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Fünftes Kapitel.
Im Kleid der Demut – doch ein Mann

Am nächsten Morgen sah die junge Frau Eichrodt, als sie eben ihre Blumen im Fenster begoss, einen Mann in Volkstracht an dem Hoftor sitzen, der, seinen Kopf in die rechte Hand gelegt, trüb und schweigend vor sich nieder blickte.

Anfangs achtete sie wenig auf diese Erscheinung, da es ja nicht selten vorkam, dass Verschämte oder Furchtsame, die bei ihrem Manne Hilfe suchen wollten, in dieser Lage stundenlang verharrten; als sie aber, an ein zweites Fenster tretend, das Gesicht des jungen Mannes schärfer in das Auge fasste – da erblasste sie und blieb wie angewurzelt stehen.

»Ist das nicht Gotthard, der junge Dasselherr?« sagte sie, und ihr Herz quoll auf vor Wehmut; – »er ist es«, fügte sie hinzu, da ein zweiter Blick bestätigte, was sie gesehen.

Ihre Wehmut drängte nach dem Halse, nach den Augen, die Tränen rollten über ihre Backen, sie musste zitternd niedersitzen.

»Mein Gott, mein Gott«, sagte sie halblaut und wagte kaum mehr aufzublicken; wie ein rasch vorüber ziehendes Panorama rückte Bild um Bild aus ihrem Jugendleben vor ihr Auge – welcher Abstand damals und jetzt, welch' ein greller Wechsel des menschlichen Glückes!

Agathe – so hieß Frau Eichrodt – war von Hause aus arm, ihre Eltern hatten vom Tagelohn gelebt und wohnten einst nicht weit vom Dasselhofe. Sie hatte noch die Glanzperiode dieses Hofes gesehen und war voll jenes Respekts aufgewachsen, der arme Leute reichen Familien gegenüber oft erfüllt. Doch hatte dieser Umstand nicht gehindert, dass Agathe als Kind in freundliche Beziehung trat zum jüngsten Knaben des Dasselhofes, im Spiele mit ihm wie mit Ihresgleichen verkehrte, bei Wanderungen in die Schule seine Begleiterin war und auch später noch, als die Jahre und Rücksichten des Standes und Vermögens immer mehr auf Scheidung drangen, eine Beziehung bewahrte, die man warme Neigung nennen durfte. Ernst und zurückhaltend, wie Gotthard schon in früher Jugend war, verhielt er sich auch dieser Freundschaft gegenüber maßvoll, nur besondere Gelegenheiten wie beim Tanze, rissen ihn zu Äußerungen hin, die nur der Liebe eigen sind.

Es ist das Glück und das Vorrecht der Jugend, sich Träume als Wahrheit und Wünsche als erfüllt zu denken und so eine Welt von stillen Freuden zu erschaffen – bis die Wirklichkeit ihr Recht verlangt und rasch mit rauer Hand dazwischen fährt; aber das Traumgebild eines schönern Lebens hat doch einen Zweck erfüllt: es hat das Herz erquickt und hat das Paradies gebildet, aus dem die ernsteren Jahre nur zu oft vertreiben.

Auch Agathe machte von dem Recht zu träumen reichlichen Gebrauch; es dünkte ihr möglich, dass der jüngste Sohn des Dasselhofes, in seiner Liebe nicht beirrt wie etwa Erbnachfolger, künftig sie erwählen könnte; in diesem Glauben dachte und lebte sie noch, als Gotthard still und stiller wurde, sich mehr und mehr von ihr zurückzog und die raue Wirklichkeit sie endlich herzlos, hoffnungslos umstarrte.

Agathens Eltern waren alt und krank geworden, ihrer Hände Arbeit musste ruhen, die Tochter allein war nicht im Stande, sie zu nähren, und die Not erschien an allen Ecken.

Agathe war aufgeblüht, war schön geworden, und diese Schönheit war es, welche außer vielen Herzen auch das Herz des reichen Eichrodt rührte; in der Hoffnung, diese frische Rose in sein Haus zu pflanzen, ward er warm, ja drängend und von den Bitten und Leiden der Eltern unterstützt, brachte er seinen Liebesantrag bei dem Mädchen an. Anfangs überrascht, ja empört über des bejahrten Manne Werbung, ward sie endlich dennoch mürbe gemacht, und da sich Gotthard streng zurückhielt und sie durch keinerlei Versprechen an sich zog – gab sie endlich nach und reichte Eichrodt ihre Hand.

Agathe hatte damals gedacht, Gotthards Betragen sei schließlich doch aus Familienstolz entsprungen, er habe sich nach und nach der Jugendneigung geschämt und neben andern stolzen Plänen eine reiche Heirat in den Sinn genommen; ein tiefer Schmerz, der bald in Zorn, ja Hass überging, ergriff das Herz Agathens, und Gotthards Anblick empörte sie noch lange. Als aber kaum ein Jahr nach ihrer Heirat die Lage des Dasselhofes bekannter wurde, der Fall des Hauses unvermeidlich schien und Agathe von dem eigenen Mann erfuhr, dass er das Los des Dasselherrn in Händen habe, da mäßigte der Widerwille sich, das Hassen ging in Mitleid, der Zorn in Wehmut über, es schien ihr nicht unmöglich, dass sich Gotthard darum nur von ihr zurückgezogen, weil er die Lage seines väterlichen Hauses kannte und sie nicht auch in den Ruin desselben stürzen wollte. Deshalb verfolgte sie von jetzt an das Schicksal des Dasselhofes mit Spannung und Unruhe, ließ sich von ihrem Manne genaue Auskunft geben, was zu hoffen und zu fürchten sei und hörte umso mehr mit dem Gefühl der Sorge, dass Gotthard den Dasselhof erhalten, als die Verwunderung ihres Mannes den Fall desselben unabwendbar nach sich ziehen musste.

Da tritt sie heute an das Fenster und sieht den einstigen Geliebten an dem Tore sitzen, gebeugt und schweigend, das Herz von Sorgen schwer: denselben Mann, der einst beim Tanze sie mit Übermut geschwungen, sendet jetzt den Blick vor ihr zu Boden, während sie, die arme Tochter bitterarmer Eltern, umgeben von Gut und Ansehen, auf den Herrn des Dasselhofes niederblickt.

»Was er will? Was kann er wollen?« ist die Kummerfrage ihres Herzens.

Nur die äußerste Bedrängnis kann ihn so vor ihre Türe führen, er will um Schonung seines Hofes bitten, und der Stolz des Herzens wehrt sich noch dagegen; er soll einen Mann um Schonung bitten, den er sicher hasst, in Gegenwart der einstigen Geliebten soll er bitten – und wahrscheinlich ganz und gar vergebens!

»Wünscht er, dass ich ihn so sehe? Fürchtet er's? Lass ich ihn bitten, in das Haus zu kommen?«

Diese Fragen legte sich Agathe eben vor, als sie wieder durch das Fenster blickte – und Gotthard sich erheben, noch einen Augenblick zu Boden sehen und gebeugt von dannen gehen sah …

Er hatte es also nicht über sich vermocht ins Haus zu treten; – unterließ er es aus Stolz? Aus Weh? Aus Scham?

»Hat er erwartet, dass ich ihn so sehe, freundlich frage, ihm beizustehen verspreche? … Wie lange ist er kummernd an dem Tor gesessen?«

Über letztere Frage erhielt Agathe unerwartet Antwort.

Brigitte, ihre Jugendfreundin, jetzt ebenfalle in Deubach verheiratet, hatte den Gotthard an ihrem Fenster vorübergehen und vor dem Hause Eichrodts hinsitzen sehen. Bekannt mit der Liebe ihrer Freundin, gerührt von dem Anblick des »jungen Herrn« in Bauerntracht und erratend oder wissend, was den einstigen Geliebten vor das Haus des Eichrodt führte, hatte sie erwartet, Agathe würde diesen nicht wie viele andere vor dem Hause sitzen lassen, ohne ihn zu fragen und ihm beizustehen; allein mit Wehmut sah sie eine volle Stunde den armen Mann gebeugt da sitzen, von niemand beachtet, von niemand befragt und eingeladen, in das Haus zu kommen.

»Hast Du ihn nicht gesehen, Agathe?« rief die Freundin, in das Zimmer tretend: »Der Gotthard war da und wie elend sah er aus! Eine ganze Stunde saß er draußen an dem Tore!«

»Eine ganze Stunde?« erwiderte Frau Eichrodt und musste wieder sitzen: »Mein Gott, ich sah ihn kaum erst, da er wieder ging!«

»Hör' Agathe«, rief Brigitte, frischweg Rat erteilend: »Den Gotthard darfst Du nicht behandeln lassen wie die anderen; da musst Du Deinen Kopf aufsetzen und Dein Männchen coram nehmen, Dein Männchen, mit Verlaub, ist ein Geizhals, das ist Dir bekannt wie allen; Dein Männchen hat's auf Gotthards Haus und Hof gemünzt, ich weiß es, dass er alle Schulden angekauft, den Hof in seine Tatzen kriegen will. Seit der Blasi ihn bei Nacht und Nebel abgefangen, ist er ganz und gar des Teufels! Aber, frag' ich: Was geht der brave Gotthard Deinen Geldprotz an? Warum will er ihn bestrafen, der ihn nicht beleidigt, den um alles bringen, der ja seine Schulden zahlen wird? Agathe, nehm' Dein bisschen Christenliebe zusammen, rette ihn, wenn auch so vielem nicht zu helfen ist; dass Dich der Gotthard nicht zum Weib genommen, willst Du ihm's verübeln? Siehst Du nicht, warum er gar nicht konnte? Er und dieses Elend und noch eine Frau dazu! Drum frischweg – Tag und Nacht setz' Deinem Alten zu, dass er dem Unheil abgebiete, den Gotthard wirtschaften lasse, bis sich zeigt, ob er das Unglück übermeistert; kann er's nicht, so ist ja immer Zeit, den Hof in Gant zu bringen!«

Agathe erholte sich, ergriff den Vorschlag wirklich mit dem ganzen Herzen und versprach, wenn Gotthard wieder vor dem Haus erschiene, ihn rufen zu lassen und ihm ihre Hilfe zuzusagen …

Indessen hatte Gotthard die Richtung nach Mängelheim eingeschlagen und zeigte, je weiter er von Eichrodts Hause kam, in Gang und Haltung immer straffer jene Haltung, die man selbstbewusst und männlich nennt.

Vor einem kleinen Haus am Ende Deubachs blieb er stehen, klopfte an ein Fenster und sagte einem alten Manne, dessen Kopf sich zeigte:

»Wicker, habt Ihr Zeit und könnt Ihr morgen zu mir kommen? Ich habe Arbeit – und auch manches noch mit Euch zu reden.«

»Wohl, Herr Gotthard …«

»Kommt früh und für den ganzen Tag …«

»Ist recht … Wie seid ihr mit meinem Burschen, Euerm Knecht zufrieden?«

»Ich will Euch's morgen sagen.« Damit entfernte sich Gotthard.

Als er in Mängelheim ankam und einige Häuser hinter sich hatte, sah er seinen Vater an dem Tores eines Hofes stehen und vernahm, wie er den Leuten bitter klagte über seine Leiden; nach seinen Worten litt er förmlich Hunger, wurde er wie ein lästiger Gast im Hause behandelt, es sei schon ernstlich sein Gedanke gewesen, ob er nicht besser täte, in seinen alten Tagen noch in die Welt zu gehen und Arbeit zu suchen oder einen Bettelsack zu nehmen; nie habe er gedacht, unter seinen Kindern einen solchen Strafsohn, einen solchen Bedrücker seiner armen alten Tage zu haben wie dieser Gotthard, dem er alles, alles hingegeben! Undank, Härte, Missachtung – Furcht vor noch größeren Leiden – ja, das sei sein Los am Endes seines Lebens!«

Gotthard ging stille vorüber und schlug einen Umweg ein, um die Unterredung nicht zu stören.

Als er zu Hause erschien, kam ihm die Schwester mit der Nachricht entgegen, dass die jüngste Magd und der Oberknecht den Dienst gekündigt haben.

Gotthard hörte die Nachricht ruhig, ein leichtes Krausen der Stirne zeigte an, wie unlieb ihm die Nachricht sei.

»Es ist gut, sie mögen gehen«, sagte er und ging an seine Arbeit …

Am nächsten Morgen erschien das Gesinde beim Frühstück und wollte sich wie üblich an den Tisch hinsetzen, als der junge Hausherr vortrat und sagte:

»Haltet an, Ihr da!«

Knecht' und Mägde blieben stehen und sahen verwundert drein.

»Bis gestern ist es Sitte gewesen«, fuhr er fort, »dass der Hausherr nicht mit Euch zu Tische saß; von heut' an werde ich bei Eich zu Tische sitzen, wie bei Eurer Arbeit sein. Wo aber der Hausvater mit zu Tische sitzt, ist's landesüblich, dass zuvor gemeinsam des höchsten Herrn gedacht, ein kurz Gebet verrichtet werde; lasst uns auch desgleichen tun!«

Und vortretend begann er ein kurzes, kräftiges Tischgebet, dem das Gesinde nur mit gefalteten Händen zuhörte, worauf er das Gebet des Herrn folgen ließ, an dem sich alle beteiligten.

Nach der Andacht nahm Gotthard Platz am Tische, aß dieselbe Kost, die für die Leute aufgetragen wurde und würzte sie durch angenehmes Tischgespräch; nach dem Essen wurde dem Herrn ein kurzes Dankgebet gebracht, und man konnte merken, dass die Leute nicht so schlaff wie sonst an ihre Arbeit gingen.

Ebenso würdig wurde der Mittagstisch begonnen und beendet und nach der Abendsuppe folgte überdies ein kurzes Nachtgebet, das alle kniend verrichten mussten.

In Wahrheit wollte diese neue Sitte dem Gesinde nicht so ganz behagen; die Andacht wurde früher dem Belieben eines jeden überlassen, und bei Tische ging es frech und ungeordnet her; allein die Gegenwart des neuen Herrn, der bei Tische liebenswürdig war und durch Gespräche unterhielt, machte doch bald einen guten Eindruck; dazu kam ein Umstand, welcher bald noch mehr anzog.

Wenn es sonst im Dorfe üblich war, das Gesinde abends ganz sich selbst zu überlassen, so führte der neue Dasselherr die Ordnung ein, dass er, sobald das Nötige getan war, an den großen Ecktisch hinsaß und – erzählte; auch aus dieser neuen Ordnung schöpfte das Gesinde anfangs kein Behagen, es riss, sooft es anging, aus; allein der Inhalt des Erzählten, die klare und angenehme Art des Vortrages wichtiger Begebenheiten, zog doch mehr und mehr an, endlich blieb denn das Gesinde gerne und auch manche Nachbarn stellten sich als Hörer ein.

Wie von selbst erhob sich so der Dasselhof zu einem Mittelpunkt der Achtung, und das Gesinde, kürzlich unwirsch und nach neuem Dienste lüstern, blickte bald mit Stolz auf seinen neuen Herrn.

In dieser Hinsicht traf denn auch der Wicker seinen Sohn, den Oberknecht, empfänglich, ferner bei den Dasselherrn zu bleiben.

»Hier dienst Du einem Mann, der mehr wert ist als Dutzende von andern, hier lernst Du was und zieh'st auch Lohn und Kost für Geist und Herz«, sagte er eines Tages.

»Ich will auch wieder bleiben«, sagte der Sohn bereuend, dass er aufgekündigt, »wüsst' ich nur, ob er mich haben will?«

»Lass' mich das machen«, entgegnete der Wicker und sprach für seinen Sohn bei Gotthard vor.

Gotthard hatte den Wicker deshalb oft in Tagespflicht genommen, um den frommen Alten für die Sitte seines Hauses zu gewinnen und so zu bestimmen, dass er ihm den Sohn im Dienst erhalte; er hatte diese Absicht nun erreicht und nahm die Bitte, den Oberknecht noch ferner zu behalten, scheinbar widerstrebend an; da nun, wie Gotthard wusste, zwischen Wickers Burschen und der jüngsten Dienstmagd stille Neigung herrschte, so bat sofort auch diese um Verbleiben in dem alten Dienst.

So bescheiden dieser Triumph auch war, so bewies er doch, dass Gotthard im Kleinen wie im Großen seine Ziele zu erreichen wusste, hier durch stille, unscheinbare – dort durch grelle und oft schmerzliche Mittel …

Es ist eine weithin verbreitete Ansicht, dass es bei einem Menschen auf das Genie allein ankomme, um über alles, was zu wichtigen Erfolgen im Leben führe spielend zu verfügen; man ist zu dieser Ansicht durch die Beobachtung gekommen, dass den genialen Menschen eben alles, was sie unternehmen, rasch und leicht gelingt, dass sie von Natur mit einem Scharfsinn und einer Sicherheit zu handeln ausgestattet sind, die es ihnen möglich machen, eine Absicht mühelos durchzusetzen, die für andere kaum auf langen Umwegen des Fleißes und der Erfahrung ausführbar ist. aber man vergisst oder weiß nicht, dass die Gabe des Genies ohne Fleiß und Erfahrung eher eine schädliche als nützliche Gabe ist und leichter vom sicheren Wege abführt, als die recht Straße finden lässt; daher haben auch alle Genies, die je ein Leben voll unvergänglicher Taten geführt, Kenntnisse und Erfahrung als ihre besten Freunde und Führer aufgesucht und einen festen Charakter als ihren wahren innern Halt betrachtet.

Um dieses auf den jungen Dasselherrn anzuwenden, so muss berichtet werden, dass es nicht nur Trieb genialer Anlage war, was ihn so auffallend und sicher handeln ließ, sondern dass er lange her mehr an Erfahrung und Wissen gesammelt hatte, als jemand ahnte.

Wie erwähnt, hatte Gotthards Vater einige Schulen als Student durchlaufen und war dann auch als Dasselherr noch immer mit gebildeten Beamten und Geistlichen in Verbindung geblieben; um sich als »Ökonom« im Großen auszubilden, hatte er teils von seinem Vater, dem Bürgermeister, alle Bücher mitgenommen, die ihm für seinen Zweck verwendbar schienen, teils kaufte er später, um den Herren, mit denen er umging, seine Wissbegier zu zeigen und über alles wenigstens mitreden zu können, viel, mitunter wertvolle Bücher, die Aufklärung und Nutzen verbreiteten; allein die ersteren blieben wenig beachtet auf dem Bücherbrette stehen, und die Letzteren lagen,nur hie und da ein wenig aufgeschnitten, im Winkel einer Dachkammer und behielten ihre stumme Weisheit ganz für sich allein. Erst dem jüngsten Sohne Gotthard war es vorbehalten, aus der stillen Dachkammer eine heimliche Studierstube zu machen und im Laufe einiger Jahre die Geistesfrüchte sorgsam aufzulesen, welche der Vater unbeachtet ließ; der Genuss an dieser heimlichen Bereicherung des Geistes war auch jetzt noch ein Bedürfnis für den jungen Dasselherrn, und so saß er jede Nacht, wenn in seinem Hause alles schlief, mit tiefem Ernste über einem Buche, das ihm nützlich oder anregend war.

In so einsames Studium war er wieder einmal bis nach Mitternacht versunken, als er sich erhob, sein Lager aufzusuchen.

Der Mond war aufgegangen und beschlich mit klarem Scheine Gotthards Kammer. Dieser Umstand bewog ihn, noch einmal das Haus zu verlassen und mit Wächterblick die Ruhe und Ordnung in dem Hof zu prüfen.

Ein leises Geräusch, das er hörte, machte ihn aufmerksam; das Geräusch kam von der leise geöffneten Stalltüre her, und er trat in einen Winkel zurück, um das, was im Zug war, nicht zu stören.

Es dauerte nicht lange, so kam eine weibliche Gestalt zum Vorschein und schlug die Richtung nach dem Nebenbaue ein; da sie aber an der Haustür vorüber musste, so konnte Gotthard die Gestalt ganz in der Nähe sehen und im Mondlicht bald erkennen; – die Schwester war es, welche verstohlen an ihm vorüber wollte, einige Gegenstände ängstlich in der Schürze führend.

Ahnend, dass sie sich durch Mitleid mit der Lage der Eltern habe verleiten lassen, diesen allerlei aus seiner Wirtschaft zuzutragen, trat nun Gotthard rasch hervor, sagte streng betonend: »Schwester!« und fasst heftig ihren Arm.

Vor Entsetzen und Schmerz, entdeckt zu sein, blieb die Arme wie versteinert stehen und brach in Tränen aus.

»Schwester«, sagte Gotthard nach einer Pause: »Du hast die Prüfung nicht bestanden; – auch genommen wird mir noch und von der eigenen Schwester?«

Beate fiel auf die Knie und sagte zerknirscht:

»Ein Weniges wollt' ich meiner Mutter bringen, ein Weniges, Bruder, Dir wär' es unbemerkt geblieben, und ihr wäre der Kummer gelindert! Aber ich seh', Du bist gekränkt, Gotthard, verzeih' mir, Bruder, verzeih' und vergiss – ich werde stark sein, werde nicht mehr fehlen!«

Gotthard hatte ihren Arm mit Heftigkeit umklammert, er ließ ihn langsam wieder los, sein Auge starrt noch zornig-leuchtend. Nach einer Pause trat er zurück, sagte kein Wort der Verzeihung, bot auch keine »gute Nacht« und zog sich in das Haus zurück, die Türe langsam hinter sich verschließend …

Nächsten Tages war zu Hohengant Jahrmarkt und Eichrodts Frau fuhr in ihrem hübschen Einspänner dahin, um allerlei an Hausgeräten einzukaufen; als sie gegen Abend wieder heimkam, hörte sie – der junge Dasselherr sei dagewesen und über eine Stunde wieder schweigend und gebeugt am Tor gesessen.

Eichrodt selbst, der zu Hause gewesen, erzählte seiner Frau diesen Vorfall und füge mit Behagen hinzu, er habe den stummen Mann sitzen und kummern lassen, da ihm ja ohnehin nicht zu helfen sei und nächster Tage alle Schritte getan sein würden, dem jungen Herrn das Vaterhaus überm Kopf weg zu verkaufen.

Frau Eichrodt hörte diese Nachricht mit Erschütterung, benützte aber den Augenblick nicht sogleich, ihrem Herzen Luft zu machen; sie brachte erst die vom Markt gebrachten Gegenstände in Ordnung, überlegte dann bedächtig, wie sie, die schwachen Seiten ihres Mannes benützend, den Feldzugsplan beginnen solle, als nach einer Weile die Zimmertüre aufging und Brigitte, Agathes Freundin hereintrat.

»Du kommst mir gerade recht«, sagte Frau Eichrodt zu der Freundin: »Du kannst mir beistehen, wenn ich meinem Mann jetzt zusetzen werde; – denk' – oder weißt Du's schon, Brigitte? Er, der Gotthard ist wieder da gewesen!«

»War da«, sagte Brigitte, »und ging wieder fort, da kein Mensch auf ihn achten wollte; – aber sein Unglück muss nicht mehr zu tragen sein – guck' hinaus, guck' hin – da ist er wieder, ist zurückgekehrt und sitzt am Tor, es ist ein Jammer, wie er aussieht!«

Agathe stieß einen leisen Schrei aus und blickte mit starren, nassen Augen auf den schwer gebeugten Mann, der wieder schweigend an dem Tore saß.

»Mach' aber tapfer jetzt, Agathe, und lass' ihn nicht zum dritten Mal vor Deiner Tür – oder ich muss glauben, Du hast kein Herz und keinen Mut für ihn«, rief Brigitte.

Agathe raffte jetzt alle ihre Kräfte zusammen, machte eine entschiedene Bewegung mit der Hand, fuhr sich dann über die Stirne und sagte:

»Bleib' da, Brigittle, ich rück' meinem Manne auf das Zimmer, ich will nicht mehr zuwarten und müsst' ich die Sache übers Knie brechen!«

Sie ging rasch aus dem Zimmer und Brigittle hörte bald darauf in der Ferne lebhaft reden; Brigitte selbst aber ging unruhig auf und nieder, knickte nachdenklich an den Fingern, sagte einige Male vor sich hin: »das tu' ich!« schlug entschlossen die Handflächen zusammen und erhob einen energischen Gedanken dadurch zum festen Vorsatz, dass sie sage:

»Wenn er nicht nachgibt, so bin ich das imstande, ich dreh' ihm das Herz im Leibe um mit dieser Nachricht!«

Nach diesen Worten trat sie an ein Fenster, öffnete es und hatte augenscheinlich die Absicht, Gotthards Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ein Zeichen der Aufmunterung zu geben; Gotthard aber blickte nicht auf und verharrte regungslos in seiner Stellung.

Jetzt kamen die Stimmen Eichrodts und seiner Gattin näher, und bald drauf öffnete sich die Tür und das Ehepaar trat ein.

Eichrodt, de seinen Kopf noch verbunden trug, sah halb überrascht, halb verdrießlich drein, ging ohne ein Wort zu sagen, auf das offene Fenster zu und blickte forschend hinaus.

»Da ist er wirklich wieder«, sagte er, an der Kopfbinde rückend, »es scheint jetzt doch, dass ihm nimer wohl ist bei der Sache!«

»Red' ihn an«, sagte seine Frau, deren Stirne hellauf glühte, »Du weißt, dass ich Dir nie in Deine Geschäfte rede; aber dieser Mann muss einen Stein erbarmen!«

»Erbarmen oder nicht erbarmen, in Geldsachen hat das Herz mit Nichten drein zu reden!« erwiderte Eichrodt, machte Miene, wieder umzukehren und das Zimmer zu verlassen.

»So willst Du den armen Menschen doch verderben?« sagte Agathe, deren Entschiedenheit immer straffer wurde.

»Verderben oder nicht verderben«, sagte Eichrodt, seiner Manier gemäß die letzten Worte des Gegners wiederholend: »Wenn sich die Verschwender selbst verderben, heißt das sie verderben wollen?«

»Aber Gotthard ist nicht schuld am Unglück seines Hauses, er wird das Schlimmste verhüten, seine Eltern retten und die Familie wieder zu Ehren bringen!«

»Ehren bringen oder nicht, daran kann mir wenig liegen. Das wär' so was für meine schadenfrohen Feinde: ich habe den Kopf voll Löcher von der Hand des Bruders und zum Danke soll ich dem da Lieb' und Güte erweisen?«

»Das soll man loben, das ist wacker, das ist christlich!«

»Christlich oder nicht christlich – hierin bin ich Türke«, erwiderte Eichrodt trocken und entfernte sich.

Agathes Aufregung verwandelte sich in bitterlichen Schmerz, sie brach in Tränen aus und sagte:

»Da hast's, Brigittle; alles ist umsonst, er hört nicht er versagt die Hilfe!«

»Das glaubst Du nur, Du musst nur stärker trumpfen! Fort! Im besten Weinen, wie Du bist, geh' nach, vergieße Tränen wie die helle Sündflut, knie auch einmal nieder vor dem goldenen Kalb; schrei, ring' die Hände, sag', Du wolltest sterben, davongeh'n, den Verstand verlieren – und wenn auch das nicht hilft, so komm' uns sag' mir's wieder – dann will ich selbst ein Wörtleien mit ihm reden!«

Agathe ging wirklich ihrem Manne nach, und ihre Unterredung dauerte jetzt länger als zuvor; Brigittle aber trat ans offene Fenster, rief den Gotthard leise an und winkte ihm ins Haus zu treten; doch Gotthard sah nur flüchtig auf, schüttelte den Kopf und blieb in seiner früheren Lage.

»Zum Verzweifeln!« rief die wackere Vermittlerin: »Er will keinen Fußtritt weiter tun und vom Eichrodt prallen alle Bitten ab!«

Sie hatte diese Worte kaum gesprochen, als im anstoßenden Zimmer die weinende Stimme Agathes heftig wurde und einen letzten Sturm zu wagen schien; allein auch dieser Sturm wurde abgeschlagen, und bald flog die Türe wieder auf, um die verzweifelte Eichrodt erscheinen zu lassen.

»Wirklich alles umsonst?« fragte Brigittle zornig und betroffen.

»Umsonst, umsonst!« sagte Agathe.

»Dann – dann will ich ihm sagen, dass Du und Gotthard vor Deiner Heirat einander lieb gehabt, dass Dein Herz wieder ganz zu ihm zurückkehrt, wenn Dein Ungeheuer ihm nicht helfen will!« rief Brigittle.

Aber schon machte eine bessere Wendung der Dinge diese äußerste Maßregel nicht mehr nötig.

Eichrodt hatte – sei es, um einem neuen Anlauf seiner Frau zu entgehen oder seinen warm gewordenen Kopf im Freien etwas abzukühlen, den Hut ergriffen und verließ unwirsch sein Haus; es konnte nicht in seiner Absicht liegen, indem er sich der Frau entzog, dem eigentlichen Gegenstand des Streites, dem jungen Dasselherrn, zu begegnen, deshalb wollte er auch quer über den Hof nach seinem Garten gelangen; allein in diesem Augenblicke erhob sich Gotthard an dem Tore und trat ihm ruhig selbst entgegen.

Es lag in diesem Entgegenkommen ein solches Maß von Ernst und Würde, dass Eichrodt trotz seiner Absicht, den Herankommenden nicht zu beachten, unwillkürlich stille hielt.

»Was gibt's? Was wollt Ihr? Ich habe Eile«, sagte Eichrodt dringlich und vermied einen festen Blick nach Gotthards Angesicht.

Gotthard rückte seinen Hut, sagte einen kurzen Gruß und äußerte, dass er gern mit Eichrodt reden möchte.

In der ganzen Art, wie Gotthard dastand, sprach und sich benahm, lag etwas Mild-Ernstes, ja fast Unterwürfiges, wogegen Blick und Mienen fest und männlich-frei erschienen; besonders der Blick war's, der auf Eichrodt Eindruck machte. Die Ehrenhaftigkeit und Kraft des Auges war mit einem geheimnisvollen Etwas gepaart, das ein böses Gewissen, wie Eichrodts, leicht gefährlich finden konnte.

Warum sollte auch der jüngste Sohn des Dasselhofes nicht ebenfalls wie sein älterer Bruder, ja noch gründlicher als dieser, Rache nehmen können, wenn Eichrodt ihn von Haus und Hof vertrieb, ohne es auch nur auf eine Probe ankommen zu lassen, ob er Kraft und Glück genug besitze, das herabgekommene Gut aufs Neue emporzubringen?

Vielleicht war es gerade diese stille Betrachtung, welche Eichrodt veranlasste, einige Male bedenklich im Auge des jungen Mannes zu forschen und endlich ruhig und verdrießlich zu sagen:

»Nun gut; ich will einen Augenblick verziehen – kommt herein!«

Gotthard folgte diesem Winke ruhig wie zuvor, beide traten in ein entlegenes, für vertraute Geschäftsbesprechungen bestimmtes Zimmer, und Eichrodt schloss sogar die Türe hinter sich.

Eine lange, geheimnisvolle Unterredung folgte, und sie schien im Ganzen ziemlich ohne Leidenschaft geführt zu werden; nur einmal hörte die Frau Eichrodt, welche blass vor Erwartung und horchend an die Türe trat, ihren Mann etwas heftig werden, worauf sich Gotthards Stimme in einigen so entschieden, durchdringenden Donnerworten vernehmen ließ, dass nach einer, wahrscheinlich entscheidenden Pause, die Besprechung wieder ruhig, ja vertraulich fortgeführt wurde …

Eine Stunde mochte die geheime Unterredung gedauert haben, als die Türe des Besprechungszimmers wieder aufging, beide Männer sich heraus begaben, sich die Hände reichten und aus einigen Worten merken ließen, dass sie einverstanden seien; Gotthard trat allein vor das Haus, und ein tiefer Atemzug, so tief als je nur einer eine Menschenbrust erleichtert hat, hob seine Brust.

Als er nach dem Hoftor zuging, hörte er in einem offenen Fenster leise schluchzen; er blickte auf und sah Agathes Angesicht in Tränen schwimmen.

Wehmütig nickte er der einstigen Geliebten zu und sagte:

»Dank, Agathe!«

Dann ging er weiter und schlug die Richtung nach dem Hause ein, wo Brigittle wohnte; sie war ihm vorausgeeilt und harrte seiner unter einem Apfelbaume.

»Dank, Brigittle«, sagte er auch dieser, indem er ihr die Hand reichte: »Dank, Du hast die Sache gut gemacht!«

Sie hatte also auf seine Anregung hin gehandelt, als sie Agathe und durch diese auf Eichrodt weiter wirkte. Und sie durfte sich sagen, dass sie Großes, Entscheidendes erzielen half, denn jetzt erst war Gotthard Dasselherr, da Eichrodt sich entschlossen hatte, den Gantantrag zurückzunehmen und sich mit Interessen und mähligen Abschlagszahlungen zufrieden zu geben …


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