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Erstes Capitel.
Der Calculator und seine Nachbarschaft.

Der Calculator Rüdiger war seit zwanzig Jahren in die Stelle seines Vaters eingerückt und verwaltete sein Amt ehrlich und in dem guten Glauben, bis an das Ende seines Lebens Calculator bleiben zu können. Es war aber anders im Rathe des Schicksals beschlossen.

Der Calculator Rüdiger hatte unter zwei preußischen Königen als ehrbarer Bureau-Beamter gedient und war mit demselben Gleichmuthe Unterthan des Königs von Westphalen geworden. Er würde auch wahrscheinlich, ohne großen Kummer, russischer oder chinesischer Calculator geworden sein, wenn man ihn sonst mit seinem ganzen Bureau dahin zu versetzen Lust verspürt hätte.

Es ist daraus zu entnehmen, daß der Calculator sich nicht viel um den Wechsel der Könige kümmerte. Ganz eben so gleichgültig behandelte er auch den Wechsel der Mode. Er ging im Jahre 1811 mit demselben langen Zopfe, wie im Jahre 1791, und seit mehr als zehn Jahren sah man ihn täglich im türkblauen Oberrock, schwarzen Kniehosen, grauen Strümpfen und Schuhen mit Stahlschnallen den Weg nach seinem Gerichtslocale einschlagen, wo er sein Tagewerk abrechnete, um sich dann wieder zur bestimmten Minute in seine nahebei gelegene Wohnung zu verfügen.

Dort wurde er jedes Mal mit devoter Artigkeit von seiner Tochter Marie empfangen. Sie nahm ihm Hut und Stock ab, hing den türkblauen Oberrock in den Schrank, half ihm einen großblumigen Schlafrock anziehen und brannte ihm seine Pfeife an. Alle diese kleinen Dienste nahm der Calculator mit der steifen Würde eines Großmoguls an, ohne sich dabei über den Liebreiz seines Töchterchens auch nur zu freuen.

Glücklicherweise achteten ein Paar Augen, die sehr oft in dem gegenüberliegenden großen Hause am Fenster zu erblicken waren, besser darauf und kehrten immer wieder zu der höchst amüsanten Beobachtung zurück, obwohl die tägliche Wiederholung des kleinen Familienactes den Reiz der Neuheit längst heruntergestreift hatte. Die aufmerksam beobachtenden Augen gehörten zu dem Gesichte des Herrn Ludwig Giseke, der, ein Mann von circa sechsunddreißig Jahren, als tüchtiger preußischer Regierungsrath in das Beamtenwesen des westphälischen Königreichs übergegangen und als irgendein Departements- oder Bezirksrath dort verwendet worden war.

Herr Ludwig Giseke war der älteste Sohn eines angesehenen Kaufmanns. Er war also reich gewesen und hübsch dazu. Den Reichthum verschlang der leidige Krieg und die Contributionswuth des französischen Eroberers. Sein hübsches Gesicht aber wurde von den Blattern so hinreichend übersäet, daß selbst seine intimen Freunde ihn nicht wieder erkannten. Seitdem lebte er sehr still und zurückgezogen, übte seine Pflicht, versah sein Amt und beschränkte sich auf das täglich wiederkehrende Amüsement, des »Calculators Töchterlein zu bewundern.« Daß sein Herz dabei in Gefahr kommen könnte, hätte selbst sein verwegenster Gedanke nicht vermuthet. Er, der pockennarbige, alte Mann und Marie Rüdiger, das zarteste, blondeste, reizendste und rosigste Mädchen ihres Zeitalters! Welche thörichte Einbildung, welche unsinnige Eitelkeit und Selbstüberschätzung hätte dazu gehört, um daran zu denken! Herr Ludwig Giseke hatte von all seinen Geschwistern nur seine jüngste Schwester Theodore in der Stadt behalten. Alle andere Nachkommen des Hauses Giseke & Compagnie waren nach größeren Handelsstädten verheirathet. Theodore aber hatte sich plötzlich entschlossen, eine schon länger projectirte Verbindung mit einem Danziger Kaufmann aufzulösen und statt dessen den neu eingesetzten Präfecten Markland, der sein germanisches Blut in allen Stücken verleugnete, zum Gatten zu wählen.

Die Wahl seiner Schwester hatte Ludwig Giseke's Beifall nicht. Er traute dem Präfecten viel mehr Schwächen als Tugenden zu, und seitdem in der letzten Zeit durch die fortgesetzten, maßlos übertriebenen Bedrückungen der entsetzlichen Advocatensöhne aus Corsika, der kaum noch glimmende Funken von Vaterlandsgefühl endlich ganz leise zur Flamme heranwuchs, seitdem war dem Departementsrath Giseke das Treiben und Leben seines Herrn Schwagers doppelt und dreifach zuwider geworden. Er ging nicht in sein Haus und vermied selbst bei Dienstfunctionen jede persönliche Begegnung. Der Verdacht, daß auch der Herr Präfect Markland in blinder Nachahmung seiner kaiserlichen und königlichen Vorbilder in der neuen Dynastie Bonaparte, sich eigenmächtig im Erwerbe seiner Subsistenzmittel bewies, lag allzunahe, wenn man den enormen Aufwand betrachtete, den der Herr Präfect zu machen für gut fand. Herr Ludwig Giseke war aber der Mann nicht, der dergleichen Willkürlichkeiten gut hieß. Er war ein ernster, ja, man möchte sagen, ein finsterer Mann, der mit freundlichen Blicken keinesweges freigebig schien, dessen gelegentliches Lächeln aber, gleich dem Eindruck eines Sonnenstrahls, sein Gesicht trotz aller Pockennarben mächtig verschönte. Außerdem, daß die Pocken die Glätte der Haut und sonstige kleine Schönheiten des Gesichtes zerstört hatten, konnten sie doch der ganzen äußern Gestaltung dieses Mannes durchaus nichts anhaben, daher blieb er immer eine Erscheinung in der Männerwelt, die durch ihr vornehmes Aeußere zu imponiren vermochte.

Seine Schwester Theodore, des Präfecten Gattin, war die schönste Frau der Stadt. Sie wußte dies mehr, als ihr gut war, aber wenn auch das Leben an der Seite eines Gatten, der dem Krebsschaden der Zeit vollständig erlegen schien, sie in den Strudel einer Geselligkeit hineinriß, der selbst festen und ernsten Frauen Unheil gebracht hatte, so hob sich ihr wirklich feiner und edler Sinn stets wieder und verhinderte ihr gänzliches Versinken.

Sie liebte ihren Gatten leidenschaftlich. Wahrscheinlich liebte sie ihn mehr, als er sie, obwohl seine Leidenschaftlichkeit sie dazu verleitet hatte, ein früheres Verlöbniß ganz kurz vor der Hochzeit zu lösen. Im Rausche des ersten Glückes, wo sie als das schönste Paar auf Gottes weitem Erdboden Epoche machten, unterschied Theodore die Kennzeichen ihrer gegenseitigen Gefühle nicht. Jetzt aber, im dritten Jahre ihrer Ehe, fühlte sie, daß ihre Zärtlichkeit bei weitem weniger wankend geworden war, als die ihres schönen Gatten. Die junge Dame zeigte bei dieser Erkenntniß mehr Verstand, als Viele ihres Geschlechts. Sie versuchte nie durch Worte, durch verschwendete Zärtlichkeit oder durch Eifersuchtsscenen mit obligaten Thränenergüssen die schwindende Leidenschaft des Herrn Präfecten wieder anzufachen, sondern sie begnügte sich mit den Gefühlsäußerungen, die er für hinreichend erachtete. Bei dem wilden geselligen Leben der beiden Gatten waren diese Resignationen Theodorens eigentlich auch gar keine Tugend. Sie hatte gewissermaßen gar nicht viel Zeit, über das nachzudenken, was ihr entzogen wurde. Sie litt nicht dabei, wenn Markland zerstreut ihren Kuß erwiederte, weil sich hundert andere interessante Gegenstände im Augenblick darauf vor ihrem Geiste formirten, und sie entbehrte nichts, wenn er eine lustige Herrengesellschaft mit Champagner und Kartenspiel dem Balle vorzog, wo sie als Königin glänzte, denn sie amusirte sich ohne ihn eben so gut. Wir sehen, daß der Leichtsinn der Franzosenwirthschaft, wie sie die fünfjährige Hofschauspielerei des Königs Jerome von Westphalen Mode machte, schon ziemlich tief Wurzel in dem Wesen der jungen schönen Frau Theodore Markland geschlagen hatte. Es war kaum zu hoffen, daß sich die Gesundheit ihres innern Kerns dabei erhalten sollte. Wenigstens fürchtete ihr ernster Bruder das Aeußerste für sie. Er hatte gesprochen, er hatte gewarnt, er hatte gebeten und gedroht, so lange er auf Erfolg rechnen konnte; jetzt aber, wo er sehen mußte, daß der Oberst Leclaire, der größte und abscheulichste Roué der französischen Besatzung, als Hausfreund seines Schwagers auftrat, jetzt schwieg er und grämte sich im Stillen über die Entartung einer Familie, die ihm durch Verwandtschaft angehörte.

Es war allerdings eben keine Ehre für einen deutschen Eingebornen von gutem und soliden Herkommen, mit den Officieren des Heeres zu verkehren. Selbst der Generalstab des Bonaparte'schen Reiches war keinesweges aus der Aristokratie Frankreichs gebildet, und wenn man auch in diesem Zirkel darauf rechnen konnte, tapfern und geistreichen Männern zu begegnen, so fand man gewiß unter den Commandeuren der Truppenabtheilungen kaum Einen von Hundert, der nicht, als Emporkömmling, nur seiner Tapferkeit eine Stellung verdankte, die ihn zwang, den feinen Franzosen zu spielen. Diese Sorte von Officieren war das Verderben der Gesellschaft. Sie jagten nur sinnlichen Genüssen nach und wenn sie einmal den Einfluß ihrer Leidenschaften erlagen, so trat ihre wilde Gemüthsart, ihre gemeine Schlauheit und Ränkesüchtigkeit in das allerhellste Licht. Zu dieser Classe von Männern gehörte unbestritten der Colonel Leclaire, und er war mit Bewilligung des Herrn Präfecten Markland der Anbeter seiner schönen jungen Frau geworden.

Am Tage, wo sich die neu geschlossene Freundschaft durch einen öffentlichen Spazierritt der Frau Markland mit dem jungen französischen Officier herausstellte, schauete der arme pockennarbige Bruder dieser leichtsinnigen Dame mit ganz besonderer Wehmuth und Weichherzigkeit hinüber in das nett eingerichtete Zimmerchen des Calculators Rüdiger und sah zu, wie echt weiblich das hübsche Mariechen für die Bequemlichkeit ihres Papa sorgte, der, mit vollkommen steifer Bureaukratenwürde des achtzehnten Jahrhunderts, im neunzehnten Jahrhunderte umherstolzirte, ohne mal zu bemerken, daß er der einzige seiner Collegen war, der noch seinen langen Zopf trug.

Herr Ludwig Giseke sah bald, daß auch dort drüben nicht Alles so zuging, wie sonst. Der Calculator lief mit allen Anzeichen einer großen Aufregung, den Hut auf dem Kopfe, den Stock in der Hand, im Zimmer hin und her, Alles umstoßend, was im Wege stand. Marie hatte sich verzagt in die Ecke des Fensters geflüchtet und sah ängstlichen Blickes dem tollen Treiben ihres Vaters zu. Dieser schien alle Contenance verloren zu haben. Plötzlich warf er den sonst wohl bewahrten Hut auf den Fußboden, ließ den Stock fallen und riß den türkblauen Rock mit solcher Vehemenz vom Leibe, daß es nur der außergewöhnlichen Haltbarkeit dieses Kleidungsstückes zuzuschreiben war, wenn es nicht in Fetzen ging.

Der Rath Giseke hatte längst seinen gewöhnlichen Lauscherplatz verlassen und war dicht ans Fenster getreten, um eine etwa eintretende Katastrophe bei seinem Nachbarn nicht ohne Einspruch geschehen zu lassen. Allein seine Besorgniß zeigte sich unhaltbar. Marie war klugerweise dem Zornparoxismus ihres sehr heftigen Papa so lange ausgewichen, bis sich die Wellen seiner Aufregung etwas beschwichtigten; diesen Moment nahm sie mit vernünftiger Kindesliebe wahr, um mit stillschweigend vollführten Dienstleistungen den Aergerausbruch so weit zu sänftigen, daß seine klare Besinnung zurückkehrte. Es war dem stillen Beobachter rührend zu sehen, wie überdacht und doch so hingebend kindlich das Mädchen mit dem großblumigen Schlafrock herbeieilte, als der türkblaue Rock durch die Luft geflogen war, wie sie dem Vater dies Kleidungsstück anlegen half und wie sie ihre Augen treuherzig fragend auf die Mienen heftete, die noch immer von Verdruß bewölkt erschienen. Der Rath Giseke beobachtete mit immer steigendem Interesse den Sieg, welchen die kluge Weiblichkeit hier über den Zorn des Mannes errang. Wie demüthig stand sie vor dem Vater, der seinen lange unterdrückten Unmuth endlich in seinen vier Wänden hatte austoben lassen können, wie weise und gütig zugleich entlockte sie ihm jetzt erst die Gründe zu diesem Zorne.

Tief aufathmend zog sich Ludwig Giseke, der Stoiker, welcher sich für jede Mädchenphantasie viel zu häßlich fand, vom Fenster zurück, als er das gegenüber tobende Ungewitter in ein harmloses Zwiegespräch zwischen Vater und Tochter enden sah. Wir aber halten es für gut, uns nun in des Calculators Zimmer zu begeben, um die Veranlassung des Aergers kennen zu lernen, der den würdigen Rechenkünstler aus Rand und Band gebracht hatte.

Die Wuth des alten Herrn war endlich so weit gewichen, um ihm den nothwendigen Gebrauch seiner Sprachorgane wieder möglich zu machen. Das stille, beschwichtigende Walten seiner Tochter, ihr bittender Blick, ihr liebliches Lächeln bewirkten nach und nach, daß er die Worte hervorstieß:

»Und ich thue es doch nicht, Marie!«

»Der Herr Vater haben sich alterirt?« fragte das schöne, sanfte Kind, indem sie die Knöpfe des Großblumigen sorgfältig zuknöpfte, und ganz leise über seinen Arm und seine drohend geballte Faust strich.

»Da alterire sich der Teufel nicht!« fuhr der Calculator energisch auf. »Habe ich mich gemuckt, als das verfluchte französische Regiment begann und meine mühsam aufgestellten Tabellen verwarf, mir neue Instructionen ertheilte? Nein! Andere Herren, andere Gesetze; andere Länder, andere Sitten! Ich war der Subaltern, die Maschine des Gesetzes, gut, ich fügte mich und rechnete, wie sie es haben wollten. Da aber kam der neue Greffier Blanchard, ein Günstling des Präfecten und aller Generalitäten, dabei ein Spion, ein Schelm, der sich zu poussiren weiß. Gottes Zorn hat diesen verdammten Straßburger Spitzbuben, der von Geblüt ein Deutscher und von Herzen ein Franzose ist, hierher verschlagen, um mit seiner Zweizüngigkeit Noth und Elend über einen braven Calculator von altem Schrot und Korn zu bringen. Seit dieser Blanchard Chef unserer Canzlei ist, wohnt der Satan in unserer Kämmerei. Mich soll er aber nicht fangen. Ich rechne deutsch, Marie. Die französische Rechenkunst ist mir verdächtig! Und wenn der Kerl mich fricassiren läßt, so thue ich ihm den Willen nicht, ein einziges Kreuz oder eine Null zu vergessen!«

»Das ist schön von dem Herrn Vater!« rief Marie mit leuchtenden Blicken.

»Ja, ja, das ist schön!« wiederholte der Calculator unter den verrätherischen Zeichen einer wieder größer werdenden Aufregung, »aber dieser verwünschte Straßburger, der zwei Sprachen redet, chicanirt mich nun. Ist es nicht rein um den Verstand zu verlieren, Marie, daß dieser Greffier heute in meine Calculatur tritt, mir den Zopf über den Kopf wirft, daß er klatschend auf mein Buch niederschlägt und dabei befiehlt, ich sollte den Zopf wegbringen, sonst brächte er ihn weg! Ist das erhört, mein Kind?«

Marie zuckte bedauernd die Achseln. Im Grunde wäre es ihr sehr gelegen gewesen, wenn der famose Zopf, der Stolz seines Trägers, aber der Spott der ganzen Stadt, mit guter Manier entfernt wurde. Freilich auf Befehl eines Mannes, der kaum als Oberbehörde ihres Vaters zu betrachten war, hätte sie ihn auch nicht verschwinden sehen mögen.

»Und denke Dir, mein Kind,« fuhr der Calculator ingrimmig lachend fort, »denke Dir, daß dieser Greffier Blanchard mich beim Zuhausegehen nochmals attaquirt und mir im Beisein sämmtlicher Canzlisten zuschreiet: ›Hören Sie, Monsieur Rüdiger, es ist mein Ernst – ich will, daß Sie sich den verwünschten Schwanz abschneiden lassen sollen, um anständig, wie es sich für einen königlich westphälischen Beamten geziemt, im Gerichtslocale zu erscheinen!‹ – Denke Dir, mein Kind, mir das zu sagen, der ich mich den Kuckuck um seine königliche Majestät von Westphalen kümmere, mir, der ich seit zwanzig Jahren ein anständiger Calculator des Königreichs Preußen gewesen bin! Und ich thue es doch nicht! Wahrhaftig, Marie, ich schneide mir den Zopf nicht ab, solch' eines hergelaufenen Laffens wegen, der heute ›Franzose‹ und morgen ›Deutscher‹ spielt. Ich thue es weiß Gott nicht!«

Nachdem Rüdiger auf diese Weise seinen Entschluß mit aller nur denkbaren Energie kund gegeben hatte, beruhigte sich sein Gemüth merklich und er setzte sich, seiner Gewohnheit folgend, endlich in seinen grünbeschlagenen Lehnsessel, um dem täglichen Gebrauche gemäß seine brennende Pfeife von Marien in Empfang zu nehmen.

Marie zeigte sich noch aufmerksamer als sonst. Ihre Stimme klang noch sanfter und ihr Diensteifer schien noch respectvoller. Hieran scheiterte denn wirklich der letzte Rest aller bösen Laune und es verging nicht eine Viertelstunde, so schmauchte der ehrenwerthe Calculator Rüdiger mit vollständig hergestellter Seelenruhe seine Pfeife.

Dem aufmerksamen Beobachter gegenüber entging nichts von dieser kleinen Familienscene. Sogar den stillen Wunsch, der sich trotz ihres aufrichtigen Bedauerns in Mariens reizenden Mienen ausprägte, erkannte Herr Ludwig Giseke, natürlich, ohne errathen zu können, was das junge Mädchen im Geheimen wünschte. Er brannte vor Verlangen, dies zu wissen, allein wie sollte er es erfahren? Daß es den leidigen, aus der Mode gekommenen Zopf ihres Vaters betreffen könne, davon hatte er auch nicht die leiseste Ahnung. Unwillkürlich war Giseke wieder näher an das Fenster getreten und schaute eben selbstvergessen mit sehnsüchtiger Schwärmerei hinüber, als Marie ganz gegen alle Kleiderordnung am Fenster erschien und ihre Augen sehr verwundert auf den Herrn Nachbar richtete, der für ihre einfache Weltanschauung ein sehr vornehmer Mann war.

Eine liebliche Röthe überstürzte ihr Gesicht. Schüchtern sah sie abermals hinüber zu ihm. Hatte er gesehen, was bei ihnen geschehen war? Konnte er überhaupt bemerken, was in ihren Zimmern vorging? Ihre Verlegenheit stieg, als der vornehme Nachbar sie mit unverkennbar liebevoller Freundlichkeit anblickte und sich plötzlich, wie von innerer Anerkennung gezwungen, ehrerbietig gegen sie verneigte. Bestürzt erwiederte sie diesen ersten Gruß und wich dann sogleich bis in den fernsten Winkel der Stube zurück.

»Was sollte das heißen?« fragte sie sich heimlich wohl tausendmal, als sie Abends an ihrem Spinnrocken saß, aber nicht ohne vorher mit befremdender Sorgfalt die Rouleaux herunter gelassen zu haben. Was wollte der Herr Rath mit seinem Gruße sagen? War es Hohn von ihm, daß er sie, des Subalternen Tochter, so achtungsvoll grüßte? Nein, antwortete eine Stimme in ihr, nein, der Hohn und der Spott leihen sich nie das Gewand einer so edlen, ernsten Ehrerbietung, nein, Hohn war es nicht, was ihn zu diesem Gruße vermochte. »Was aber denn?« fragte sie sich sehr heimlich, sehr erfreut, sehr verschämt und naiv weiter. Und das reizende Mädchen begann auf Art aller Evastöchter zu träumen. Ganz still begann der Traum bei dem einfachen Begegniß, welches ein Gruß ist. Das Spinnrad drehte sich dabei lustig, der Faden ihres Gespinnstes glitt fein und glatt durch die saubern Fingerspitzen, das Surren des Rädchens gab ein Accompagnement dazu. Sie träumte von dem beneidenswerthen Leben der bevorzugten Stände, von dem Stolze, einem solchen Cirkel angehören zu dürfen, von der Pracht, von dem Glanze, von dem Genusse, vom Ueberflusse und vom Glücke.

»Und ich thue es doch nicht!« donnerte plötzlich des Vaters Stimme dazwischen, indem er seine Faust gewichtig auf den Tisch niederfallen ließ.

Das arme, phantasievolle Kind fuhr entsetzt aus ihren Träumen auf. Sie gelobte sich, nie wieder solche Gedanken in sich aufkommen zu lassen.

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