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Fünftes Capitel.
Rath Giseke.

Der Morgen war langsam aus den trüben Winternebeln hervorgetreten, welche den Horizont umlagerten. Die Sonne stieg herauf. Leichte, flüchtige Schleier von Nebeln umflogen sie noch, aber sie durchbrach siegreich das Gewölk und hob sich auf schimmernden Wölkchen höher und immer höher, bis sie die öden, früh winterlich gewordenen Fluren beleuchtete. Der Rath Giseke stand am Fenster. Sein Blick haftete nicht an den Morgensonnenstrahlen, sondern an den Fenstern ihm gegenüber, die ihrer Zierde beraubt waren.

Seit zwei Tagen war er von seiner Reise zurück. Das Geschick seines Vaterlandes hatte ihn zu dieser Reise vermocht und er kam, von einer dumpf und drohend umherschleichenden Nachricht neu beseelt und belebt, in der Heimath an, die seit der Eroberungswuth des französischen Kaisers nicht mehr sein Vaterland war. Ein langsam fortschreitendes Gerücht sprach von fürchterlichen Erfahrungen, die Napoleon Bonaparte in Rußland gemacht habe. Zwar wurde officiell dem widersprochen, allein der Muth der bedrängten Völker entzündete sich daran. Wenn Gott nicht mehr mit Dem war, der sie mit gewaltiger Macht bedrückte, so mußte sein eiserner Wille ja zu brechen sein!

Ganz voll von seinen Hoffnungen traf Giseke wieder ein in seinem Quartiere. Allein, so leid es uns thut, an des Calculators hübsches Töchterchen dachte er durchaus nicht, als er sich behaglich in sein Haushabit steckte und die Wärme des Ofens durch einige derbe Stücke Holz zu erhöhen trachtete. Es ist der Wahrheit gemäß, wenn wir gestehen, daß Männer von so ernstem, hochstrebenden Wesen, wie der Rath Giseke, sich selten mit eitlen Träumereien von schönen Frauen die Zeit verderben lassen. Trotzdem er nicht älter als sechsunddreißig Jahre war, trotzdem er mit poetischer Schwärmerei die Schönheit und echte demüthige Weiblichkeit Mariens anerkannte, so haftete dies holde Bild doch nicht so fest in ihm, daß er hätte sogleich daran denken sollen, es mit seinen Blicken zu begrüßen.

Erst späterhin, der Abend lag schon in den schmalen Gassen verbreitet, und seines Wirthes Magd, die seine Aufwartung mit besorgte, machte Anstalt, sein Zimmer zu erhellen; erst da trat er zufällig an's Fenster und sah, wie öde es drüben aussah.

Es schien, als hätte die Magd nur auf diesen Blick gewartet, um sogleich mit ihrer Nachricht herauszuplatzen. Sie erzählte ihm unaufgefordert, daß der Calculator Rüdiger abgesetzt sei und mit seiner Tochter sofort die Stadt verlassen habe.

Wie vom Donner gerührt, stand Giseke da und hörte der Erzählung, die an vielen phantastischen Ausschmückungen litt, zu.

»Wohin ist der Calculator gegangen?« fragte er endlich mit beklemmtem Athem.

Die Magd zwinkerte listig mit den Augen, als sie antwortete, daß dies kein Mensch wisse.

»Man wird doch wissen, wo Rüdiger geblieben ist?« wiederholte der Rath ungeduldig.

Nun gestand die Magd mit wichtiger Umständlichkeit zu, daß sie es freilich ahne, wo er geblieben sein könne, denn sie sei aus dem Dorfe Berau, dicht hinter dem alten Kloster gebürtig, und davon wisse sie, daß Rüdiger ein sehr nettes Bleicherhaus von seiner alten Muhme geerbt habe. Dorthin sei er gewiß gezogen, denn das Häuschen stehe gerade leer.

»Mitten im Winter?« warf der Rath ungläubig ein. »Am Strome, in der öden Bleiche? das ist kaum denkbar!«

Die Magd zählte aber verschiedene Gründe auf, die es glaubhaft machten, daß der starrsinnige Calculator sich selbst in diese Einöde verbannt hatte, und schließlich gestand sie zu, von Marien auf ihr Befragen davon unterrichtet zu sein, natürlich nur unter dem Siegel der allergrößten Verschwiegenheit, da der alte Herr jede Auslassung darüber verboten habe.

Was in Folge der Entlassung des bewährten Beamten am folgenden Tage im Gerichtslocale für ein Auftritt stattgefunden, das haben wir schon vorhin angedeutet. Blanchard wurde vom Rathe zur Rede gestellt, und Blanchard war so frech, alle anderen Schritte abzuleugnen und nur das Entlassungsgesuch des Calculators vorzuzeigen. Er glaubte damit die Sache vollständig abgemacht zu haben, denn er kannte das Interesse nicht, was der steife Rüdiger dem ernsten Vorgesetzten einflößte.

Der Rath Giseke überlegte am Morgen des eben erwähnten Tages, ob es nicht zweckmäßig wäre, einmal den Weg nach der Bleiche, einem wohlbekannten und im Sommer sehr beliebten Spaziergange der Stadtbewohner, zu unternehmen. Sein Auge erglühete dabei von einem inneren Feuer, obwohl er sich vorredete, nur der innerlichen Gerechtigkeitsliebe nachzugeben, die eine persönliche Nachfrage heischte.

Die Abdankung des Calculators mußte auf besonderen Gründen beruhen. So, wie Blanchard die Sachlage vorstellte, verhielt sie sich sicherlich nicht. Sein Wunsch, nach der Bleiche hinauszuwallfahrten, wurde immer lebendiger, und je glänzender die ersten Sonnenstrahlen aus dem Nebel hervorbrachen, desto fester wurde sein Entschluß.

Seine Stimmung hob sich von behaglicher Ruhe bis zu einer leidenschaftlichen Erregtheit, während er sich das Wiedersehen ausmalte, dem er dadurch entgegenging, und er überließ sich eben den schönsten, jünglingshaften Träumereien, als sich die Thür hinter ihm ganz leise öffnete, als ein kaum merkbares Geräusch sein Ohr traf und er sich plötzlich von zwei Frauenarmen fest umschlungen fühlte.

»Dora!« rief er verwundert.

»Rette mich, Ludwig! Rette mich!« flüsterte die junge Frau mit gebrochener Stimme. Thränen verhinderten sie weiter zu reden, und sie barg ihre Stirn am Herzen des Bruders.

»Was ist wieder geschehen?« fragte Giseke streng und mit drohend bewölkter Stirn. »In welche Gefahren hat Dich Dein Leichtsinn endlich gebracht, daß Du mich zur Rettung auffordern mußt?«

Jetzt erst, bei diesen an die Vergangenheit mahnenden Worte, gedachte Dora einer strafenden Vergeltung.

»Ja, Ludwig, Du magst Recht haben, mein Leichtsinn soll bestraft werden, der Treubruch gegen meinen frühern Verlobten soll gebüßt werden. O, Gott ist gerechter und unerbittlicher, als ich dachte. Er, um den ich Deine Achtung und Deine brüderliche Liebe verscherzte, er hat mich verkauft, verspielt –«

Schluchzen unterdrückte die weitere Mittheilung.

Giseke blickte starr in ihr verweintes, bleiches Gesicht. Er faßte es nicht, was sie sprach. Und, da er ihre phantastische Aufgeregtheit kannte, so glaubte er ihr auch nicht.

»Beruhige Dich erst,« sagte er mit kühler Gelassenheit. »Daß etwas Besonderes Dich so früh aus Deinem glänzenden Hause zu dem Bruder führen muß, der Dir durch seine Wahrheitsliebe verhaßt geworden ist, davon bin ich im Voraus überzeugt, allein extravagante Ausrufungen, wie Du eben gebrauchtest, müssen erst in Ruhe von Dir erläutert werden, wenn ich sie verstehen und begreifen soll. Also werde erst ruhig, Theodora!«

Die junge Frau kannte ihren Bruder gut genug, um zu wissen, daß jede theatralische Phrase vermieden werden müßte, wenn er ihren Worten Vertrauen schenken sollte. Sie unterdrückte daher den Pathos, welcher leidenschaftliche Empfindungen zu begleiten pflegt, und sprach einfach:

»Markland hat gestern Abend sein ganzes Hab und Gut verspielt und sich vom Wahnsinn blenden lassen, auch mich als Preis auf die letzte Karte zu setzen!«

Giseke sah sie aufmerksam an.

»Dora, Du träumst wohl!« sprach er ungläubig.

»Ich träume nicht. Ich bin auch nicht sinnverwirrt. Ich spreche mit vollem Bewußtsein!«

»Dich als eine Waare, als ein Werthstück, als einen leblosen oder doch willenlosen Gegenstand auf's Spiel gesetzt?« fragte er noch immer zweifelnd.

Die junge Dame neigte nur stumm den Kopf.

»Wie kann Dich das aber beunruhigen?« sprach er dann nichtachtend. »Markland wird doch wissen, daß Dein Wille hier entscheiden muß.«

»Er hat meine Ehre mit verspielt,« entgegnete seine Schwester, ihre fürchterliche Aufregung bei seiner verächtlichen Kälte kaum bemeisternd. »Mein Besitz auf acht Tage soll den entsetzlichen Colonel Leclaire befriedigen.«

Eine tiefe Gluth des Zornes schlug blitzschnell über Giseke's Gesicht.

»Abscheulich!« rief er mit dem Fuße stampfend. »Dahin führte also endlich Euer verruchtes Leben zwischen den französischen Parvenus! Gut so! Ihr werdet untergehen mit ihnen, wenn Gottes strafende Gerechtigkeit sie zu vertilgen trachtet. Dahin also seid Ihr schon gekommen. Dahin, wo die scheusliche Gemeinheit anfängt!«

Theodora senkte ihr Haupt unter, dieser übertriebenen Anklage, sie beugte sich unter den Vorwürfen ihres Bruders, weil er sie streng und offen gewarnt hatte, als es Zeit war.

Eine lange, drückende Pause trat ein. Die junge Frau, bis zur Verzweiflung getrieben durch die leichtsinnige Gleichgültigkeit ihres Gatten, bis in's Herz hinein empört von seiner Frivolität, fühlte, trotz der Härte ihres Bruders, daß sie hier geborgen und gesichert war. Weiter verlangte sie nichts. Mochte Ludwig sie tadeln, mochte er seinem Zorne Worte geben, so viel er wollte, seines Schutzes war sie sicher. Sein Charakter bürgte ihr. Schwäche kannte er nicht. Gerechtigkeit war sein Lebenselement. Und sie wußte sich ganz unschuldig an dem hereingebrochenen Unglücke.

Während ihr Gemüth im Vertrauen erstarkte, löste sich ihres Bruders grimmiger Zorn. Er blickte verstohlen auf dies bleiche, reizende Weib, das sich unter seinen Schutz flüchtete, als ihr Gatte sich ihrer Liebe unwürdig zeigte. Sein Herz wurde weich.

»Dora,« sagte er leise. Sie hob mit einem Engelslächeln das Auge zu ihm auf. »Hast Du denn nicht gefürchtet, daß ich Dich von meiner Schwelle weisen würde, weil ich Grund hatte, Dich aus meinem Herzen zu bannen?«

»Nein, Ludwig!« sagte sie treuherzig. »Ich wußte, daß Du Deine Dora nicht im Elende der moralischen Entwürdigung umkommen lassen würdest. Dein Bild trat vor meine Seele, als ich vor Gott niedersank und ihn um Erleuchtung anflehte.

Ludwig zog sie heftig an sich.

»Erzähle mir Alles, Dora. War Dein Leben rein vor Gott? Hast Du Deine Ehre streng bewahrt?«

Sie sah ihm fest und ernst in's Auge.

»Du hältst mich für leichtsinniger, als ich bin, mein Bruder. Ich liebte meinen Gatten! Weil ich einstmals einem Manne ungetreu geworden, so glaubst Du nicht an meine Seelenreinheit! Würde ich aber zu Dir geflüchtet sein in der Angst meines Herzens? Würde ich Schutz gesucht haben gegen die Entwürdigung, die selbst im kleinsten Verdachte für mich liegt?«

Die männliche Kaltblütigkeit, die Giseke so vortheilhaft auszeichnete, kehrte nach und nach unter den Worten seiner Schwester zurück. Er gewann die nöthige Ruhe zur richtigen Beurtheilung und indem er sie zur Enthüllung aller der Umstände veranlaßte, die ihm ein Bild ihres Lebens während der letzten Zeit aufstellten, kam er zu der Ueberzeugung, daß die junge Frau ganz richtig, von ihrem Instincte geleitet, eine Entfernung aus der Nähe ihres Gatten, als das sicherste Mittel ihren Ruf zu sichern, erkannt hatte. Damit war sie in den Augen des Publikums freigesprochen von jeder Betheiligung an dem elenden Treiben einer geselligen Verbindung, welche dem reinen Sinne widerstrebt. Aber damit war sie der Gefahr einer brutalen Verfolgung von Seiten Leclaire's durchaus nicht entgangen. Man war gewohnt, in allen Stücken nach dem Wahlspruche des Kaisers Napoleon zu handeln, welcher glaubte: »Le droit du plus fort est toujours le meiller.«

»Die Macht, Dich zu verderben, liebe Dora, liegt in Leclaire's Hand. Er wird Männer zu finden wissen, die das Recht des Stärkern vertreten wollen,« sprach der Rath, nachdem er Alles gehört, Alles begriffen und erwogen hatte.

»Du meinst, ich wäre nicht sicher bei Dir, Ludwig?« fragte die junge Dame erschrocken. »Worin liegen die Gefahren, die ich zu fürchten hätte?«

»In der List, in der Dreistigkeit und in der brutalen Willkür, Dora! Wer könnte sich in jetziger Zeit wohl einer rohen Gewaltthätigkeit widersetzen!«

»So entziehe mich mindestens der rohen Willkür,« bat Dora mit fliegendem Athem. »Verbirg mich, bis sich Leclaire's Wuth gelegt hat. Laß mich bei Dir bleiben unter dem Schleier des Geheimnisses.«

Giseke lächelte mitleidig.

»Um, binnen zwei Tagen zu erleben, daß Deine Flucht zu mir ein öffentliches Geheimniß ist?«

»Würde Dein Wirth nicht schweigen, wenn Du ihn in's Vertrauen zögest?«

Giseke schüttelte abwehrend den Kopf.

»Es giebt jetzt nur noch wenige Menschen, denen Treue und Glauben zu schenken ist. Sie erliegen entweder der Furcht vor den Franzosen oder ihrer Bestechung.«

Sein Blick traf in diesem Momente die Fenster gegenüber, wo sonst Mariens Blumen, ihr Vogel im Käfige und sie selbst seine Phantasie so angenehm beschäftigten.

»Einen weiß ich,« sprach er träumerisch, »ja, einen Einzigen kenne ich, der glaubenfest, wie ein Fels im Meere, der verschwiegen, wie das Grab ist!«

Ein Plan dämmerte in ihm auf. Wie in plötzlicher Eingebung fragte er sich selbst unterbrechend:

»Weiß irgend Jemand, daß Du hier bist?«

»Nein. Ich bin in der Morgendämmerung aus dem Hause geschlichen. Meine Dienstboten schliefen noch. Es hat mich Niemand weggehen sehen und Markland wird vor Bestürzung außer sich sein, wenn er mein Verschwinden bemerkt.«

»Gut, gut! Begegnet ist Dir auch kein Mensch, nicht wahr? Die Straßen pflegen um diese Zeit noch menschenleer zu sein.«

»Doch. Einer ist mir begegnet, vor dem mir stets grauet, Blanchard. Aber er erkannte mich nicht. Mein Schleier war zu dicht und mein Anzug verhüllte mich. Er mochte mich für eine Krankenwärterin halten, denn er rief mir über die Straße hinweg zu, daß er mir wohl zu schlafen wünsche, nachdem ich die Nacht gewacht hätte!«

Giseke biß heftig die kippen zusammen. Er verstand die Zweideutigkeit des Zurufs besser, als die unschuldige junge Frau.

»Wenn Blanchard Dich gesehen hat, so ist Eile noth!« antwortete er sehr hastig. »Aber wie bewerkstelligen wir meinen Plan?«

»Was willst Du thun, Ludwig?« forschte Dora ängstlich.

»Dich fortschaffen aus der Stadt.«

»Wohin denn? Wohin? Ludwig, bedenke, was Du beschließest! Hast Du vor, mich zu meiner Schwester zu schicken? O, nur das nicht! Welch' eine Demüthigung für mich, nachdem ich trotz ihrer Vorstellungen meinen Gatten gewählt, als Flüchtling vor ihr zu erscheinen!«

»Freilich am besten wäre es, Du gingest zur Schwester nach Danzig, allein für jetzt geht das nicht. Du mußt ohne Aufsehen die Stadt verlassen und zwar unverzüglich, bevor Recherchen angestellt werden. Hätte ich nur eine Verkleidung für Dich – warte 'mal!«

Mit der Hast und dem Eifer eines Jünglings verließ Giseke das Zimmer und stieg eine Treppe höher, wo einige Giebelkammern waren, in denen die Dienstleute seines Hauswirthes schliefen. Diese Kammern standen immer offen und die Kleidungsstücke der Magd, die aus dem Dorfe Berau gebürtig war, hingen wohlgeordnet auf einigen Haken an der Wand entlang. Es bedurfte somit nur einiger kühnen Griffe, um sich in den Besitz eines vollständigen Bäuerinnenanzuges zu setzen.

Giseke zögerte nicht einen Augenblick, um das Wagestück zu unternehmen, das ihn in die unangenehme Lage bringen konnte, eines Diebstahls verdächtig zu werden. Im Nu hatte er sein Werk vollführt. Alles was nöthig war, selbst das große verhüllende Kopftuch, das die Berauer Bäuerinnen eigenthümlich tief über das Gesicht zu ziehen pflegten, selbst dies so sehr nothwendige Kopftuch fehlte nicht. Athemlos trat er wieder zu seiner Schwester ein und warf die Kleidungsstücke über einen Stuhl. Dora errieth sogleich, was er damit sagen wollte und begann unverweilt ihre Verkleidung.

»Wirst Du allein fertig werden können?« fragte der junge Mann zaghaft: »Man muß nicht bemerken, daß eine ungeübte Hand den Anzug geordnet hat.«

»Sei unbesorgt,« tröstete ihn Dora, nahm die Sachen und begab sich in das Nebenzimmer.

Während Dora sich umzog, bereitete Giseke das vor, was noch nöthig war. Er schrieb an den Calculator Rüdiger und zwar nur die wenigen Worte:

»Wollen Sie die Güte haben und der Überbringerin ein Obdach geben? Sie wird Ihnen selbst sagen, welche Verhältnisse mich zu dieser Bitte zwingen.«

Ohne Adresse und ohne Unterschrift (seine Hand war dem alten Gerichtsbeamten bekannt, das wußte er), schlug er das beschriebene Blatt zusammen, nahm eine Rolle mit Geld aus dem Schreibschranke und legte Beides zur Hand. Dann richtete er seiner Schwester aus seinem noch unberührt dastehenden Frühstücke einen kleinen Imbiß zu und er war eben mit seinen Vorbereitungen fertig, als sich die Thür des Nebenzimmers wieder öffnete. Dora trat ein. Nur einem ganz vertrauten Auge kenntlich, konnte sie sich dreist in dieser Kleidung auf den Weg machen, der durchaus eingeschlagen werden mußte. Giseke war vollkommen zufrieden.

»Nun höre, was weiter geschehen muß,« sagte er eilig. »Hier diesen Zettel verbirg so sicher, wie Du nur kannst. Du giebst ihn nur dem Calculator Rüdiger ab.«

Dora fuhr sichtlich zusammen bei der Nennung dieses Namens. Er stand in Verbindung mit dem letzten, traumhaft glücklich verbrachten Tage in dem Hause ihres Gatten, sie erinnerte sich daran, mit welcher Gleichgültigkeit sie seine Verabschiedung vernommen hatte.

»Dann übergebe ich Dir vorläufig dies Geld zu Deinem Lebensunterhalte. Dem Calculator erzählst Du wahrheitsgemäß Deine Erfahrungen und bittest ihn nochmals in meinem Namen um Schutz. Ich selbst werde, in der Entfernung von zwanzig Schritten, Dir folgen, bis ich Dich sicher weiß. Der Calculator wohnt in Berau, unterhalb des Dorfes am Ufer des Stromes in einem der letzten Bleicherhäuser. Du kennst den Weg dahin, also geh' mit Gott. Tritt muthig Deinen Weg an. Fürchte nichts. Ich bin hinter Dir und sogleich zu Deinem Schutze bereit, wenn irgend etwas Deinen Weg kreuzen sollte. Bist Du einverstanden mit meinem Plane, liebe Dora?« fragte er lebhaft bewegt, indem er seinen Arm um ihre Schultern legte.

»Ganz einverstanden, bester Bruder,« flüsterte sie mit Thränen im Auge, »aber sehr, sehr bange ist mir um's Herz. Wenn mich Rüdiger nun abweiset? Ich bin des Präfecten Markland's Frau.«

»Aber auch meine Schwester!« fiel Ludwig ein. »Ich fürchte nichts dergleichen von Rüdiger, obgleich er notorisch ein Starrkopf ist. Sollte dies jedoch unerwarteter Weise eintreten, so laß mir durch irgend Jemand sagen ›ich möchte selbst kommen.‹ Den Anzug mußt Du mir unverzüglich zurücksenden. Marie Rüdiger ist von derselben Größe, wie Du. Sie wird Dir gewiß mit ihren Kleidern aushelfen, bis ich weiter für Deine Garderobe sorgen kann. Was Du jetzt abgelegt hast, kannst Du als Bündel am Arm mit hinausnehmen.«

»Marie Rüdiger?« fragte Dora freudig. »Der alte Herr hat also eine Tochter? O, nun ist mir nicht mehr bange. Die Tochter wird meine Fürsprecherin sein.«

»Glaub' das nicht,« sagte Giseke mit einem schwermüthigen Lächeln. »Marie ist die stumme Sclavin ihres Herrn Vaters. Sie hat den Muth nicht, seinen Befehlen nur ein Wort entgegenzustellen. Grüße das Mädchen von mir. Ich habe sie dort drüben am Fenster heranwachsen und aufblühen sehen.«

»Wann sehe ich Dich draußen, Ludwig?« sprach die junge Frau, als Giseke jetzt seinen Pelz überwarf und Hut nebst Stock ergriff.

»Sobald ich merke, daß man Deine Fährte verloren hat, komme ich. Ist meine Vermittlung nöthig, so bin ich heute Abend bei Dir.«

»Ludwig – und mein armer Philibert?« fragte sie ganz leise.

»Nun?« erwiederte der junge Mann streng und herbe.

»Willst Du ihm keine Nachricht von mir zukommen lassen?«

»Nein! Er mag tragen, was ihm seine Gewissensangst aufbürdet. Ich habe nicht geglaubt, daß ich dies bei meinen Hülfsleistungen zur Bedingung machen müßte.«

»Sein Schmerz wird ihn der Verzweiflung zuführen, Ludwig.«

»Mag er darin untergehen! Er verdient dann sein Schicksal!« sprach er hart.

»Ludwig, ich liebe meinen Philibert!«

»Und er liebt Dich nicht, sonst würde er nicht Dich, die Perle seines Lebens, vor die Säue geworfen haben. Du hast die Wahl, Dora. Entweder Rettung durch mich, oder Untergang durch Markland. Wähle. Noch ist es Zeit!«

Die junge Frau faltete stumm ihre Hände und blickte vor sich nieder.

»Soll ich Dir den Namen Leclaire zurufen, um Deinen Entschluß zu fördern?« fragte ihr Bruder etwas sanfter.

»Auf ewig scheiden, Ludwig? Auf ewig? Bei Gott, ich kann es nicht!«

»Ich beschränke Deinen Willen durchaus nicht, Dora. Willst du später wieder neben dem Manne leben, der Dich einer moralischen Erniedrigung aussetzte, so magst Du es thun. Für jetzt aber mußt Du todt für ihn sein und bleiben, bis Leclaire die Stadt verlassen hat. Nun? Die Zeit verrinnt. Wenn wir unbemerkt die Stadt verlassen wollen, so müssen wir eilen.«

Dora schlang ihre Arme um des Bruders Hals und drückte die Stirn heftig weinend an seine Brust.

»O, wenn er aber trostlos ist, wenn – Ludwig, Philibert liebt mich, trotz seines frevelhaften Leichtsinnes – wenn er verzweifeln will, dann, nur dann, mein Bruder, flüstere ihm die Hoffnung zu, daß wir uns wiedersehen würden. Willst Du, Ludwig?«

»Ja!« sprach Giseke erweicht. »Ja, Du schwaches Weiberherz, das in den Fesseln eines Unwürdigen schmachtet! Nun fort, fort! Ich gehe die Treppe hinab, um zu recognosciren. Käme uns die Annemarie entgegen und sähe ihr Zeug an Deinem Leibe, sie würde zur Tigerin. Also vorsichtig!«

Ungehindert passirte das Geschwisterpaar die Treppe und verließ eins nach dem andern das Haus. Innerlich bebend vor Angst und doch mit festen, kecken Schritten ging Dora als Bauerdirne die Straße hinab, nachlässig ihr Bündel am Arme, das Kopftuch mehr noch, als es Bauernmode war, über die Stirn hinweggezogen. Kein Mensch begegnete ihr. Der Tag war noch nicht so weit vorgeschritten, wo der Geschäftsverkehr sich entfaltete. Sie erreichte ungefährdet das Thor. Ihr Muth wuchs. Sie warf einen Blick hinter sich, um ihrem Bruder ihre Freude über das Gelingen ihres Werkes auszudrücken, und ein namenloser Schrecken erfaßte sie. Dicht hinter ihr ging Blanchard, das böse Princip ihres Gatten, der Spion aller Franzosen!

Die Gefühle, welche diesem ersten Schrecken folgten, sind eigentlich nicht zu beschreiben. Wie in einem quälenden Traume, gejagt von bösen Geistern, unfähig gemacht ihnen zu entrinnen, und doch vorwärts strebend, als sei das Heil in der Flucht zu finden, von wahnsinniger Furcht getrieben und dabei durch Angst gefesselt, jeden Augenblick gewärtig, die hemmende Hand des Verfolgers zu fühlen und das gewichtige halte-là, zu hören, es war wahrlich zum wahnsinnig werden.

Mechanisch setzte Theodore ihren Weg fort, kaum wissend, was sie that, und das rettete sie. Hätte Blanchard gewußt, was er erst eine halbe Stunde später erfuhr, so würde er in dieser Weibergestalt, die unsicher und schwankend vor ihm herschritt, Diejenige vermuthet haben, die man suchte. Wäre sie stehen geblieben im Uebermaße des Schreckens, so hätte sein Spürblick sogar ohne dies Wissen etwas Absonderliches geahnt. Dora aber überschritt die Brücke, welche über den Strom führte, und wendete sich, mit Aufbietung aller ihrer Kräfte, rasch nach der linken Seite, wo sich ein schmaler Weg durch Gestrüpp von Weiden am Strome entlang zog.

Die Männertritte hinter ihr hörten auf; Blanchard hatte sich in dem Gange verloren, der nach dem Einnehmerhäuschen führte. Seine eigenen habsüchtigen Pläne waren also die Veranlassung zu diesem frühen Spaziergange gewesen.

Gleich darauf tönte ihres Bruders Stimme in ihr Ohr:

»Arme Dora. Das war ein unglücklicher Zufall. Bist Du fähig, weiter zu gehen?«

»Ja,« flüsterte sie immer fortschreitend.

»Nimm Dich in Acht. Es könnte ein schlaues Manöver von ihm sein.«

Eiliger noch, als in den Ringmauern der Stadt, schritt sie dahin. Sie kannte den Weg nach der Bleiche und sie wußte, daß er in dieser Jahreszeit von den Städtern nie betreten wurde. Die Bewohner der Bleicherhäuser verließen ihre Wohnungen jetzt auch nur im höchsten Nothfalle. Es waren meistentheils Leineweber, die sich hinter ihren Ofen und hinter ihren Webestuhl verschanzten, die wenig Bedürfnisse hatten, nichts einkaufen und nichts verkaufen konnten, also für die Winterzeit eigentlich begraben lagen in ihrer Einöde.

Giseke kannte ebenso gut, wie seine Schwester, die Eigenthümlichkeiten dieses schmalen Landstriches, der sich vermöge seiner Lage zu nichts eignete als zu dem Gewerbe, das seine Bewohner betrieben. Er hielt sich wieder fern von der Schwester für den möglichen Fall, daß Blanchard ihnen auflauern könnte; aber als er die Höhe des Hügels erreicht hatte, auf dem die Ruinen eines Klosters von der Zerstörungslust der ersten französischen Heere erzählten, die im Anfange des Jahrhunderts Deutschland überschwemmt hatten, da blieb er stehen, weil er von hier aus den Weg bis zu der Bleiche vollständig übersehen konnte.

Dora flog mehr, als sie ging, auf dem kaum sichtbaren Wiesenpfade entlang. Gefahren fürchtete sie nun nicht mehr. Die stürmischen Wallungen des Schreckens hatten sich ganz gelegt, und nur ihre Rettung vor den Verfolgungen Desjenigen berücksichtigend, der noch vor wenigen Tagen huldigend zu ihren Füßen gelegen, lenkte sie muthig ihre Schritte dem Asyle zu, das ihr Sicherheit versprach. Sie blickte nicht um sich. Sie bemerkte nicht, wie gespenstisch-traurig die Gegend weit umher war, wie einsam, wie verödet! Immer eiliger, immer beflügelter wurde ihr Gang, und sie erreichte die Bleiche in der allerkürzesten Frist.

Beim ersten Hause stand sie still und sah zurück. Ihr scharfes Auge entdeckte dort oben an den Klosterruinen die Gestalt ihres Bruders. Sie nahm ein Tuch aus dem Bündel und schwenkte es triumphirend in der Luft. Ludwig antwortete durch ein gleiches Manöver. Dann ging sie weiter.

*


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