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Zehntes Capitel.
Durch Nacht zum Licht.

Mittlerweile hatte der Präfect mit steigender Lebhaftigkeit die Mauern des alten Klosters umkreist, war in die halb zerstörten Pforten getreten, um zu lauschen, ob im Innern Jemand seiner warte, und hatte dann den Weg eingeschlagen, der sich späterhin mit dem vereinigte, welcher zu den Wiesen führte.

Je länger er vergeblich spähete, desto fieberhafter wurde seine Erwartung. Er kannte das Terrain nicht genau genug, um sich in die labyrinthischen Windungen des alten Gemäuers zu wagen. Es war überhaupt nicht recht geheuer in diesen Ruinen, die durch die Zerstörungswuth der Franzosen entstanden waren. Es sollten viele Gemächer des Gebäudes noch in bewohnbarem Stande geblieben sein und, von der Feuersgluth verschont, jetzt zu Zusammenkünften von Dieben und Schmugglern benutzt werden.

Der Präfect erinnerte sich dessen, indem er langsam und vorsichtig den Fußpfad hinabstieg, der sich neben der Einfassungsmauer, die ganz unversehrt dastand, bequem ausgetreten entlang zog. Die Dunkelheit trat immer rascher ein. Nur einzelne Sterne leuchteten am Himmel. Sie gaben einen Schimmer von Licht, sonst nichts; und Markland beschloß eben, sich wieder hinauf zu begeben, um auf der Spitze des Hügels ruhig die Ankunft des Boten abzuwarten, der ihn zu seiner Gattin führen sollte, als ganz nahe bei ihm ein Schuß fiel und gleich darauf ein fürchterliches Hundegebell von der Bleicherei herdrang, dem sich wehklagendes Gekreisch von Menschenstimmen anschloß. Einzelne Lichter tauchten unten auf den Wiesen auf. Fragen erschallten bis zu ihm hinaufdringend. »Die Franzosen kommen!« erklang es von allen Seiten. Darauf beruhigten sich die aufgeschreckten Menschen wieder, die Lichter verschwanden, die Hunde schwiegen und die todtenhafte Ruhe, die vorher geherrscht hatte, trat wieder ein.

Markland aber war während dessen unaufhaltsam bis zu der Stelle vorgedrungen, wo er den Blitz des Schusses hatte aufleuchten sehen. Eine Gestalt stürzte, in verdächtiger Eile, unweit seines Weges vorüber und verlor sich in der Dunkelheit, während der Schall menschlicher Tritte noch länger hörbar blieb und den Beweis lieferte, daß Jemand das Weite suchte.

Von schweren Ahnungen geleitet, furchtlos der eigenen Gefährdung trotzend, eilte der Präfect bis zu der Stelle, wo die Sträucher und Bäume ihm den Weg verschränkten. Hier blieb er rathlos stehen. Er kannte den Weg nicht, der sich von hier aus aufwärts und abwärts zog, er wußte nicht, daß dies Gesträuch zur Sicherung des Wanderers angepflanzt worden war, daß ihm der Strom hinter diesem Strauchwerk entgegengähnte. Ihm war es, als hörte er ein Geräusch zwischen den entlaubten Bäumen. Es däuchte ihm, als würde dies Geräusch geflissentlich unterdrückt, so wie er näher trat. Der Gedanke an eine Missethat entstand in seiner Seele. Die Flucht eines Menschen und das sichtliche Bemühen eines zweiten Menschen, sich hier zu verstecken? Der Gang seiner Ideen erschien ihm zu natürlich, um einen Irrthum zu fürchten.

»Was ist hier vorgegangen?« fragte er, entschlossen bis zum Gestrüpp herantretend und seine Augen anstrengend, um irgend etwas dazwischen zu entdecken.

»Markland! Markland, sind Sie es?« fragte eine Stimme mit dem Ausdruck der höchsten Verwunderung aus dem Gestrüpp hervor, und man sah die Aeste und Zweige desselben von den Anstrengungen erzittern, die ein Mensch machte, um sich hervorzuarbeiten.

»Ja,« antwortete der Präfect. »Ich bin der Präfect Markland! Was ist hier geschehen? Wie kann ich Ihnen nützen? Wo sind Sie?«

»Helfen Sie mir, Markland. Treten Sie an den Baum. Schlingen Sie Ihren rechten Arm fest um denselben und reichen Sie mir Ihre Linke. Ich sehe Sie gegen das matte Funkeln des Sternenhimmels ganz deutlich. Eilen Sie. Ich erstarre sonst vor Kälte in dieser Wasserpfütze.«

»Im Wasser sind Sie? Allmächtiger Gott! Es wurde geschossen! Sind Sie auch verwundet?« fragte Markland, während er eiligst den Vorschriften des Fremden folgte und ihm seine Hand entgegenstreckte. Diese Hand wurde ergriffen, und unterstützt durch diesen Beistand gelang es dem Rath Giseke, sich vorwärts zu arbeiten und in wenigen Minuten den Rand des Wasserbeckens zu erklimmen.

»Giseke!« schrie Markland entsetzt auf, indem er die stattliche Gestalt betrachtete, die sich vor seinen Augen heraushob. »Irre ich mich? Mein Schwager Giseke!«

Der Rath bebte vor Frost. Seine durchnäßten Kleider froren ihm in demselben Augenblicke am Leibe fest, wo er dem Wasser entstiegen war. Noch einige Minuten, und er wäre dem Eindringen der Kälte erlegen gewesen.

»Kommen Sie!« rief Markland, allen Widerwillen und allen Haß gegen seinen Schwager vergessend. »Kommen Sie! Wir müssen uns im Trabe zur Stadt zurückbegeben, damit Sie nicht erstarren. Kommen Sie!«

»Nein. Folgen Sie mir lieber hier den Fußpfad hinab zu jenen Bleicherhütten. Wir sind dorthin der Hülfe und Wärme näher. Mir ist schlecht zu Sinne, Markland, sehr schlecht! Ohne Ihren Beistand wäre ich schon todt.«

Er nahm Markland's Arm und führte ihn sicher die kurze Strecke des Hügels hinab bis zu den Wiesen.

»Uebereilen Sie sich auch nicht, Giseke?« fragte im Weitergehen Markland. »Sind Sie sicher, dort willfährige Hülfe zu finden?«

Hätte der Präfect sehen können, so würde er in dem Gesichte seines Schwagers, trotz seines Unbehagens ein leichtes Lächeln bemerkt haben.

»Fürchten Sie nichts. Ich führe Sie zu guten Leuten!« antwortete er rasch.

»Sind Sie verwundet? Ich hörte schießen?«

»Ich glaube. Wir werden ja bald sehen, ob es Blut oder Wasser ist, was mir von den Haaren meines Kopfes hinabträufelt. Nur fort, schnell fort, ehe mir die Kräfte schwinden. Das gefrorne Zeug ist mir abscheulich unbequem!«

»Was war denn der Grund dieses Abenteuers, bester Giseke,« forschte Markland theilnehmend. »Wurden Sie angefallen, um beraubt zu werden?«

»Nein. Es scheint mir eine Rache zu sein.«

»Haben Sie Verdacht, wer auf Sie geschossen hat?«

»Gewißheit, Markland. Gewißheit! Es war Blanchard, der mich jählings überfiel, der auf mich schoß und mich von dem Abhange ins Wasser stieß.«

»Blanchard!« rief der Präfect mit plötzlicher Ahnung. »Was haben Sie mit diesem Schurken zu thun gehabt, daß er Rache üben wollte?«

»Ich weiß es nicht! Vielleicht that er es aus Vorsicht für alle Fälle. Er rief mir zu, daß ich nun so viel Revision halten könne, wie ich wolle!«

Markland blieb wie vom Blitze getroffen stehen und preßte krampfhaft den Arm seines Begleiters.

»Großer Gott, Giseke;« stammelte er, »dann hat der Anfall mir gegolten! Sie haben für mich den Todeskampf gekämpft; ich wollte morgen, zur Aufdeckung aller Unredlichkeiten, Revision halten und hatte dies dem Greffier angekündigt.«

Giseke fühlte sich merkwürdig bewegt. Welch' eine wunderbare Fügung Gottes sprach sich in dieser Verkettung aller Umstände aus! Warf vielleicht der Wille des Höchsten damit endlich die Schranken nieder, die zwischen ihnen sich gebildet hatten? Die Sorge um Markland hatte, wie wir früher andeuteten, die consequente Kühle seines Herzens schon wesentlich geändert. Es bedurfte nur noch dieses Abenteuers, um ihn bis zur brüderlichen Theilnahme zu entflammen.

»Der Schurke hat uns Beide zu fürchten,« meinte er leise.

»Nein, Giseke, zweifeln Sie nicht! Sie sind statt meiner sein Opfer geworden!« rief der Präfect leidenschaftlich bewegt.

»Nun, so haben wir uns Beide das Leben gerettet, Markland,« entgegnete der Rath gerührt. »Wir wollen dies als einen Fingerzeig Gottes ansehen und künftighin in brüderlicher Nachsicht und Einigkeit miteinander leben!«

»O, Ludwig, Ludwig, wenn Du das wolltest, wenn Du mir, als mein Freund, auf dem Wege der Umkehr liebreich beistehen wolltest?« sprach Markland in tiefer, ernster Rührung.

»Ich will Dich lieb haben, Philibert!« antwortete Giseke. »Du bist der Gatte meiner Schwester, ich will in Wahrheit Dein Bruder sein!«

Eine feierliche Pause heiligte dies Versprechen, das unter eigenthümlichen Verhältnissen gegeben wurde. Beide Männer schwiegen, weil sie von ihren Empfindungen übermannt waren und sie brachen ihr Stillschweigen nicht eher, bis sie dem einsamen Lichte auf der Bleicherei so nahe gekommen waren, daß es sich als zwei erleuchtete Fenster eines etwas hoch gelegenen Häuschens erwies.

»Jetzt haben wir das Ziel unserer Wanderung erreicht,« sprach der Rath im Flüsterton.

»Es ist hohe Zeit, armer Ludwig,« entgegnete Markland. »Ich fühle, daß Du ermattest. Wie ist Dir zu Muthe?« Er bog sich theilnahmvoll vor, um beim ersten Lichtschimmer, der sein Gesicht streifte, sein Mienenspiel zu prüfen. »Du blutest!« fügte er schaudernd hinzu. »Dein Gesicht ist mit Mut überströmt, wo fühlst Du die Wunde?«

»Die Kugel muß dicht unter dem Rande des Pelzbaretts meinen Kopf gestreift haben,« erklärte Giseke. »Glücklicher Weise hatte ich dies, der Kälte wegen, so fest auf den Kopf gedrückt, daß ich es selbst bei dem ersten Angriff, der sehr unvermuthet geschah, nicht verlor. Ich habe die Kopfbedeckung sogleich beim ersten Schimmer von wiederkehrender Geistesgegenwart fest über die Wunde geschoben, um die Kälte abzuhalten. Gefährlich ist's nicht, darauf kannst Du Dich verlassen! Jetzt folge mir Schritt auf Schritt. Wir müssen einige Stufen hinauf, so mir recht ist.«

Der Rath tappte voran. Markland folgte. So erreichten sie Beide die Hausthür, die Giseke mit einiger Behutsamkeit öffnete. Ein Hund schlug an. Die Stubenthür wurde aufgeworfen und des Calculators schlanke, steife Gestalt im großblumigen Schlafrocke erschien auf der Schwelle, die kleine grüne Lampe in der Hand, womit er unverzüglich dem Rathe ins Gesicht leuchtete.

»Der Herr Rath,« sagte im gleichen Augenblicke eine weibliche Stimme aus dem Hintergrunde des Zimmers.

»Mein Bruder?« warf eine zweite Stimme fragend ein, und die Fragerin eilte dem Eingange zu. Theodora wurde erst den Augen der Außenstehenden sichtbar, als sie mit einem Schreckensschrei hinzufügte: »Um Gotteswillen, wie siehst Du aus? Man hat nach Dir geschossen? Wir hörten den Schuß.«

Jetzt fielen ihre Blicke auf die Gestalt ihres Gatten. Ehe man wußte, wie es geschehen war, hing sie an seinem Halse, von ihm ans Herz gepreßt, geküßt und festgehalten, als wisse er nun erst, daß es außer ihr kein rechtes, wahres Glück gäbe.

»Du hier?« fragte er zwischendurch. »Hier verbargst Du Dich, Dora?«

Sie vergaßen Beide in dem Entzücken eines unvorbereiteten Wiedersehens, daß es neben ihnen einen Bruder gab, der für sie blutete.

Glücklicher Weise zeigte sich Marie etwas weiser. Noch ehe das überglückliche Ehepaar wieder zu sich kam, hatte sie rasch die Pelzmütze entfernt und mit einem Schwamme und Wasser das Blut vom Gesichte Ludwig's abgewaschen, um die Wunde untersuchen zu können.

»Gott sei Dank!« rief das junge Mädchen hoch erfreut. »Es ist nur eine Streifwunde!«

Durch diesen Ausruf aus ihrer Versunkenheit aufgeschreckt, stürzte Dora auf ihren Bruder zu und umschlang ihn mit beiden Armen. Einige Worte Markland's hatten sie von der Sachlage des überstandenen Abenteuers hinlänglich unterrichtet. Thränen standen in ihren Augen und eine tiefe, leidenschaftliche Erschütterung zeigte sich in dem Blicke, den sie, wie ein stilles, festes Gelöbniß auf ihn heftete.

»O, wie danke ich Dir, mein Bruder, mein theurer, lieber Ludwig,« flüsterte sie unter den Zeichen ihrer zärtlichen Anerkennung. »Wie soll ich's Dir versüßen, was Du statt Philibert leiden mußt!« Sie legte ihre Lippen auf die blutende Stelle. »Gott wird Dir schon einen Lohn bereiten, der Dich beglückt, Du Theurer,« flüsterte sie noch leiser und überließ ihn dann der Samariterhand der geschickten Marie, die mit Pflastern und Binden herzutrat, um die Wunde zu verbinden.

Giseke sah schnell zu ihr auf. Waren es die bedeutungsvollen Worte Dora's oder war es die lange in ihm schlummernde Neigung für das reizende Mädchen, das sich ganz unbefangen seiner Pflege widmete, die plötzlich zur Flamme in ihm wurde – genug, ein neues Leben durchströmte ihn bei der sanften Berührung ihrer Finger, und das Verlangen nach ihrem Besitze entsprang so plötzlich und überwältigend in seiner Brust, daß er nur mühsam seiner Empfindungen Herr wurde, als Marie unschuldig ihr Gesicht zu ihm neigte und mit liebkosendem Tone fragte: ob die Wunde noch sehr wehe thue. Er bezwang sich, allein seine Augen mochten geredet haben, denn Marie wich verschüchtert zurück, die Gluth jungfräulicher Verlegenheit auf den Wangen.

Ludwig benutzte den ersten Moment, der ruhig genug war, um die Wichtigkeit seiner Mittheilung gelten zu lassen, zu dem Berichte einer Depesche, die er früh Morgens von einem seiner Freunde erhalten hatte. Es war die Bestätigung des schon mehre Tage umlaufenden Gerüchts, daß Moskau durch Feuer vernichtet und daß dadurch die Lage des Kaisers Napoleon eine verzweifelte geworden sei.

»Es knüpfen sich an diese authentische Nachricht so große Hoffnungen auf endliche Erlösung von der Herrschaft Napoleon's,« sprach Giseke mit dem Tone feuriger Begeisterung, »daß es gut sein wird, sich innerlich zu diesen Veränderungen zu rüsten.«

Der Präfect sah nachdenklich vor sich nieder. Er verlor mit der Herrschaft Napoleon's sein Amt, das ehrenvoll und einträglich war. Machte sich Deutschland frei, so gingen die französischen Anordnungen unter und das Amt eines Präfecten zerfloß, wie die Illusion eines Traumes. Er verstand sehr wohl, was sein Schwager mit seinen letzten Worten sagen wollte. Wahrlich, es hatte wohl kein Mensch so nöthig, als er, sich innerlich zu diesen Veränderungen zu rüsten!

»Versprichst Du Dir nicht zu viel von der Wendung dieses russischen Feldzuges?« fragte er endlich kleinlaut. »Jahrelange Siege lassen sich von einer Niederlage nicht vertilgen.«

»Wenn die Niederlage total ist, scheint mir des Herrn Rath Hoffnung gegründet,« meinte der Calculator. »Nur traue ich den Siegesliedern der Preußen nicht recht.«

»Meine Nachrichten kommen direct aus dem Osten,« flüsterte der Rath, vertraulich zu dem alten Herrn geneigt. »Schon Ende October hat Napoleon, mit allen seinen Berechnungen gescheitert, die eingeäscherte Stadt verlassen, um sich nach Polen zurückzuziehen. Er dachte dort in aller Seelenruhe die Winterquartiere zu beziehen, allein die Rache der Russen verfolgte ihn auf Tritt und Schritt.«

»Schon Ende October?« fragte der Calculator ganz erstaunt. »Davon müssen die französischen Besatzungen hier gar nichts erfahren haben.«

»Mindestens haben sie es nicht geglaubt, wenn ihnen irgend etwas zu Ohren kam. Uebrigens hat der Kaiser Napoleon jetzt selbst eingesehen, daß er sich weder in Rußland, noch in Polen würde behaupten können. Das französische Heer befindet sich auf dem Rückzüge. Murat soll Wilna als Winterquartier beziehen, um die Grenze zu bewachen. Mein Correspondent zweifelt, daß er sich dort halten werde, denn man munkelt von einer entsetzlichen Katastrophe an der Berezina. Ganz gewiß und sicher sind die Nachrichten darüber noch nicht. Der General von York, welcher die Truppen befehligt, die als Hülfsmacht von Preußen gestellt werden mußten, soll sich wiederholt darüber geäußert haben, daß er nur die Bestätigung der französischen Unfälle erwarte, um sich sogleich den Russen anzuschließen. Er hat sich mit dem französischen Befehlshaber, dem Marschall Macdonald, dergestalt überworfen, daß es zu gegenseitigen Klagen bei der Oberbehörde gekommen ist.«

»Wo cantonnirt diese Heeresabtheilung?« fragte der Präfect.

»In Kurland. Beide Generale der vereinigten Truppen haben ihren Stab in Mitau. Glaubt es mir, meine Freunde, wenn uns Gott nicht verläßt, so können wir uns einer freudigen Hoffnung überlassen. Der Zeitpunkt ist da, wo sich unser König aus den Verträgen mit einem der übermüthigsten Sterblichen herauslösen kann.«

»Ob aber zum Heile seiner Unterthanen, das ist fraglich, lieber Bruder,« sagte Dora.

»Meine gute Schwester,« erwiederte der Rath bewegt, »unser König hat zum Heile seiner Unterthanen Vieles gethan, Vieles geduldet und gelitten, ohne ihnen damit geholfen zu haben, denn der Bonaparte zahlte nie den Preis, um den sich der Monarch gedemüthigt hatte. Jetzt muß er der Gewalt eine Gegengewalt entgegensetzen. Der Plan ist längst fertig, er harrt nur der günstigen Zeit. Verläßt der General v. York die französischen Adler und bestätigt sich die Nachricht von der furchtbaren Vernichtung des französischen Heeres in Rußland, so kann sich Macdonald weder in Kurland, noch in Preußen halten. Alliirt sich der König von Preußen nun mit dem Kaiser von Rußland, so sind wir sicher, daß die Franzosen im Sturme aus dem Lande kommen.«

Der Präfect schüttelte bedenklich den Kopf.

»Deine Begeisterung führt Dich irre, Giseke,« sagte er lächelnd. »Glaubst Du, die Besatzungen werden das Feld ohne Schwertschlag räumen?«

»Nein, das glaube ich nicht und eben darum muß jedweder Mann in Deutschland sich innerlich rüsten, um auf der Stelle nützen zu können, wo er gerade steht!« rief Giseke mit erhobener Stimme. »Das gesammte Volk muß aufstehen. Wer sein Blut dem Vaterlande nicht weihen kann, der mag sein Gut ihm opfern. Es gilt Mann zu werden! Der Geist muß aus der Erfahrung ein neues Leben schaffen, und wie der Phönix aus der Asche, glänzend aus dem Drucke der Erniedrigung und Demüthigung erstehen. ›Glück auf! Mit Gott für König und Vaterland,‹ sei die Devise, die jeder in der Brust trage. Ein Theil des Volks möge nach außen wirken, der andere Theil im Innern schaffen, die Fesseln müssen zerbrochen werden!«

Mariens Blick hing in glühender Begeisterung an dem lebhaft bewegten Sprecher. Sie begriff ihn, obwohl sie in einer Sphäre aufgewachsen war, wo man Demjenigen zu huldigen pflegt, der die Existenzmittel hergiebt. Ihr Einverständniß mit dem enthusiastischen jungen Manne war sichtlich, allein eben so deutlich trat auch die stupide Gleichmüthigkeit des Calculators und die verlegene Stimmung des Präfecten hervor. Es hieß doch wirklich sein eigenes Haus einreißen, wenn er diesen Ansichten beitreten wollte.

Dora schwankte noch in ihrem Urtheile. Auf der einen Seite hatte sie Grund, ihrer persönlichen Interessen wegen, die Veränderung aller Verhältnisse zu wünschen, aber auf der andern Seite stellte sich mit dem Ende dieser Wirthschaft zugleich das Ziel ihrer glänzenden Lebensstellung in nicht vortheilhaftem Lichte dar. Die bedenkliche Miene ihres Gatten that ihr weh. Sie schmiegte sich zärtlich an seine Brust und sagte mit tröstendem Tone:

»Vertrauen wir Gott, mein Philibert! Sieh, ich habe von diesem lieben Kinde gelernt, daß man Gott und seinem Vater gehorchen, daß man dem Befehle und dem Zorne Gottes und des Vaters sich demüthigen müsse. Wir wollen dieser Lehre anhangen mit ganzem Herzen! Wenn unser Bruder Ludwig mit seinen Weissagungen Recht behält, so stürzen wir! Gut, warten wir das nicht ab! Treten Wendungen ein, die Dich in Deiner Stellung compromittiren, so gesellst Du Dich zu Denen, die, wie Ludwig sagte, ›nach außen wirken.‹ Du trittst in die Reihen der Befreier; ich will darüber nicht murren, sondern Dich segnen!«

»Du hast das Rechte gefunden, was mich erheben kann!« rief der Präfect neu belebt. »Hier, Bruder Ludwig, meine Hand zum Pfande, ich bin der Erste, der sein Blut auf den Altar des Vaterlandes legt, da ich kein Gut zu opfern habe!«

Giseke sprang auf und legte seine Arme um ihn.

»Du bist besser, als ich gedacht habe; vergieb meine Zweifel. Schweigen wir, bis es Zeit ist zu reden, und warten wir, bis die Noth zum Handeln auffordert. Ich bin das Organ unseres Bundes für diese Provinz, Markland; ich werde Deinen Namen mit freudezitternder Hand noch heute der Stammrolle vaterländisch gesinnter Männer einverleiben. Nun aber drängt es uns zum Aufbruche,« setzte er nach einem kurzen Schweigen hinzu.

»Dora ist hier, wie in der Stadt bedroht. Was beschließest Du über ihren Aufenthalt?«

Markland sah zärtlich auf seine Frau nieder. Er war unschlüssig.

»Lassen Sie die gnädige Frau ohne Sorge hier,« sprach der Calculator beruhigend.

»Wenn aber der Oberst Leclaire seinen übermüthigen Entschluß ausführen sollte?« warf der Präfect besorgt ein. »Wenn er seine Soldaten wirklich aussendet, sie zu suchen?«

»So ist hier im Hause ein Versteck, wo Niemand sie findet!« erklärte Rüdiger. »Kommen Sie und überzeugen Sie sich. Sie werden es drüben in Madame's Zimmer in Augenschein nehmen können.«

Marie ergriff schnell ein Licht und leuchtete den Herrschaften vor.

Dora schüttelte sehr zweifelnd ihr Haupt. In ihrem Zimmer ein Versteck? Darauf war sie denn doch neugierig.

Der Calculator sah erst vorsichtig nach, ob auch die Vorhänge gehörig geschlossen waren und öffnete dann einen kleinen Wandschrank, der Marien zur Aufbewahrung ihrer sehr einfachen Garderobe diente. Er ließ die Kleider und Mäntel wegnehmen, trat dann in den Schrank hinein und zog einen kleinen Eisenstab aus der Rückwand des Schrankes. Nachdem er dies vollführt hatte, drückte er an die Wand und es bot sich den Augen der überraschten Zuschauer ein kleines, etwa acht Fuß großes, viereckiges Gemach dar, in welchem nur ein Koffer stand, der wahrscheinlich die Ersparnisse und Kostbarkeiten des alten Herrn enthielt.

»Mein Gott, wie sind Sie darauf verfallen, solch ein Versteck zu schaffen?« fragte Dora lebhaft, indem sie hineinsprang und sich darin umsah.

»Nicht ich, sondern die frühere Besitzerin ist die Gründerin desselben,« berichtete der Calculator, sich mit steifer Höflichkeit gegen den Rath wendend. »Sie erinnern sich vielleicht, mein Herr Rath, daß Sie als Referendar eine Untersuchung wegen Diebstahls führten. Es war der Bleicherin Rüdiger, der dieses Haus gehörte, eine Menge der kostbarsten Damastgedecke gestohlen und zwar in der Nacht, wo sie, als fertig gebleicht, vom Rasen aufgenommen und im Hause verwahrt waren.«

Der Rath nickte zustimmend. Es war ihm damals gelungen, den Dieben auf die Spur zu kommen und sie auf's Zuchthaus zu bringen.

»Meine Muhme, von diesem Unglücke gewitzigt, ließ sich darauf diesen Wandschrank anlegen und ich selbst habe die Einrichtungen so gemacht, wie Sie es hier sehen. Seitdem verwahrte sie die kostbaren Webereien immer hier und selbst in dem schlimmsten Kriegstumult hat sie hier ihre besten Sachen und ihre Vorräthe verborgen, ohne daß es einem Plünderer gelungen wäre, das Versteck zu entdecken. Sie selbst hat einmal eine ganze Woche darin verborgen gesessen, aus Furcht vor den Franzosen.«

»Ich würde mit Dora hineinretiriren,« flüsterte Marie. »Dem Herrn Vater thut der französische Oberst schon nichts zu Leide.«

Nachdem Jeder einzeln in das Kämmerchen getreten war und sich überzeugt hatte, daß es räumlich und luftig genug zu einem zeitweiligen Zufluchtsorte sei, da es oberhalb der Mauer ein kreuzförmiges Luftloch enthielt, was mit Steinen versetzt, ganz beliebig geöffnet werden konnte, so wurde nach einer kurzen Berathung der Entschluß gefaßt, Dora unter dem Schutze des wackern Calculators zu lassen. Sie war sicherer hier, als in der Stadt, vor beleidigenden Zumuthungen geschützt, und die Nähe ihres Aufenthaltortes machte schleunige Hülfe möglich, im Falle man etwas riskiren sollte, was sie gefährdete.

Einige Minuten später verabschiedeten sich beide Männer, Markland mit schwerem Herzen, Giseke mit einer Herzlichkeit und Wärme, die Marien sehr viel Stoff zum Denken gab.

Die Stille der Nacht lag auf den Fluren, als sie hinaustraten und sich über die Wiesen nach dem Hügel begaben, worauf das alte Kloster düster und gespenstisch seine Trümmer gegen den Sternenhimmel erhob. Stumm schritten sie dahin. Kein Laut sollte als Verräther über ihre Lippen gehen, um jede Nachforschung, die von Blanchard oder Leclaire angeordnet sein könnte, unnütz zu machen. Nur bei den Weidenbäumen standen sie einen Moment still und Giseke murmelte kaum hörbar:

»Er gedachte es böse mit uns zu machen, aber Gott leitete es zum Guten!«

In der Nähe des Thores trennten sie sich. Markland hüllte sich tief ein und gab sich geflissentlich die Haltung eines alten Mannes. Giseke aber hob sein Gesicht so viel wie möglich aus der Pelzmütze empor und blickte sich scharf nach allen Seiten um. Er wußte, daß Blanchard des Abends stets auf der Straße zu finden war. Seine Voraussetzung täuschte ihn auch nicht. Blanchard strich dicht an ihm vorüber, erkannte ihn, blieb stehen und sah ihm nach. Mit welchen Empfindungen, das wird uns erst dann vollständig klar werden, wenn wir Alles kennen gelernt haben werden, was inzwischen geschehen war.

Unmittelbar nach der Ausübung seines Mordversuches begab sich Blanchard in die Stadt und eilte zum Quartiere des Oberst Leclaire, um neue Ränke zu schmieden.

Wir wissen, daß ihm eine große Summe Geldes sicher war, wenn er die Frau des Präfecten ausfindig machte, und wir wissen, daß ihm ein wesentlicher Vortheil aus den Maßregeln erwachsen konnte, die der Colonel auszuführen beschlossen hatte. Er fand aber seinen Gönner in höchst übler Laune, die unstreitig einen tieferen Grund hatte, als eine verunglückte Liebelei mit einer Frau. Grimmig, wie ein Wolf, schritt der Officier in seinem Zimmer auf und nieder, ein Papier mit den Fingern zerknitternd, welches ganz das Ansehen einer Depesche hatte.

»Was wollen Sie?« schrie er Blanchard an. »Ein Mensch, wie Sie, ist gar nicht zu gebrauchen! Gehen Sie! Ich will mit Ihnen nichts zu thun haben! Machen Sie, daß Sie fortkommen, das ist der beste Rath, den ich Ihnen geben kann. Ihre Zeit ist abgelaufen!«

»Monseigneur!« stammelte Blanchard, der gar nicht wußte, wie ihm geschah. Daß es sich um mehr handelte, als um die Demüthigung eines Spielgenossen, der in blinder Uebereilung seine eigene Gattin auf eine Karte gesetzt hatte, sah er alsbald ein. »Womit habe ich den Unwillen des Herrn Obersten verdient?«

»Was? Sie fragen noch? Wozu werden Sie denn vom General du Marlé bezahlt? Wozu hat man Sie hier, uneingedenk Ihrer scheuslichen Antecedentien, placirt? Etwa, um Ihnen ein Vergnügen zu machen, um Ihnen Gelegenheit zu geben, zu den kleinen Mordthaten, die Sie auf Ihrem Gewissen haben, noch größere hinzuzufügen?«

»Monseigneur!« rief Blanchard mit affectirter Entrüstung, wurde aber bleich, wie der Tod.

»Schweigen Sie!« donnerte Leclaire. »Sie haben es wieder bewiesen, daß Sie ihren eigenen Interessen nachgehen und Ihrer übernommenen Pflicht gar nicht gedenken! Hier sehen Sie den Beweis Ihrer Nachlässigkeit! So etwas kann nicht passiren, wenn man einen pflichtgetreuen, umsichtigen Spion anstellt, statt eines Schurken.«

Blanchard griff begierig nach dem zerknitterten Briefe, den der Oberst ihm zuwarf.

»Damit ist ein Kerl ergriffen, der sich zu dem Rath Giseke hinaufgeschlichen und ihn, im Entrée versteckt, erwartet hatte.«

»Rath Giseke?« wiederholte Blanchard, bevor er den Brief noch angesehen, sehr befremdet und einigermaßen beruhigt. »Rath Giseke?«

»Ja, ja!« brauste der Officier wieder wild auf. »Sie haben mit der Nase davor gestanden, Sie Dummkopf, und haben nichts gerochen! Nach diesem aufgefangenen Briefe ist Giseke der Emissair der Preußen.«

»Der Rath Giseke!« wiederholte Blanchard nochmals mit allen Anzeichen einer Verwunderung, die an Freudigkeit grenzte. Seine Augen überflogen den kurzen Brief, der zwar nicht an den Rath Giseke adressirt, aber in seiner Wohnung aufgefangen war, während Leclaire in seinem Referate fortfuhr:

»Wenn nicht der Hauswirth Giseke's diesen Boten als einen Dieb angesehen hätte, so würden wir, vermöge Ihrer Dummheit, noch lange im Dunkeln über die Thaten des saubern Herrn Emissairs getappt haben. Und gerade er erscheint als ein gefährlicher Feind unserer Regierung, da er die allgemeine Achtung genießt!«

»Freilich, freilich!« unterbrach ihn der Greffier mit einer entsetzlichen Schadenfreude in Blick und Geberde. Dieser Rath Giseke war ihm stets ein Dorn im Auge gewesen. Es hatte ihm eine dunkle Furcht denselben als den Richter und Rächer seiner Thaten gezeichnet. Daher kam es, daß er grundsätzlich jede Begegnung mit ihm vermied. Jetzt war er seiner Gewalt verfallen, wenn, was er gar nicht bezweifelte, die französischen Officiere jeden officiellen Angriff vermeiden und den Delinquenten einer stillen Rache überantworten wollten. Die vagen Gerüchte von dem russischen Feldzuge hatten ebenfalls längst ihr Ohr erreicht, und wenn der ganze Umfang des grausigen Mißgeschicks auch noch nicht bis zu ihnen gedrungen war, so regten doch die erhaltenen Nachrichten allerlei Besorgnisse auf, die sie zum raschen Handeln zwangen. Auf diese Umstände stützte Blanchard seine zum Verderben Giseke's rasch entworfenen Plane, indem er eiligst hinzufügte:

»Wir müssen uns seiner schnell entledigen, Herr Oberst!«

»Damit sind Sie immer gleich zur Hand! Aber Sie vergessen, daß Sie uns nicht zum Henker, sondern zum Spion dienen sollen. Was mögen wir versäumt haben, während Sie blind neben dem ›Organ des Bundes‹, wie es hier im Briefe heißt, herliefen. Einem tüchtigen Kundschafter mußte es gar nicht entgehen, daß nur wichtige Gründe die geheime Triebfeder eines gehässigen Zerwürfnisses mit Markland's Frau sein konnten.«

Blanchard horchte verlegen dieser Eröffnung. Giseke und Markland's Frau? Zerwürfnisse? Er glaubte nicht recht verstanden zu haben.

»Wovon wissen Monseigneur?« fragte er, um doch etwas einzuwenden.

»Du Marlé hat mir die Augen geöffnet!« schrie Leclaire. »Jedes Kind auf der Straße weiß es ja, daß des Präfecten Frau eine geborne Giseke ist!«

Mit starren Blicken betrachtete Blanchard den Officier.

»Das wissen Sie auch nicht, Sie Dummkopf,« höhnte dieser.

Blanchard schlug sich hart vor die Stirn. Der Faden zur Aufklärung der Flucht, den er im Hausflure bei der Flaschen spülenden Bäuerin verloren hatte, lag ihm jetzt so nahe zur Hand, daß er ihn ohne Mühe ergreifen konnte. Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, wie es Teufeln nicht besser gelingen würde

»Madame Markland – Giseke's Schwester? Das ändert die Sache,« murmelte er.

»Ja wohl ändert das die Sache, und wir brauchen jetzt weder einen Spion, noch einen Henker, um diese Sache zu Ende zu bringen. Der General hat gelacht wie ein Satyr, als ich ihm Ihre verfehlte Untersuchung in Giseke's Hause mitgetheilt habe. Er hat mir versprochen, ohne daß ich Ihnen den hohen Sündenlohn zu zahlen brauchte, bis morgen Abend den Aufenthalt der schönen Dora zu ermitteln. Er hat gelacht wie ein Kobold über meine und Ihre Dummheit, und hat mir, als erstes Debüt seines Spions diesen Brief übersendet, welchen der Hauswirth Giseke's dem als Dieb ergriffenen Kerl abgenommen hat. Sie sehen also, daß ich Sie nicht mehr gebrauche. Fort mit Ihnen! Ihre Zeit ist abgelaufen! Fort! Fort!«

Blanchard leistete jedoch diesem Befehle einen klugen Widerstand, indem er die Schwächen des Officiers benutzte, um ihn freundlicher zu stimmen. Er dehnte seine Mittheilungen über unerheblichere Dinge so lange aus, bis Leclaire seinen Groll etwas vergessen hatte, und als er ihn endlich verließ, da trug er eine geheime Vollmacht zu jedweder Unthat mit sich heim. Jetzt wird ein Jeder begreifen, mit welchen Empfindungen er dem Rath Giseke, der stolz und frei an ihm vorüberging, nachblickte. Er war in seinen Augen das nächste Opfer, das von seiner verruchten Hand dem Tode überliefert werden sollte. Markland und Giseke! Er rieb sich teuflisch vergnügt die Hände und eilte fort.

*


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