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Elftes Kapitel.
Der Triumph

Es ist nicht genug, dass der Mensch sich feste Ziele vorsetzt, er muss, um diese Ziele zu erreichen, auch wohlbedachte Pläne entwerfen und diese Pläne zur Richtschnur nehmen, wann und wo sich immer Gelegenheit bietet; Geistesgegenwart und Ausnützung der günstigen Augenblicke haben nicht selten rascher ans Ziel geführt als die schärfste Vorausberechnung aller Möglichkeiten.

Dass Gotthard vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an ein festes Ziel im Auge hatte und für die Erreichung dieses Zieles jeden brauchbaren Umstand rasch, entschieden und durch bedachte Mittel wohl ausnützte, haben wir schon zu wiederholten Malen gesehen, der Vorfall der letzten Nacht gab Gelegenheit zu einem seltenen Beweise von seiner Geistesgegenwart.

Selbst verwundet und betäubt, wie er war, eines Obdachs und der Ruhe durchaus bedürftig, verlor er das Ziel seines Geistes, die Bändigung und Erwartung der Luzia Arauer, nicht aus den Augen.

Mancher in seiner Lage hätte wohl die mächtige Wirkung auf die unbezähmbare Widerspenstige dadurch zu erzielen gedacht, dass er nach dem Überfalle blutend und entstellt in Arauers Haus getreten und in Gegenwart der Luzia angedeutet, der Barther aus Glanthal sei es, der ihn überfallen und so schändlich zugerichtet; in der Tat hätte er dadurch den stärksten physischen Eindruck auf Luzien hervorbringen und sie zu der krassen Selbstanklage zwingen müssen, dass sie indirekt an dem Racheüberfalle selbst schuld sei; allein dann war es unvermeidlich, dass Luzia die Absicht, sie persönlich zu demütigen, mit heraus empfinden musste, und diese Empfindung konnte bei ihrem aufbrausenden Temperamente leicht alle guten Folgen von Grund aus zerstören.

Darum nützte Gotthard, so mitgenommen er auch war, die Umstände viel feiner und weiser, indem er es vor allem vermied, in entstellter und gebeugter Gestalt vor Luziens Auge zu treten, wobei er dem Arauer nur gleichsam im Vertrauen mitteilte, dass es der Barther gewesen, der ihn verwundet.

Auf diese Weise musste Luzia den letzteren Umstand doch auch erfahren, aber ohne dass die Nachricht offen zu ihrer Demütigung diente, und der durch Gotthard veranlasste Gesang der Burschen war zugleich ein Balsam für die Wunde ihrer unausbleiblichen Selbstanklage.

Jetzt stand es um Luziens Gemütslage in der Tat sehr eigentümlich.

Der ganze Unglücksfall war gleichsam in objektive Ferne gerückt; das Gemüt konnte erschüttert sein, ohne sich nutzlos zu peinigen, mit dem Weh um den Verwundeten konnte sich sorgenvolle Rührung einstallen, und die Fantasie war würdevoll und teilnehmend geschäftig. Statt des unmittelbaren und immer peinlichen Anblicks eines Blutenden und Gebeugten, sah Luzia jetzt einen Mann vor sich, der zwar leidend, aber doch stärker als sein Leiden erschien; die Geistesgegenwart, sie noch zart zu trösten, wo er ihretwegen soeben fast das Leben verloren, ließ ihr den jungen Dasselherrn in einer Kraft und Überlegenheit erscheinen, die sie im Bewusstsein ihrer eigenen mehr als weiblichen Kraft bisher keinem Manne zugetraut hatte, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie etwas wie Demut und süße, freiwillige Unterwürfigkeit unter eine höhere, im Manne sich offenbarende Kraft.

Die vielen stillen und heißen Tränen, welche Luzia in jener Nacht vergoss, waren nicht die einzige Folge dieser hohen Einsicht, es sollte bald zu ganz anderen Offenbarungen ihrer inneren Bekehrung kommen.

Gotthard hatte seine nächtliche Wanderung unbehindert und ohne zu große Beschwerden zurückgelegt, in Bliesheim ersuchte er seinen Begleiter umzukehren, weckte dann den Bezirksarzt, um seine Wunde untersuchen und gehörig verbinden zu lassen, und erreichte erst gegen ein Uhr in der Nacht seinen Hof.

Trotzdem wollte er morgens wie gewöhnlich um vier Uhr sein Bett wieder verlassen und seinen Geschäften nachgehen, allein da fühlte er doch, dass er seinen Kräften zu viel zumute; zu den erneuten Schmerzen am Kopfe hatte sich ein leichtes Wundfieber gesellt, und er musste beschließen, wenigstens den Vormittat geruhsam im Bette zuzubringen.

Er ließ daher den Vater und die Schwester zu sich kommen, bat sie in der Aufsicht und Führung der Arbeiten seine Stelle zu vertreten und erklärte seine Wunde und sein Unwohlsein für die Folgen eines ungefährlichen Stoßes im Dunkel der Nacht.

Da er die letztere Mitteilung mit Ruhe und klarer Stimme machte, so ging die Schwester auch wirklich unbesorgt an ihre Arbeit, und der Vater beschloss, den merkwürdigen Sohn besonders würdig zu vertreten. Ein Nachsommer seiner großen Tage sollte heute wieder einmal nachschimmern, und Hof und Gesindes sollten denken: Er war halt doch seiner Zeit ein Mann! Sofort wurden die hohen Röhrstiefel angetan und bis über die Knie gezogen, die Bluse wurde hervorgeholt, das Halstuch nur an der Brust in einen Knoten geschlungen, der breitkrämpige Hut aufgesetzt – und die unvermeidliche Reitpeitsche hervorgesucht! Ein alter Potentat, der von seinem jungen Nachfolger lange in unwürdige Vergessenheit gelassen, war endlich wieder notwendig im höchsten Rate, die Weisheit des grauen Haares sollte mittun und helfen dürfen!

Der alte Dasselherr ging denn auch solchen Gefühlen entsprechend im Hofe und endlich in Feld und Wald hinaus, um das Räderwerk des häuslichen Staates im vollen Gange zu prüfen und wo möglich zu lenken. Leider fand er wie von selbst die ganze Maschine, Dank dem trefflichen Kommando des jungen Herrschers, im besten Gange, so dass ihm Zeit genug übrig blieb, unterwegs sich in wichtige Erörterungen mit begegnenden Nachbarn einzulassen, und zwar über nationalökonomische Fragen einerseits und andererseits in die Besprechung des Unfalls seines Sohnes während der jüngsten Nacht.

Letzteren Umstand berührte er eben wieder, neben einem Nachbarn hergehend, als der Adlerwirt aus Murten desselben Weges daher fuhr, um einige Fässer Herrschaftsbier zu holen.

»Ei, ei«, rief dieser schon von Weitem dem Dasselherrn zu: »Ich hab' nicht Zeit gehabt, in Eurem Hofe nachzufragen, ich tu' es jetzt: Wie geht's heut Eurem Gotthard? Ist seine Wunde besser? Macht sich's überhaupt noch leidlich?«

»Er muss leider das Bett hüten«, sagte der Angeredete, »aber es geht an, mein Sohn hofft nachmittags wieder auf zu sein!«

»Nun, da kann er von Glück sagen, und mich soll's freuen … Ah, die Schurken! Ihrer eine ganze Bande, nachts im Dunkel über einen herzufallen und ihn so zuzurichten!«

»Wen so zuzurichten! Wer ist so überfallen und zugerichtet worden?« sagte der Dasselherr betroffen.

»Wer? Wer anders als Euer Sohn; wisst Ihr's denn nicht? Kaum zehn Schritte von meinem Haus, da er eben vom Arauerhofe hergekommen war – hat Euch's der Gotthard anders dargestellt?«

»Er sagte, sich im Dunkel gestoßen zu haben«, bemerkte der Dasselherr erschrocken und verlegen.

»Ja, ja, schön gestoßen! … Doch es scheint, der Sohn habe Euch die Wahrheit nur nach und nach sagen wollen, um Euch nicht zu erschrecken … Dann nichts für ungut; so will ich auch nichts weiter gesagt haben!« lenkte der Adlerwirt ein und trieb jetzt seine Pferde wieder an: »Grüßt mir Euern Gotthard und sagt ihm, wenn er die Schandbuben nicht aufstöbern lässt, so will ich selbst das Gericht auf die Beine bringen!«

»Um's Himmels Willen, Glaner! Also wirklich? Von einer Bande Unbekannter ist mein Sohn überfallen und verwundet worden? Und warum? Warum? Weiß man aus das nicht?«

Der Adlerwirt sah etwas zweifelhaft auf den fern stehenden Nachbarn des Dasselherrn und sagte dann leise, so dass es nur Gotthards Vater hören konnte:

»Jetzt ist's ein Jahr her, da kam der junge Wendel gleichfalls in der Dämmerung aus dem Arauerhofe und wurde fast ebenso wie Euer Gotthard zugerichtet … Wisst – ich muss Euch's nur sagen: solange die Luzia nicht verheiratet ist, vertragen gar viele Burschen keine Aus- und Eingang beim Arauer!«

Der Adlerwirt fuhr davon und dachte:

»Wie gut, dass mein Heinrich bei Zeiten alle Gedanken auf diesen schöne Bissen aufgegeben hat!«

Der alte Dasselherr war nicht in der Lage, etwas so Tröstliches denken zu können; er blieb wie selbstvergessen stehen, seine ganze bewusste Haltung von früher war eingebüßt, er dachte an seine Ahnungen und Befürchtungen bezüglich der Absichten seines Sohne auf die Luzia und sagte dann betrübt zu dem Nachbarn, indem er weiter ging:

»Meinen Sohn misshandelt! In dunkler Nacht! Nachbar, Nachbar – was erlebt ein Vater nicht an seinen Kindern!«

Aber seine Betrübnis sollte bald der jähen Überraschung einer mit Schrecken gemischten Verwunderung weichen.

Denn kaum hatte er den Nachbarn verlassen und wollte auf dem kürzesten Wege zwischen den Gartenzäunen seinem Hofe zuschreiten, als er den Arauer, einen Einspänner selbst kutschierend, das Dorf herauf fahren und dem Dasselhofe zulenken sah; im Wagen saß, schön wie immer und sorgfältig, aber ohne Übertreibung gekleidet – seine gefürchtete Tochter Luzia!

Wäre der alte Dasselherr ein Mann von Energie und Behändigkeit gewesen, er würde getrachtet haben, den Dasselhof früher als der Arauer zu erreichen, um den Besuch, mochte er mit welchen Absichten immer erscheinen, zu empfangen und unschädlich zu machen; aber beide Eigenschaften mangelten seinem Alter umso mehr, als sie seiner Jugend selbst nie eigen gewesen waren.

Daher war es dem Schrecken und der Überraschung ein Leichtes, ihn einer untätigen Befangenheit zu überliefern, die ihn bald zu dem willkommenen Entschlusse brachte, den Besuch weder zu hindern, noch zu empfangen, sondern überhaupt, solange derselbe im Hofe vorsprach, ganz und gar zu vermeiden!

»Ich will mit dieser Familie, die am Unglück meines Sohnes schuld ist, nichts zu schaffen haben!« rief er mit künstlich erregtem Zorne, und zwischen den Gartenzäune auf- und abschreitend: »Finden sie meinen Sohn krank und mich nicht zu Hause, so werden sie schon selbst machen, dass sie wieder fortkommen!«

Es wurde ihm bald förmlich wohl in dieser künstlichen Aufregung, er sah in seinem Fernbleiben eine feine Berechnung und eine männlich-würdige Entschließung, und ohne sich weiter die Mühe zu geben, dem Wagen des Arauers auch nur mit den Augen zu folgen, setzte er mit gekreuzten Armen und großen Schritten seinen Hin- und Hermarsch zwischen den Gärten fort und malte sich das Misslingen des Besuches und das folgende, verdrießliche Auf- und Davonfahren namentlich der Luzia mit einiger Schadenfreude aus.

»Einmal und nicht wieder sollen sie dagewesen sein, die unbändige Tochter mit ihrem kindischen Zappeleyvater!« dachte er.

In dieser Weise fuhr er denn noch lange und lebhaft zu denken und zu agitieren fort, bis er den Besuch auf dem gewünschten Rückzug vermutete.

Allein wie groß war sein Erstaunen, als er gewahrte, dass der Wagen des Arauer immer und immer noch nicht wieder zum Vorschein kam und die wunderlichen Gäste nicht entführen wollte. Da musste also doch ein unvorhergesehener Umstand eingetreten sein, und Gotthard musste den Besuch trotz seines Unwohlseins dennoch angenommen haben, oder der Arauer mit seiner Tochter beharrten mit verstockter Kühnheit darauf, nicht freiwillig vom Platze zu weichen!

In beiden Fällen schien dann die Anwesenheit des alten Dasselherrn wichtig und dringend, und nicht ohne Fassung und Würde näherte sich derselbe jetzt dem Hofe, um ein ernster und willkommener Beistand des Sohnes zu werden.

Indessen schienen sich auch ohne den alten Dasselherrn die Umstände ziemlich freundlich gestaltet zu haben.

Im inneren Raume des Dasselhofes stand das Pferd des Arauers nicht mehr vor dem Wägelchen, sondern war abgespannt und in den Stall geführt – ein Zeichen, das auf keine kurze Dauer des Besuches und auf keine unfreundliche Aufnahme desselben im Hause schließen ließ. Alsbald sollte noch ein zweiter Umstand den alten Dasselherrn nicht wenig überraschen und betroffen machen; – die Luzia trat soeben Hand in Hand mit Beaten auf die Haustürschwelle des großen Wohngebäudes und sagte deutlich genug, dass es der Alte hören konnte:

»Nicht so, liebe Beate, Deine Mutter soll nicht zu uns herüberkommen, wir selber gehen zu ihr!«

Die Stimme klang milde und gut, und die ganze Erscheinung zeigte nichts von jener straffen, übermütigen Haltung, welche sonst so viel zu Luziens bedenklichem und gefährlichem Rufe beigetragen hatte.

Der alte Dasselherr blieb unbeweglich am Eingang des Hofes stehen und sah mit Staunen, wie Luzia, schön und sanft, wie ihm noch kein weibliches Wesen erschienen, mit Beaten nach dem kleinen Nebenraum ging, um seinem Weibe einen freundlichen Besuch zu machen.

»Wo ist der Arauer? Ist er wirklich bis zu meinem Sohn in die Kammer gedrungen? Verhandeln sie so Wichtiges und Vertrauliches, dass sie gar keine Zeugen brauchen können, nicht einmal mich, den wohlmeinenden Vater?«

Ein Gefühl von Zurücksetzung überkam den alten Mann bei diesen Gedanken, und er war versucht, sich wieder ganz zu entfernen; allein eine wachsende Neugierde und die gekränkte väterliche Würde drängten zu dem Entschlusse, sich, wozu er ein natürliches Recht fühlte, zwischen einen Fremden und seinen Sohn zu stellen und zu sagen:

»Was soll es hier? Bin ich der Niemand mehr in diesem Hause?«

Mit entschiedenen Schritten näherte er sich also der Haustürschwelle des großen Wohngebäudes, trat über dieselbe, suchte die unterhandelnden Mächte erst in der großen Stube, dann in dessen geliebtem Hinterstübchen, dem geheimnisvollen Denk- und Studierraum des jungen Hausherrn.

Da die Türe nicht geschlossen, sondern nur leicht zugelehnt war, so trat der alte Dasselherr nicht sogleich hinein, sondern wollt erst hören, worüber beide Männer verhandelten. Zu seinem Staunen und Entsetzen merkte er aber bald genug, dass Gotthard mit dem Arauer ruhig und bestimmt über nichts Geringeres verhandelte als – die beschlossene und in allen Teilen bereits festgesetzte Heirat zwischen Gotthard und der Luzia!

Mehr der Schrecken als der Mut trieben jetzt den alten Dasselherrn an, in das Stübchen zu treten und sich in die Unterredung zu mischen. Allein statt als unberufener Dritter aufgenommen zu werden, schien er den beiden Unterhandelnden gerade recht zu erscheinen; der Arauer erhob sich seiner beweglichen Art gemäß lebhaft und reichte ihm freudig die Hand; Gotthard aber, der vollständig angekleidet auf einem Stuhle sitzen blieb, sagte lächelnd:

»Ihr kommt gerade recht, Vater, eben hab' ich nach Euch schicken wollen.«

Dann wendete er sich zum Arauer, um ihn zu bitten, dass er auch »die Übrigen«, d. i. Luzien, Beaten und die Mutter kommen lasse, und zu seinem Vater sagte er:

»Bleibt! Wir haben vieles abzureden!«

Der alte Dasselherr blieb also und setzte sich gespannt und ernsthaft seinem Sohne gegenüber, worauf Gotthard eine Reihe von Mitteilungen machte, welche nicht nur einen tieferen Einblick in das Leben des merkwürdigen Sohnes verschafften, sondern auch die nötige Aufklärung gaben, um die Wichtigkeit und Möglichkeit der sonst unbegreiflichen und eben erst beschlossenen Heirat zu begreifen … Wir benützen einige dieser Mitteilungen, um wenigstens ein flüchtiges Bild des Feldzugs aufzustellen, den Gotthard entwarf und ausführte, um Luzien zu bändigen und als Siegespreis endlich in seine Behausung einzuführen …

 

Ende des ersten Teils

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