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Luginsland

I.

Am Fenster ist mein Posten,
Da hab ich dankbar erblickt,
Wie die Abendsonne dem Osten
Ihr letztes Grüßen geschickt.

Aufsteigt aus Herbsteswipfeln
Wie ein weißes Alpen-Meer,
Mit glühendroten Gipfeln
Fahren die Wellen daher.

Dann – war das Leuchten vergangen,
Das Dunkel verschlang die Pracht.
Es faßt mich wie ein Bangen –
Fremd in der fremden Nacht.

II.

Trat ein Sternlein aus den Wolken,
Ging so seinen stillen Gang,
Auf der Straße fern ertönte
Mandolinenklang.

Kinderjauchzen, Rossewiehern,
Klingend zieht die Pferdebahn,
Und in immer läng'ren Pausen
Fängt das traute Schweigen an.

Sternlein in der Ätherferne
Blinkt mich an mit holdem Schein.
Wolken kommen, Wolken gehen,
Du und ich sind nie allein.

III.

Aus der traumbangen Nacht,
Vom Lager der Schmerzen
Heben mich weiße Arme empor.
Ein Augenblick am Weibesherzen,
Von dem Schein der Liebe verführt,
Macht mich stark wie Antäus,
Wenn er die Mutter Erde berührt.

Wie das Leben mich grüßt
Durch das Fenster gen Osten!
Rötlich und ahnungsschwer das Frühlicht.
Der Hoffnung frischen Trank zu kosten
Mit der Sonne, die mächtig sich hebt,
Kraftaussprühendes Feuer,
Daß sie die Welt und mich belebt.

So im sturmschweren Rot,
Das Gold prophezeihend,
Hebt sich die Freiheitssonne empor,
Mit Feuersglut die Erde weihend,
Daß selbst der Stein dem Lichte erklingt.
Keine Gewalt der Tyrannen, Und auch kein Gott sie niederzwingt.

*

Dies ist der Tag, da die großen Schatten von ungesehenen Wolken rasch über meine Aussicht hinstreifen, und der Wind fegt neckisch aus allen Ecken und hat eben einen Blumenstock von meinem Fensterbrett heruntergeholt. Das abscheuliche Zeichen der Zivilisation, das den Pfad des Menschen selbst im Hochgebirg und im Urwald bezeichnet, verunreinigt auch meine kleine Landschaft: die herrenlosen Papierfetzen; sie ärgern mich nicht minder als meine, mit dem Frühling wiedergekehrte, Brigade der kontrakten, antiquierten Straßenreiniger. Wie sie mit ihren Harken den trockenen Straßenschmutz dem Winde zu entreißen trachten, bemerke ich, daß sie genau um ein Jahr älter und steifer und gichtbrüchiger geworden sind. Und wie ich selber, alt und steif und gichtbrüchig geworden, dasitze, fühle ich mich als ihren Kollegen; erleben kann ich nichts mehr, so muß ich denn das welke Laub und die dürren Schnitzel der Vergangenheit sammeln. Als sie in der Mittagsstunde in Reih und Glied auf der Rasenböschung saßen, habe ich einen Schnaps zum Kessel-Mahl gestiftet, und ich bildete mir ein, aus den lächelnden, zahnlosen Gesichtern steige ein lautloses Hurrah zu dem Leidensgenossen empor. Wir waren gerade dreizehn, einer von uns wird zur nächsten Frühjahrsarbeit nicht mehr antreten, das hindert aber nicht, daß wir uns heute Alle des Sonnenscheins freuen; uns gottbegnadeten Proletariern geht das Öl bis zuletzt nicht aus, von dem das Lämpchen der Lebensfreude glüht.

Heute morgen weckten mich die Klänge einer Drehorgel. Es war mir so wohl wie einer Ballschönen, für die der geliebte Lieutenant ein Morgenständchen arrangiert hat. Ich dehnte mich auf meinem Daunenpfühl, und mein Herz flüsterte mir zu: Heute passiert dir noch was Schönes. Richtig ertönt unten die in ihrem rauhen Selbstbewußtsein unverkennbare Stimme des Expreßmannes, und wie im Julklapp wird etwas Schweres hereingeschoben. Vivat, eine Weinkiste, goldgelber Saft, dem bei Bingen, wo heute noch der Kaiser Karl seinen nächtlichen Segensgang durch die Rheinlande antritt, die Sonne die Seele eingehaucht hat. Sei gegrüßt, du Gold im Munde der Morgenstunde! Wie oft habe ich dich schnöd vergeudet und dem fröhlichen Schwein des Rausches die kostbaren Perlen vorgesetzt! Aber vergeudet man nicht auch die Jugend und die Liebe, und wer mit ihnen haushälterisch umging, war nie jung und hat nie geliebt. So lange die Erde noch solchen Wein schenkt, ist sie keine Rabenmutter, kein Planet, der seinen Zweck verfehlt hat; so lange es Menschen gibt, denen es Genuß und Selbstbefriedigung ist, dem ferne Weilenden solchen Genuß zu senden, so lange sperre ich meinen Pessimismus zu meinen Schmerzen und glaube an den rothaarigen Erlöser, das kommende Jahrhundert.

Ich wollte euch wohl einmal von meinen Schmerzen erzählen und von der gebildeten Krankheit, die mir die Ehre angetan hat, ihre Residenz in meinem Körper aufzuschlagen; aber die Wahrheit wollt ihr ja doch nicht glauben, und an Mißverständnissen seid ihr so groß, daß ich mich manchmal frage: schreibe ich nicht deutsch, deutlich? Bin ich als Mystiker bekannt oder habe ich mir einigermaßen Mühe gegeben, die Dinge beim rechten Namen zu nennen? Ich schrieb an Freunde, wie es sich verhält, wie ich Philosoph genug bin, den Humor des Unabänderlichen zu verstehen und wie ich freier als je in der körperlichen Beschränkung Welt und Leben erfasse. Sie antworten mir mit einer Beschwörung, ich solle den Mut nicht sinken lassen, ich sei es meiner Sache schuldig, daß ich bis zuletzt aushalte und was sonst so schöne, aber in meinem Falle gewiß überflüssige Ermahnungen sind. Ich beschrieb Andren mit dürren Worten meinen medizinischen »Umstand«, sie meinten: »Na, so schlimm ist's jedenfalls nicht!« Einem meiner Besten deutete ich in Bezug auf einen erwünschten Besuch das periculum in mora an, er antwortete mir: »Vorläufig nehme ich Dein Schreiben als einen Stimmungsbrief.« Da fällt mir dann dabei ein, daß man mir in den einfachsten Dingen nicht so recht geglaubt hat. Einst hatte einer meiner Verehrer – ich erlaube mir auch einmal diesen opulenten Ausdruck – Gelegenheit, in meine Korrespondenz Einsicht zu erhalten. »Ja, kriegen Sie denn wirklich alle diese Briefe«, fragte er erstaunt, »aus aller Herren Länder?« Er mußte also vorher geglaubt haben, meine Briefkasten-Notizen seien aus der Luft gegriffen. Erzählte ich meine Abenteuer als Grüner, so verständigten sie sich unter einander: Natürlich ist zwei Drittel davon nicht wahr. Schilderte ich kleine Szenen aus meinem jugendlichen Liebesleben, nicht einmal mit Ausschmückung, nur mit genauerem Bewußtsein der Gefühle, die noch wirr im jugendlichen Busen sich drängten, so meinten sie: »Das hat er hübsch aufgemacht.« Und doch war ich mein Lebtag nicht im Stande, etwas aufzumachen, etwas zu erfinden, sondern konnte nur bringen, was ich innerlich und äußerlich erlebt habe. Ich habe nie Tränen geschrieben, wenn ich sie nicht geweint habe, ich habe nie von Liebe gesprochen, wenn mich nicht der alte süße Wahnsinn übermannt hatte; ich habe nie eine Blume gepriesen, wenn sie nicht blühend vor mir stand; ja, ich bin so wahr, daß ich es nie wie gewisse deutsche Dichter fertig brachte, bei Wasser oder Bier den göttlichen Wein zu besingen.

Das ist Wein, der vor mir steht, er ist so süß wie der Kuß des schönen Försterstöchterleins in der »Weißen Rose« in Heidelberg; sie war selber wie eine Moosrose, des Busens Fülle im grünen Samtmieder, das dunkle Haargelock um das blühende Gesicht. Er macht mich stolz, er macht mir Mut, euch von den kleinen Geschichten im Bereiche meines Luginsland zu erzählen, euch, die ihr mit eignen und Pferde- und Pferdekraft- und elektrischen Beinen durch die Welt stürmt, die ihr räsonniert, wenn die Ozeanfahrt zwei Stunden länger dauert als stipuliert, die ihr es schwer empfindet, daß mit dem Mars noch keine Konnexion hergestellt ist, und – die ihr doch noch dankbar seid, wenn man euch das Veilchen zeigt, »das still am Wege blüht«.

Der mir gegenüber liegende Grasplatz (verflucht sei, wer ihn in »Lotten« auslegt!) ist meine Wiese. Es wächst freilich nur ein Gras darauf, das höchstens einmal nach einer mit Himmelstränen durchtauten Nacht ganz grün wird, das gelbe Leontodon kommt nicht einmal zur Blüte, weil die armen Leute schon vorher die Pflanzen ausstechen, um Salat daraus zu machen. Ach ihr Hundsblumen und Gänseblümchen, einst so wenig beachtete, wenn ich jetzt eure Sterne auf meiner Wiese aufgehen lassen könnte! Die Böschung, welche meine Wiese von der gemeinen Straße trennt, bildet nur der Bergpfad, auf dem allerlei meist recht gewöhnliche Menschen einherschreiten. Nichts individuelles, ob sie in Lumpen gehen oder in einem Anzug, den der Schneider für vierzig Dollars verpfuscht hat. Nur der Herr Pfarrer macht eine Ausnahme, etwas vom Tannhäuser steckt selbst nach seiner römischen Bußfahrt noch in ihm, und wenn er bei aller apostolischen Würde und Haltung nicht umhin kann, nach den Töchtern des Landes zu schielen, so wünsche ich jedes Mal pietätvoll: Gott segne deine Studia! – Im Winter wars schöner – wie lang ists her? ein Augenwink – als der Schnee hoch lag. Da kamen die Büblein und Mädlein aus der Schule, liebes Gesindel! schreien ohne Tonart, balgen ohne Prinzipien, wälzen sich ohne Anstand im Schnee. Es gab aber eine hohe Schneewehe, in die sich noch keins hineingewagt hatte. Da kam ein kleines Mädchen auf kraftvoll gedrechselten Beinchen, unter der schottischen Mütze hingen verzaust die blonden Locken; hinter ihr her schlitterte an einem Bücherriemen die Wissenschaft über den Schnee. Ich dachte daran, aber ganz gewiß nicht das Mädchen, daß die so schnöd behandelte Weisheit noch ins Köpfchen kommen muß. Den Schneeberg sehen, aufsteigen, einsinken war eins. Nun saß sie bis über die Ohren vergnügt in ihrem Nest, und das lachende Gesichtchen glühte wie ein Röslein im weißen Schnee. Wenn ich jeden Tag so ein Bildchen sehen könnte, brauchte mir kein Maler was zu malen. Heraus konnte sie nicht mehr, es gruben also die Buben einen Schacht und zogen sie an den Beinen herfür.

Aber verfrühter Frühling fraß den Schnee, schöne Tage wie das trügerische Lächeln der Sultanin, die nach deinem Herzblut trachtet. Grausamer Frost gebot dem sehnsüchtigen Sprossen der Baumknospen Halt. Und was ist aus meinem heutigen schönen Apriltag geworden? Die fliegenden Schatten haben sich zu einer grauen Wolkendecke vereinigt. Es wird dunkel, die Schwüle fröstelt einen an, und der Wind schleudert barsche Regentropfen. Drüben auf der anderen Seite der großen Verkehrsstraße kämpft eine elegante Dame – ein seltener Schmetterling in dieser Gegend – mit dem Sturm. Den Oberkörper verdeckt der Schirm, aber unterm schwarzseidenen Kleid flattert lustig der weiße Unterrock. Ich meine die Füßchen zu sehen, aus dem der Dichter-Anatom den ganzen herrlichen Bau des Menschenleibes sich konstruiert, ich vernehme das Knistern der Seide in der Umarmung, ich atme den Veilchenduft der Spitzen, die den rosigen Busen umrahmen. Ferner und ferner ab leuchtet es weiß auf, nur meine Augen vermögen zu folgen, bis das Nichts, das selbst dem Renner Achilles die Grenze setzt, auch den letzten Schein verschlungen hat. Ich bescheide mich wieder in meinem lieben Gefängnis. Noch ein Rest Wein, dem Vergangenen. Und nun lasse ich mich in Traum wiegen von der Symphonie, die meinen Blumen entströmt.

*

Auch was man in den Armen Teufel schreibt, ist eine Petition an den Himmel. Mein Grasfleck, auf dem sie, seit des Frühlings ersten grünen Spitzen, gehauen und gestochen mit Äxten und Hacken und Schaufeln und Tischmessern, hat sich doch jetzt mit den lieben gelben Blumen besternt, die ich schon vermissen zu müssen glaubte, und die nun doch erschienen sind wie ein tausendfacher und doch so bescheidener Gruß aus der Heimat. Es sind Proletarier unter den Frühlingsblumen, mit allerlei schnöden Namen nennt sie das Volk, und blickt doch jede einzelne, von jenem Golde erfüllt, das sich nicht münzen läßt, so geradeaus zur Sonne empor, wie es der Mensch nicht einmal vermag, und als ob sie des volltönenden Namens sich bewußt sei, den die Botanik ihnen gegeben: Leontodon tarataxicum. Proletarier unter den Frühlingsblumen, und doch oder gerade darum in dem schnell vollendeten Kreis ihres Daseins mitschaffend an der Segensfülle, die jeder Frühling über die Erde spreitet. Aus ihrem Kraut bereitet die medizinische Wissenschaft, die auch die bescheidenen Quellen nicht vergißt, einen Heiltrank für Naturen, die noch nicht von metallischen Giften zerfressen und geheizt werden, der arme Mann aber ein schmackhaftes Salätlein, wenn der Reiche noch kaum den Luxus des im Mistbeet gezogenen Kopfsalats sich erlauben kann. Tausend zierliche Mückchen und Käferlein finden ihre Heimat in der Blume, die nur ein strahlendes Herz ist und des Nachts sorgfältig sich und ihre Gäste in den grünen Blättermantel hüllt. Die Kinder aber schlingen aus den hohlen Stengeln Ketten, sind die allein echten Liebesketten, nur so lang zwei innig aneinander geschmiegt, bleiben diese Ketten unzerrissen; aber sie lassen sich verlängern, so lange es Blumen gibt, und das kleinste Kind kann mit den tappigen Rosenfingern ein grünes Glied schlingen, das den unheilbarsten Bruch wieder zusammenfügt. Wenn aber das kurze sonnige Dasein verblüht ist, steckt der Leontodon seine eigene Sterbekerze an; pausbäckige Kinderengel blasen die Lichter aus. Jetzt hat die Geschichte ein Ende, denken sie, und haben doch nur den Samen eines künftigen Frühlingslebens dem Winde übergeben!

Das klingt fast wie eine fromme Betrachtung. Und warum denn nicht? Heute ist Himmelfahrtsfest, und die Glocken läuten mit einem Male, und mein Herz läutet mit, und die Gefühle, die unsterblich sind, klingen und fliegen wie gefiederter Samen der Zukunft bis in den Himmel hinein.

O blumenumranktes Fenster, du mußt dich weiten für all die Seligkeit, die hereindrängt und hinausziehen will im Mai, im Mai. Die Tulipanen stehen als Opferkelche, röter glüht die Rose und wird zum Hymnus an dich, du Maienkönigin, du der Hoffnung, der Freude und der Liebe ewig jungfräuliche Mutter! ob sie dich Isis nennen oder Astarte oder Kypris oder Maja oder Maria, du bist dieselbe; und wie du ein Stück ionischen Himmels über die düstern Wälder Germaniens gespannt und ein Stück südlicher Sonnenglut in die Herzen meiner Vorfahren versenkt, und der Liebe zeugende Heldenkraft in stolzen Busen entzündet, so hast du mir die Sterne ins Gras gezaubert und den großen Frühling aller Wesen in mein kleines Herz!

Maja, Maria! wie kann der Christenpriester es wagen, dich zu preisen, er, dessen Liebe als eine verfluchte und gottverlassene im Dunkel kriechen muß? Darf auch der Maulwurf das Licht preisen und der Aaskäfer den Duft der Rose? Maja, Maria, wie haben sie dich herabgewürdigt zur gebärenden Magd eines Gottes, der das eigene Werk seiner Vollkommenheit verfluchte, der Menschen schuf, um sie den Qualen der Verdammnis preiszugeben, Kinder mit dem Fluch der Erbsünde belastete und das Licht seiner Gnade nur ausbreitet, wo Hundedemut ihm entgegenkommt.

Maja, Maria! wie viel lieblicher als der Priester Lehre ist die menschliche Sage, die wie blühendes Unkraut in den Küchengarten der biblischen Geschichte hineinragt. Eine aufblühende Jungfrau saßest du im Abendschein auf dem Dache deines Hauses. Da ging im römischen Kriegsgewand ein blondgelockter germanischer Jüngling vorbei. Und wie die Augen sich fanden, ein Schicksalsblitzen, so fanden die blühenden Leiber sich, noch ehe die Nacht dem Morgen wich. Da ward geboren der souveränen Liebe Sohn, dem der Mutter südliches Blut die germanische Sehnsucht nach Menschenliebe im Herzen reifte, also daß er nie Gehörtes den Armen und Elenden verkündete und am Tempel der Tyrannei rüttelte, bis er zusammenbrach und mit den stürzenden Trümmern auch ihn erschlug, den fallenden und doch unbesiegten, mit dem die unendliche Kette der Blutzeugen der Wahrheit anhebt, die noch heute kein Recht findet vor Kaiphas und Pilatus.

Maja, Maria! in solcher Liebe bist du, wie es Isis war und Astarte und Kypris, in solchem Menschentum wie in jedem Blümlein, das der Erde Rinde sprengt und in jedem Lerchenlied, das seine eigene Himmelfahrt verkündet. Dich erniedrigen zur gebärenden Magd des jüdischen Himmelstyrannen, zur Mutter eines Gottes, der dich und die Natur verleugnend an sich selber verzweifeln mußte?! Dich zur Trägerin eines Wunders machen, das Kastraten in den Zwingburgen des Geistes besingen und das der feile Priester in schnödes Geld ausmünzt?! Da du doch die Seele jenes einzigen und ursprünglichen Wunders bist, das allein zwischen uns und der Verzweiflung steht, des ewigen Frühlings, dem unser Herz zujubelt, wenn es auch schon mühsam schlägt, der uns immer eine Offenbarung ist, und wenn wir tausendmal wissen, daß darauf folgen die sengende Glut des Sommers, des Winters Erstarrung.

Obs aus dem Schoß der Erde oder aus den Tiefen des Menschengeschlechts sich hervordrängt, immer ists die Sonne der Liebe, die die Rosen der Freiheit küßt. Die Glocken läuten, denn heute ist Himmelfahrt, und die ungeweihten Tulipanen und mein ketzerisches Herz läuten mit. Hoch oben in jenem Tiefblau, das wie eine Friedensinsel in den weißen Wolken liegt, schwebt meine Seele, und ich höre wie einen anschwellenden Päan den Gesang aller hoffnungsfreudigen Herzen auf dem weiten Erdenrund, und der Erinnerung liebliche Göttin zeigt mir die gesegneten Auen, auf denen ich in des Lebens Wonnetagen meine Himmelfahrten feierte. Aus süßen, nimmer vergessenen Mädchen-Augen schaust du mich an, Maja, Maria! und ich drücke all die Herrlichkeit ans Herz, von den strahlenden Sonnen bis zu den kleinen Sternen, die der Frühling für mich ins Gras gestreut hat.

*

Das war ein trauriger Rückschlag. Pankraz und Servaz, die ruppigen Heiligen, haben der Pfingsten-Maien Lust ein Ende gemacht, und mich selber warfen sie wieder aufs Schmerzenslager, als ob die Himmelhunde das Ketzerische aus meinem Lobgesange der Maja Maria herausgewittert hätten. Ich konnte nur noch Zwiesprache halten mit den Geistern meiner Blumen, die mir von Schneeglöckchen und Crocus bis zur Tulpe und Rose den Frühling gebracht hatten; selbst die Geranien ließen ihre roten Blütenblättchen fallen wie blutige Tränen, das Immergrün vergaß, seine blauen Blümchen zu treiben, und sträubte zornig seine Ranken im peitschenden, kalten Wind, und der treue Shamrock beschloß, einen langen Schlaf zu tun. Ich möchte auch einen solchen langen Schlaf antreten, und wäre es ein Todesschlaf, wenn ich sicher wäre, daß ich wie diese Pflanze zu tausendfältigem Blühen wieder erstehen würde; verschlafen all die Experimente und Versuchsbomben unsrer Zeit, denen ich ja doch nicht mehr nachlaufen oder davonlaufen kann, um aufzuwachen in einem jener tollen Frühlinge, wo der Idealismus im Bewußtsein seiner Ewigkeit sein Blut verschwenderisch ausgießt, wo schon vor den unsicheren, strauchelnden Gehversuchen der Freiheit, die ihre lang gefesselten Glieder reckt, um den gehemmten Blutumlauf wieder herzustellen, die höchsten Menschen und die festesten Burgen taumeln und stürzen wie beim Erdbeben, die Ameisen-Weisheit nur noch gut genug ist, das Schmarotzertum der dicken Mehlwürmer und Schmeißfliegen fern von der Sonne in unterirdischen Kammern zu zerstückeln, und der Leichtsinn und die Liebe der gefiederten Genossen des Himmels über dem Kampf und Dampf der Erde ihre Triumphe feiern. Vielleicht daß ich dann nicht nur in Gedanken mitfliegen, sondern auch mit beiden Beinen mitmarschieren könnte. Das sind aber törichte Wünsche; ich will mich hüten vor langem Schlaf, denn ich fürchte – »das Auferstehen wird nicht so schnell von statten gehen«. Ich will lieber mein Herz wach erhalten, damit es mit jedem Schlage gegen das grenzenlose Leid der Menschen protestiere, ich will nur auf einem Ohre schlafen, damit mir kein Weckruf der Freiheit entgehe; und jeder Sonnenstrahl, der sich bis zu mir verirrt, soll mich daran erinnern, daß es der lahme Tyrtäus war, dessen Gesänge der Griechen Herzen zu höchstem Mut entflammten.

Neulich zogen im kalten Regenwind zwei fahrende Musikanten an meinem Fenster vorüber. Bis an die Ecke der Straße waren sie schon gekommen, da mochte es sie bedünken, daß sich vielleicht bei mir Dankbarkeit auch für ihre Musik finden würde. Sie kehrten zurück und spielten mir eins auf. Es waren echte Söhne Italiens, es war Grazie wie sie grüßten, wie sie ihre Instrumente hielten, wie sie sich für den Obolus dankend verneigten, auf den braunen, dunkeläugigen Gesichtern das Gepräge jener Melancholie, die uns immer an das Lied Mignons erinnert. Spielten einige Opern-Auszüge und die Marseillaise. Da erinnerte ich mich jenes Tages, da ich zu diesen Klängen mit Tausenden in den Friedhof zu Waldheim einmarschierte. Und ich fragte mich: War ich denn damals weniger ohnmächtig als jetzt? Habe ich denn nicht mit gesunden Gliedern und mit vor Entrüstung hochpochendem Herzen zugesehen, wie man die Vertreter der Sache des Volkes rechtlos hinmordete, zugesehen mit Tausenden und Abertausenden, die gerade so gut in der Matratzengruft oder im Grabe hätten liegen können? Wem in jenen Tagen nicht Rache das Gelöbnis, Rache die Hoffnung und Zuversicht war, der trug kein menschlich Herz im Busen. Schmach und Hohn wurde auf uns gehäuft, aber unsre Rache bestand in der Entschuldigung, daß wir so frei gewesen, und in dem Betteln um das bürgerliche Recht. Seit jener Zeit klang mir die Marseillaise nur wie ein Spottlied auf uns selber im Ohr.

Seit jener Zeit habe ich mich in der Bescheidenheit geübt und mich zu dem Gedanken gezwungen, daß die Saat oft weit von dem Felde aufgeht, auf das sie gestreut wurde [...]

*

Ja, wenn man kaum eine schmerzfreie Stunde hat, ist da nicht viel zu sehen und gar nichts zu berichten. Es war wahrhaftig nicht die Flasche Rüdesheimer, es ist auch nicht in irgend einer Weise eine direkte Strafe der Natur, daß mir die Feuerpein seit einiger Zeit wieder im Gebein tobt, es ist nur, weil es sich so gehört und weil man sonst zu üppig würde. Nun hat man freilich im Fieber gar wundersame Träume und Gesichter, aber es ist gerade wie mit dem, was man im Rausch spricht (»Trinken wir, sind wir begeistert, – Reden wir mit Engelzungen«), zum Niederschreiben taugts doch nicht. Und gerade jetzt hätte ich so viel zu sagen. Der Sack für das katholische Plauderstübchen ist übervoll, Ariolus bedrängt mich hart mit einer intimen Beschreibung des erhabenen Schillerfestes, welches der »Deutsche Klub« mit Braten und Salaten abgehalten hat, verschiedenen niederträchtigen Subjekten sollte aufs Haupt geschlagen werden, in Europa hätte ich ein bißchen mitregieren und in Amerika mitwählen mögen, endlich ein Briefkasten von außergewöhnlichem Reichtum; und alle diese guten Taten muß ich verschieben wie der Schlossermeister Ruckhaber in Freiburg, als er dem Studenten, der ihn Morgens um fünf schon um einen Kronentaler anpumpen wollte, durch die verschlossene Zimmertür zurief: I kann jetzt nit, i lieg im Schweiß. Aber die lieben Blumen, die mir von treuen Freundinnen des Armen Teufel zum 11. Geburtstag zugesandt wurden und die in meinem Herzen nie welken werden, sollen doch nicht unerwähnt bleiben.

Das Schlimmste ist, daß ich, wie ich jetzt schon voraussehe, auf die hohe Freude, bei der Einweihung unsrer Turnhalle mitzuwirken, verzichten muß. Ich hätte gern etwas geschrieben über das Fest, das nächsten Donnerstag seinen Anfang nimmt, aber sämtliche Zeitungen Detroits besorgen ja das Puffen in so ausgedehntem Maßstabe und sind, seitdem der Soziale Turnverein nicht mehr so ein Proletarier ist, sondern Eigentum hat und sein eigenes Haus zur Einweihung vollendete, so begeisterte Freunde desselben geworden, daß man die Stimme des Armen Teufel nicht vermissen wird. Möge im Festjubel die Verantwortlichkeit der Zukunft nicht ganz vergessen werden! Möge bei dem plötzlichen Wachstum der revolutionäre Geist, welcher die eigentliche Lebenskraft eines Turnvereins bildet, der seinem Namen Ehre machen will, nicht geschädigt werden!

Es war recht hübsch, daß mit dem Beginn des 11. Jahrgangs auch der fast durchweg aus alten Turnern und Freidenkern bestehende Gesangverein »Concordia« im Armen Teufel wieder angetreten ist. Wozu die Feindschaften, da doch Menschen und Gesangvereine nur so kurze Zeit haben, einander etwas Schönes zu sagen und zu singen?! Ich freue mich, daß das Eröffnungskonzert von meinen Privat-Detektives als glänzender Erfolg bezeichnet wird. Herr Abel darf sich wieder einmal sagen, mit Orchester und Chören Künstlerisches geleistet zu haben. Von den Solisten wird gerühmt, daß Herr Mengel wie ein glücklicher junger Ehemann gesungen, Frau Julia Bindemann dem Ozean, dem Ungeheuer, wieder einmal nach allen Regeln der Kunst den Standpunkt klar gemacht und Frau Katharina Reese – »es war ein herzigs Veilchen« – alle Herzen, die nicht schon im Banne ihrer dunkeln Augen lagen, durch den tiefen Wohllaut ihrer Stimme erobert habe.

Danksagungstag haben wir ja auch diese Woche, das ist ein freier Tag und Lustbarkeit für die Setzer, ein Raub am Redakteur des Armen Teufel, der bekanntlich in der elften Stunde, am Donnerstag, immer erst seine besten Gedanken bekommt. – Ich werde zur Feier, da ich ja doch nicht, wie unser Gouverneur es wünscht, in einem »place of worship« mich versammeln kann, wieder einmal meinen Freund und Collegen Hiob lesen, der noch viel schlimmer daran war als ich. Das ist so eine richtige Danksagungstaglektüre, und kein Pfaff kann dagegen was einzuwenden haben.

*

Mit diesem Tagesgestirn, das scheinbar immer mehr im Süden unsere Welt an sich heraufrauschen läßt, beginnt für meine Detroiter Freunde eine arbeitsreiche Woche, die in ihrem Schoß die Keime künftiger geistiger Größe tragen soll. Heute zieht man mit Pauken und Trompeten ein in die neue Halle des Sozialen Turnvereins. Wir wissen, was dieser Tag für Detroit zu bedeuten hat; er ist nicht nur ein Freudentag für den Turnverein, oder, da ja ein Verein an und für sich eine so mythische und unfaßbare Person ist wie ein Volk, für diejenigen Mitglieder, welche ihr redliches Streben an die Erringung einer Heimat für die Ausbildung des Körpers und des freien Gedankens gesetzt haben; er ist auch ein auf lange Zeit hinaus letzter Versuch, dem Freidenkertum im breitesten Sinne des Wortes, dem revolutionären Deutschtum dieser Stadt einen Zentral- und Vereinigungspunkt zu schaffen. Das Entgegenkommen von Seiten der Turner war da, mit fröhlichem Mute haben sie sich eine Last von Schulden und Sorgen, Sorgen und Schulden aufgeladen. Es liegt jetzt an dem freisinnigen Deutschtum, zu zeigen, daß es den schönen Gedanken zu würdigen versteht. Der Gedanke an die unumgänglich notwendige Erziehung der Kinder zu wehrhaften Menschen, die auf ihren eigenen Füßen stehen können, ist ja allein schon ein bindender Gedanke, dessen jede sonstige Vereinigung entbehrt. Die Jungen haben diesmal den Sammelruf ergehen lassen, Grauköpfe, die sich schon längst in die Höhle des Mißmutes oder einer falschen Selbstzufriedenheit zurückgezogen haben, kommen wieder zum Vorschein und werden heute Abend beim elektrischen Lichte sich wundern, daß sie noch alle vorhanden sind; an der glänzenden Beteiligung von erprobten Frauen und schönen Mädchen fehlt es nicht. Die Sonne geht heute auf wie ein junger Alexander, der seinen Siegeslauf beginnt. Sei es uns und der Sache, der wir doch auch in Not und Tod treu bleiben, ein günstiges Omen! [...]

*

Mein Geburtstag fällt mitten in die Zeit der mitleidslosen Schneestürme und des splitternden Eises, aber er bringt mir doch immer einen Frühling von Blumen. Narzissen und Nelken für Herzen, die nimmer welken, Rosen in stolze Blüten geschossen, ich habe sie mit meinem Herzblut begossen. Dazwischen die Veilchen, die duftenden, blauen, noch hab ich ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen; der Azalea Blütenstrauß trägt mich weit nach dem Lande der Sehnsucht, an die Gestade des Mittelmeeres hinaus; und mein Shamrock blüht wieder treu und bescheiden wie die Hoffnung der Völker, die lieben und leiden.

Wenn ich so unter Blumen liege und mit geschlossenen Augen die Nacht erwarte, die mir doch nur Schmerz bringt und Unrast, dann sehne ich mich oft nach dem großen, schönen Schweigen, nach der heiligen Stille, die man in einer Wohnung der Lebendigen nie empfinden kann. Ich meine aber nicht das absolute Schweigen des Todes, das dem Lebenden nie gegenständlich sein kann, ich meine die Stille, die von den Tönen erfüllt ist, die für sie passen, die uns stärkt, indem sie uns beruhigt, die uns erlöst und befreit. Und, obschon vom Markte des Lebens verbannt und zu einer gewissen Einsamkeit verursacht, sehne ich mich nicht nach dem Beifallsgeklatsch des Publikums, das mir doch einst süß genug war auf der Rednerbühne, sondern ich beschwöre mir Einsamkeiten herauf, die ich erlebt und die mir heute noch wohl tun.

Da gedenk ich zunächst der schönen Stille, die im Mannheimer Carcer herrschte, und die ich in keinem Gefängnis wieder so gefunden habe. An einem Sonntage, den ich in dem höchst einfach möblierten, halbdunkeln Gemach zubringen mußte, kam sie mir so recht zum Bewußtsein. Sonst hallten die steinernen Gänge des Jesuiten-Klosters vom Gestampf und Kampfgeschrei angehender homerischer Helden wider, jetzt schlurfte nur noch der Pedell mit dem klirrenden Schlüsselbund vorüber, dann Stille. Ich hörte den Holzwurm bohren und die Mäuse knabbern. Mein Herz war so ruhig: die Prügel für die begangene Freveltat hatte ich weg, die Sühne war also schon geschehen. Man war damals human genug, einem die Carcerstrafe nicht durch ein Pensum zu verbittern. Mein Herz war so frei. Wie ich mich so auf die Pritsche streckte, auf die schon so mancher junge Feuerkopf sich gebettet, war es mir, als ob ein Summen in allen Sprachen über die tote Wissenschaft sich lustig machte und das Knacken des alten gichtbrüchigen Tisches explodierte dazwischen wie ein Scholaren-Witz. Fernher wie aus einer anderen Welt klang bisweilen ein Jauchzen aus dem Schloßgarten, aber es störte meine Kreise nicht. Mein Herz war glücklich, zu träumen und zu dichten in der Stille. Wenn aber mein Blick durch das Fensterlein hoch oben den Himmel suchte und zwischen Himmelsblau und Baumesgrün die alte Sternwarte erblickte, dann wurde mein Herz fröhlich. Ich wußte ja, dort oben saß mein Mathematik-Professor, auch ein närrischer Kauz und Freund der Einsamkeit, und dachte an seine verratene Liebe und korrigierte wütend verpfuschte Gleichungen und erholte sich dazwischen an – meinen Gedichten – er pflegte mir dieselben förmlich zu stehlen, und sein kindliches Herz habe ich mir leichter erobert als meine Angebeteten – und wartete, daß es da unten losgehen sollte. Da tat ich ihm dann den Gefallen und begann ein schauderhaftes Getöse mit Commersliedern und mit Deklamationen, Fausti Fluch und Carlo Moor trug ich ihm »in der Stille« vor, oder ich wütete auf eigene Faust gegen allerlei Tyrannei und die Untreue des Weibes – der Bach im Tal ist ihrer Falschheit Spiegel. Nie hat mir das Predigen später so wohl getan. Wie die Töne in dem hohen Loch gleichsam an den Wänden sich verdichteten und noch in die Stille nachgrollten! – Ich kann von diesem seltsamen Schweigen nicht Abstand nehmen, ohne zu erwähnen, daß ein Jagdfrühstück im Walde unmöglich mit demselben Genuß verzehrt werden kann wie ein Liebesgaben-Lunch im Carcer.

Man hat mich einmal, Gott segne den Familienrat! in die Verbannung geschickt in die welsche Schweiz. Canton de Vaudt, Liberté et Patrie! Wohl hat mir deine Freiheit behagt und unter vielen Vaterländern könnte ich dich wählen; aber ich habe auch viele weniger angenehme Einsamkeiten dort erlebt. Statt, im Studierzimmer eingeschlossen, klassisches Französisch aus Corneille und Racine zu studieren, hätte ich lieber das einfache aimer conjugiert mit der Madeleine aux Grands Moulins, die den Yvorne so zierlich kredenzte und mit ihren Stricknadel-Lanzen so schlecht sich verteidigte. In diesem Paradies der Erde hatte ich doch Heimweh. Nach was? Nach deutschen Kneipen, nach dem deutschen Lieb mit den blauen Augen und dem grünen Schleier, nach – deutschen Schulbänken. Und so schritt ich in einer Nacht aus dem fröhlichen Orbe, wo die Mädchen im Mondschein durch die Gassen zogen wie wandelnde Blumen und sangen und aus den Tavernen das Klirren der Gläser und das rhythmische Stampfen des Tanzes erscholl, hinaus, dem rauschenden Wasser entlang, bis mich die weißen Steine und dunkeln Cypressen mahnten, daß ich in die Ruhestatt der Toten gedrungen. Es war ein feierliches, aber doch unheimliches Schweigen, das ich dort, auf einem Grabhügel sitzend, ertrug. Meine Kindheit war zu sehr getränkt von dem Hineinragen der Geisterwelt, als daß ich mir an solchem Orte die Unbefangenheit hätte wahren können. Seltsame Gestalten bildeten sich aus Busch und Baum, das Mondlicht rann wie glühend flüssiges Silber über mein Herz, und es war ein Lispeln und Raunen in den Büschen. Und doch sehnte ich mich, zitterte förmlich nach einer Offenbarung. Das war fürwahr die rechte Stunde, und es war der rechte Ort. Aber nicht einmal ein lumpiges Gespenst erbarmte sich meiner. Ich blieb allein in der Stille mit meinem töricht klopfenden Herzen. Ich raffte mir eine Rose und entfloh nach der schlummernden Stadt; aber noch lange war mirs zu Mut, als ob die Rose aus dem Herzen eines Toten entsprossen sei und als sei ich jetzt verbunden jenem Herzen unterm Boden. – Später bin ich einmal eine ganze Nacht auf einem Friedhof gewesen, aber da hatte ich mit dem Totengräber scharf gezecht und schlief so friedlich auf einer Marmorplatte wie der drunter.

Zog ich einst in einer Nacht in New York auf Abenteuer herum, recht wie Bursch in Saus und Braus, und mein Herz dachte nicht an Stille und Schweigen. Traf ich auch ein Mädchen, die ebenfalls auf Saus und Braus aus war, ein glutäugiges Franzosenkind; keine vom Handwerk, ein wohlerzogenes Teufelchen, das aus irgendwelchen Mauern des Anstandes und der guten Sitte entflohen war. Wir kneipten und küßten und sangen und amüsierten ohne Zweifel die Zuschauer. Zuletzt als wir selig und schläfrig waren, hatten wir auch einen Ruheplatz gefunden, wenn es auch kein cyprischer Hain war. Ich erwachte. Eine Lampe warf ein scheues Licht auf die nackte Gestalt neben mir; wie eine Bacchantin hatte sie sich hingeworfen, wie eine Psyche schlief sie jetzt. Aber diese Stille, diese beängstigende Stille mitten in diesem Hexenkessel New York, mitten in dem Viertel, wo es nicht Tag noch Nacht gibt! Kein Johlen eines Betrunkenen von der Straße, kein Rasseln eines Bahnwagens. Nur irgendwo im Zimmer, vielleicht aus einem Eisschrank, das Tropfen von Wasser in regelmäßigen Zwischenräumen. Da mußte mir der entsetzliche Gedanke an die Morgue durch den Kopf fahren. Und sie selbst – sie atmete ja nicht mehr, der Busen hob und senkte sich nicht mehr. War das Leichenfarbe, das auf den herrlichen Leib sich gelagert? Die grausame Stille schnürte mir Herz und Kehle zu. Da legte ich zögernd meine Hand auf ihre Brust. Sie schlug die Augen auf und lächelte. Rosenlichter ergossen sich über die weißen Glieder. Sonnentöne verklärten das Gemach, und das erbarmungslose Tropfen der Zeit verklang in des Liebestammelns Raserei.

Darum will ich aber doch zuletzt ausruhen in einer reineren, kühleren Stille. Könnt ich noch einmal dich genießen, Frieden des Bergwalds! Nicht unten am Abhang, wo die Finken im Gebüsch zanken, hoch oben, wo nur noch einzelne Tannen und Birken über moosige Felsen und Heidekraut ihren Schatten werfen. Hier zu ruhen an einem sonnigen Nachmittag. Rings umschließt nach der Tiefe zu der Hochwald deine Ruhe-Insel, kein Geräusch aus der Tiefe dringt zu dir herauf. Unterm tiefblauen Himmel schläft selbst der Wind in den Zweigen. Nur das Summen der Bienen, das süße Wiegenlied. Und das ruhige Pochen deines Herzens, es ist dir, als sei es eins mit dem Klopfen des großen Mutterherzens, an dem du ruhst. Das ist die heilige Stille, das ist das Schweigen, das alle Rätsel löst und allen Zwiespalt versöhnt. Der Tod ist nur ein schlechter Ersatz dafür. Aber man ist auch mit dem schlechten Ersatz zufrieden, wenn einem keine Wahl bleibt.

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Geschrieben steht, daß Demjenigen, der nichts hat, auch noch das genommen werden soll, was er zu besitzen sich einbildet. Auf meiner Wiese sind Telegraphenstangen in den Schnee gepflanzt, es sind Kreuze oder Galgen, mit welchen die Zivilisation die Erde verschimpfiert, sie marschieren gerade auf mein Fenster los, und der Durchbruch der Straße ist nur eine Frage der Zeit. Wenn man bedenkt, daß jede solche Stange einen gemordeten Baum bedeutet, so möchte einem das Herz bluten.

Hat es schon je einen Menschen besser oder glücklicher gemacht, wenn er Triumphe der Gemeinheit Tage, Wochen, Monate früher erfuhr, als auf dem klassischen Wege der Fama? Ist es eine so große Genugtuung für den Menschengeist, daß man armselige Verbrecher abfangen kann, sobald sie den Boden des neuen Landes betreten? Ist es etwas Erhabenes, heute schon zu wissen, daß gestern die Schwiegermutter gestorben ist, oder Majestät X bei Majestät Y diniert hat oder Kain zwischen Euphrat und Tigris seinen Bruder erschlagen hat? Gewiß, für leere Geister wird das zum täglichen Brot, und spekulative Geister müssen doch im Augenblicke wissen, wann und wo die Aktien eines staatlich geheiligten Schwindels gestiegen oder gefallen sind. Ich will noch gar nicht davon reden, daß der Telegraph überall im Dienst der Herrschenden steht – Bedürfnis ist er nur für Hohlköpfe und Schufte, die auf Kosten Andrer Wohlleben wollen. Und steht es mit all dem, was man unter dem Begriff Zivilisation zusammenfaßt, besser?

Die Telegraphenstangen rücken auf mich los – wie viel Waldursprünglichkeit, Freiheit, Menschenwürde ist an diesen Kreuzen und Galgen geopfert worden? [...]

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Wir haben heute wieder einmal einen prächtigen, echten, kühlen Maimorgen, da muß ich doch einen Augenblick mit meinen Lesern plaudern. Natürlich von meiner Krankheit. Als ich noch so gesund war, daß ich nur aus Kindheitserinnerungen wußte, was Krankheit sei, habe ich mir mit unendlicher Geduld manchen Stockschnupfen und Lumbago und unzählige Fälle von Rheumatismus explizieren lassen – jetzt revanchiere ich mich en gros. Viel schlimmer als die Leiden im Wachen, die aus dem anständigsten Menschen einen schimpfenden Thersites machen könnten, ist der Schlaf, der einem Starrkrampf gleicht, aus dem man sich mit aller Gewalt der Angst vor quälenden Traumbildern, von deren Unwirklichkeit man zu gleicher Zeit überzeugt ist, heraus arbeitet, um mit einer Ermattung zu erwachen, die nichts anderes denken und fühlen läßt als den Wunsch nach Auflösung. Dennoch hat eine solche Krankheit auch ihre Freuden. Man kann sich wenigstens billige Vergnügungen verschaffen; so ungefähr nach dem Rezepte des sparsamen Kammachers, der statt eine teure Schlittenfahrt mitzumachen, nachts die Beine so lange aus dem Bett streckte, bis sie eiskalt waren, um sie dann mit einem wollüstigen Ah! wieder unter die Decke zurückzuziehen. So gelingt mir manchmal eine Bauchlage, die mir für köstliche Minuten die Wollust vollständiger Schmerzensfreiheit und absoluter Ruhe sichert. Es ist freilich nicht viel Poesie dabei, man kann nicht rauchen, nicht trinken, nicht küssen, aber man kann sich die Frühlingsluft über den Rücken und ruhige Gedanken durch die Seele streichen lassen. Im Himmel kanns auch nicht schöner sein.

Außerdem bietet so eine Krankheit die schönste Gelegenheit, das süße Gefühl des Sich-Selbst-Bemitleidens auszukosten. Oft denke ich an Heinrich Heine, dessen liebe, dicke Frau ja auch nichts von dem Zeug verstand, das er mit Bleistift unter Schmerzen niederkritzelte, und dem es noch schlechter ging als mir; denn trotzdem er dem Kranz der Wein-Poesie die duftigsten Blüten hinzugefügt hat, dachte doch kein Mensch daran, ihm einen guten Rheinwein ins Haus zu schicken; ja ich habe seine süße Mathilde im Verdacht, daß sie ihm, wenn jemals ein Tropfen aus der Champagne sich dorthin verirrte, denselben wegtrank; aus purer Fürsorge natürlich, da ja so aufregende Getränke nervenkranken Menschen vom Übel sind. Auch steigt mir das Bild des vom Aussatz geschlagenen Sängers auf, dessen Lieder als fliegende Blätter ins Weite flattern. Der Handwerksbursch singt sie, im Morgenschein auf der Landstraße marschierend, der Student beim Becherklang, die Mädchen mit den blonden Zöpfen im Mondschein. Er aber sitzt in seinem Siechtum, eingemauert, in seiner Zelle, einsam. Und an eine der wahrhaft schönen Episoden in Gustav Freytags »Verlorener Handschrift« erinnere ich mich. Der gelähmte Bauernjunge liegt in seiner Kammer und schmiedet die unmöglichsten Verse auf die schöne Ilse. Weil er durch sein Fensterlein nur die Köpfe der Vorübergehenden sehen kann und die gegenüber liegende Mauer, schmückt die gute Ilse die nackte Mauer mit Schlinggewächsen und geht, so oft sich ihr Gelegenheit bietet, durch das Hintergäßchen am Fenster ihres Poeten vorbei.

Selbstbemitleidung ist angenehm, das Mitleid anderer kann einen berühren wie ein Almosen, das zum Hohn angeboten wird, und es kann passieren, daß einem Einer versichert, wie sehr ihn unser Fall schmerze, der einem selber ungeheuer leid tut. Beim Mitfreuen braucht man es nicht so genau zu nehmen, in der Aufnahme des Mitleidens kann man nicht vorsichtig genug sein.

Oft muß ich unter den größten Schmerzen hellauf lachen, wenn ich an meine christlichen Mitpatienten denke. Was die ihrem Herrgott alles vorjammern! »Wie du willst, o Herr! aber warum mir diesen Kelch? Laufen nicht genug schlechte Kerle in der Welt herum? Und ich habe dir doch immer getreulich gedient! Freilich, ich bin ein Sünder, o Herr! und deiner Gnade durch Jesum Christum nicht würdig, aber warum mußt dus denn gerade an mir so arg machen!? Hilf! hilf, Gott verdamm mich – verzeih mirs o Gott! – hilf!« Die Paffen erzählen viel von der Ergebung in Gottes Willen; aber frömmere Menschen als Hiob und Luther hat es nicht gegeben, und die haben sich gewiß nicht geniert, mit ihrem Gott zu hadern.

Ich aber denke der Zeiten, da es meine Sehnsucht war, pro liberate mori, mit dem Schwert in der Hand für die Freiheit zu kämpfen und zu sterben; und ich denke an die braven Jungen, die in Pittsburgh und in den Gefängnissen aller Länder hinter Mauern ihr junges Leben in sich hineinfressen müssen, und ich sage mir: Es ist auch eine Gunst des Schicksals, wenn man sich und andern beweisen darf, daß man tapfer leiden kann.

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Mein Luginsland war mir verleidet. Meine Wiese in Orion hatte mir unaufhörlich anmutige Bewegung geboten, Leben von unten, vom stillen Pflanzengrund, wo die geheimnisvollen Quellen den See speisen, Leben von oben im Wind, der, mit zartem Fingerspiel über die Saiten der ewigen Harfe fahrend, die Fläche kräuselt oder mit silberner Helmzier die Wellen schmückt, die er zum lustigen Kriege gegen das Land führt. So leicht wird der Mensch undankbar, ungerecht, meine Wiese an der McDougall Ave. gefiel mir nicht mehr. Außerdem hatte sich hier ein wüster Lärm eingestellt, doppelt empfindlich nach jener heiligen Stille, und es ärgerte mich, daß ein gewisses Gedicht von mir, wo selbst die Pferdebahn eine musikalische Rolle spielt und von einem des Abends in immer weitern Kreisen sich lagernden großen Schweigen die Rede ist, gegenstandslos geworden war. Die Menschen, denen es immer pressiert, die Jäger und Jagdhunde hatten wieder einen Sieg davon getragen. Jetzt geht es Tag und Nacht mit den modernen elektrischen Mordmaschinen; das ist ein Geklingel und Gerappel und Geschlenker und Gefauche, es ist das Lied der siegreichen Habgier, das wirklich Steine erweichen und Menschen rasend machen kann. Kurzum, es war wüster geworden, und hinter meinem Rücken stänkert immer noch die Zichorienfabrik – aber von der später.

Da erwachte ich an einem Morgen mit einem hellen Glanze, der meine Bude erfüllte. Ein Spatz wiegte sich auf dem Baumast, den ich von meinem Bette aus sehe, und er schrie ganz deutlich: Komm! jetzt komm mal her, alter Junge, wir eröffnen heute die Saison bei einem vollständig neu eingerichteten und von den eminentesten Künstlern dekorierten Hause; bei der mit blauer Seide ausgeschlagenen Decke produziert unsre Sonnenbeleuchtung auf dem aus reinem Alabaster hergestellten Fußboden und den Säulen und Wandverzierungen aus gleichem Material die wunderbarsten Lichteffekte. Wir bitten um besondere Berücksichtigung der letzteren in Ihrer werten Kritik, zu deren Ausübung wir Ihnen nach wie vor die Loge Luginsland zu freier Verfügung stellen. – Und es war ein Wunder geschehen. Aber der großsprecherische Spatz hatte nichts damit zu tun, es handelte sich um ein Arrangement meiner Wiese, der ich wochenlang keinen Blick geschenkt hatte. Diese alte Jungfer, dürr, vertrocknet, kein Schwellen mehr im Busen, kein Wachstum mehr im Schoß, besann sich auf das alte Zaubermittel der weiblichen ars amandi: Wenn keine Schönheit mehr aus einem selber herausblüht, muß man es mit einer neuen Toilette versuchen. Und sie sprach mit dem Wind, der über sie hinfuhr, und mit den Wolken und mit den Gestirnen. Und in einer wetterdurchtosten Nacht, da die Schiffe vom Nordwest über den St. Clair See geschleudert wurden wie Schaumflocken und selbst das elektrische Licht auf den Türmen vor Schreck erlosch – eine anständige alte Jungfer ist um so schamhafter, je weniger sie zu enthüllen hat – da kein Mensch sich hinauswagte und kein menschliches Auge sie belauschen konnte, wechselte sie ihr Gewand, wechselte sie mit ihm – und das ist den sterblichen armen alten Jungfern versagt – ihr ganzes Wesen. Und am Morgen grüßte sie mich ganz in Weiß, in reinem, fleckenlosem, majestätischem Weiß. Und die Sonne lieh ihr ein rosiges Lächeln, und der Himmel spannte über sie den blauen Baldachin.

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Es hat geschneit, nicht viel, aber gerade genug für den kommenden Frost, es war wie der Zuckerüberguß über der Torte; und die Spatzen taten so stolz, wie gesagt, als ob sie die Konditoren gewesen wären. – Wie wir aber neuerdings in Erfahrung gebracht haben, geht es ja auch der Grille im Winter nicht so schlecht, wie der gute Lafontaine andeutete, warum aber hat er seiner fleißigen Ameise, die sich doch im Winter mit all ihrem Reichtum verkriechen muß, nicht den Sperling entgegengesetzt. Wahrhaftig, dieser freche Proletarier kommt mir im Winter immer am behäbigsten und lustigsten vor. Vielleicht imponiert er sich selber um so mehr, weil gerade dann diejenigen andern Vögel, welche sich den Luxus einer Reise nach dem Süden nicht gestatten können, um so deutlicher in ihrem ganzen Habitus das Gefühl der Armut, der Verlassenheit kundgeben.


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