchte ein Mädchen zu retten, das nicht schwimmen konnte, und wurde von ihrem Gewicht in die Tiefe gezogen. Das Mädchen war eine dumme geldstolze Bauerntochter, die höchst wahrscheinlich späterhin einen Ehemann unglücklich gemacht hätte; die beiden Jünglinge, die sich retteten, waren unzweifelhaft in dieser Angelegenheit sehr klug, aber wir waren töricht genug, den als Freund in unser Erinnerungsbuch einzutragen, der sein Ich aufs Spiel setzte.

In unserer Schülergesellschaft war ein Mensch, der als vollendeter Egoist gelten konnte. Als sein Vater starb, ein Vater, der ihn stets mit großer Güte behandelt hatte, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als die Taschen desselben zu leeren und das Geld zu verzechen. Wir waren so wenig von diesem Einzigen und seinem Eigentum erbaut, daß wir ihn aus unsrem Bunde ausstießen.

Dickens bemerkt irgendwo sehr richtig; daß Freundschaft auf die Dauer nur da existieren kann, wo der eine sich dem andern unterordnet; unsere Sympathie wird aber immer dem gehören, der in Freundschaftsdiensten seine Herzensbefriedigung findet, und wir werden immer den verachten, der mit spöttischem Lachen die Gabe der Freundschaft einsteckt.

Meine Beispiele mögen hinken, ich weiß auch, daß die ganze Wahrheit den Menschen nie schlechter – wertloser machen kann, aber ich kann die Grenze zwischen dem vollendeten Egoismus und der Gemeinheit noch nicht klar sehen. Und wenn ich die höhere Erkenntnis auf die Freuden der Kinder und der geistig Armen mitleidig herabblicken und den Egoisten mit zugeknöpften Taschen durch die Gassen des Elends gehen sehe, dann sage ich: Nieder mit dem Einzigen!


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