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Achtes Kapitel.
Ein Treffen und dessen Folgen

In Wengern hatte das Volk indessen seine Stellungen nach Wunsch und Bedürfnis eingenommen.

Da in der großen, neuen Kirche vor Beginn des Gottesdienstes das Brautpaar aus Irmenau eingesegnet wurde und diese Feier außer den Angehörigen und Gästen auch viele Neugierige herbeizog, so war die Kirche früher als sonst von Besuchern besetzt.

Außerhalb der Kirche und ihr zunächst hatten sich die Auswanderer vollzählig aufgestellt, den doppelten Vorteil erwägend, dass sie hier den Eingang in die Kirche am nächsten hatten und vor Beginn des Gottesdienstes noch mit Freunden und Bekannten wohl und wehe verkehren konnten.

Links und weiter abseits von der Kirchentüre trieb um einige Burschen, die mit geladenen Pistolen das Ende der Einsegnung abwarteten, um ihre Festschüsse abzufeuern, einige zahlreiche Versammlung reifer und unreifer Jugend bunt und unruhig wie immer, hin und wieder; in der Verlängerung dieser Richtung, gegen das Schulgebäude hin, befand sich der größte Teil des weiblichen Geschlechtes, das gleichsam die Verbindung mit dem Männervolke nicht ganz verlieren wollte, welches vom Schulhause rechter Hand gegen die Schänke hin seine Sammelpunkte hatte und so zwischen sich und der Kirche jenen wichtigen Raum offen ließ, der an Sonn- und Festtagen mit Verkaufsbuden besetzt war und dem unruhigsten Teil der Anwesenden, welche einkaufen oder gerne alles sehen und hören wollten, zum Tummelplatze diente.

Waren heute wegen des ungewöhnlichen Zusammenströmens alle diese Stellen zahlreicher als sonst besetzt, ja überfüllt, so galt dies bald auch von einer Stelle, die wegen ihrer schattigen Kühle sonst ohnehin stets gut besetzt war; es war dies die Stelle unter den vier Linden mit dem großen Heiligenbilde aus Stein.

Hier hatte sich frühe eine Auswahl junger und zum Teile fremder Männer eingefunden, die man weder zu stören, noch unberufen zu vermehren wagte; zu dieser anfangs nur geringen Anzahl gesellten sich jetzt, da der schulterngewaltige Barther aus Glanthal in Spitzhut und Tiroler Jobbe unter die Linden trat, rasch und lärmend viele und verwegene Gesellen, die sich damit als Anhänger und Parteikämpfer des Robblers erkläreten.

Dies veranlasste eine lebhafte Bewegung in der Nähe und rief auch die offene Gegenaufstellung der Feinde hervor.

Diese geschah den Linden gegenüber, an der Wand des goldenen Rössleins hin, man konnte sagen, in zwei Treffen.

Obwohl die Stellung rasch und zahlreich eingenommen wurde, so war sie doch den Gegnern keineswegs gewachsen, da sie diesen lange nicht an Stärke gleich kam und weder in Miene noch in Gebärden dieselbe Verwegenheit zeigte. Das Wagnis dieser Parteistellung schien umso bedenklicher, als sich immer noch kein Führer sehen ließ, der auch seinen Leuten Mut einflößen und ihre Streithaufen noch im letzten Augenblick verstärken konnte.

So standen die Dinge kurz vor neun Uhr, als von der Mahlmühle herauf das Gefährt des Aarauer stolz und langsam näher kam.

In dem Wagen saß der lange, grämlich-hagere Aarauer neben seiner hochgewachsenen, üppigen und blendend schönen Tochter, deren Anzug der kleidsamen Tracht hessischer Landmädchen ähnlich war; ihnen gegenüber hatte eine bejahrte Base Platz genommen, und den Wagen lenkte ein breitschultriger, sehr phlegmatisch aussehender Knecht.

Als der Wagen an dem Garten des Gossenhofes vorbeifuhr, wollte der Aarauer dem Knechte befehlen, links hin einzubiegen, um die Menge Volks nicht zu stören oder gar mit den hitzigen Pferden Unglück und Verwirrung anzurichten; diesem Befehle aber widersetzte sich die Tochter entschieden und sagte, dass es heute durchaus ihr Wille sei, mitten durch die Menge über den Kirchplatz zu fahren! Ihr großes, schwarzes Auge streifte bei diesen Worten leuchtend über die wimmelnde Menge hin und prüfte den Schauplatz naher und wichtiger Ereignisse.

»Aber Luzia, warum nur das, warum?« sagte der Aarauer, mit Händen und Füßen agitierend, umd dem despotischen Willen der Tochter entgegen zu wirken.

»Warum?« wiederholte die Tochter zerstreut und blieb die Fortsetzung dieses Wortes schuldig; schlug ihr Herz doch bereits ganz andern Erwartungen entgegen, und ihre Gedanken wichen kaum mehr von dem Kampfplatze, wo es ihrethalben bald ein großes Schlage, Siegen und Unterliegen geben sollte.

Ein junger Bauer, der uns schon bekannte Sechter, grüßte aus einiger Entfernung jetzt die stolzerregte Luzia und gab ihr ein Zeichen mit der Hand; Luzia dankte ihm mit einem triumphierenden Lächeln und sagte leise: »So weiß er es?« Ihr Blick suchte rechts hin nach dem Kirchenplatze, wo der junge Dasselherr mit seinen Eltern und seiner Begleitung soeben erschien.

In diesem Augenblicke rissen Pistolenschüsse durch die Luft, die abgefeuert wurden, um das Ende der Einsegnung anzudeuten; ihnen folgte das frohe Aufwirbeln eines Tusches der Hochzeitsmusik.

Allein nicht mehr der Feier der Hochzeit schienen die Schläge des Geschosses und das Aufjubeln der Musik zu gelten, vielmehr hatten sie den Anschein von Zeichen zum Beginne einer seltsamen, düstern und gefährlichen Schlacht.

Denn im Nu waren auf einen Wink des Barther, der in triumphierender, malerisch-gewählter Stellung etwas erhöht an einer Holzschichte lehnte, alle Hüte unter den Linden mit Hahnenfedern besteckt; dies bewog auch die Gegner vor dem goldenen Rösslein, die Zeichen ihrer Kampflust aufzustecken und so ihrerseits offen kund zu geben, dass sie gesonnen seinen, den Robblerkampf aufzunehmen.

Eine ungeheure Bewegung entstand.

Mädchen und Weiber schrien und flohen nach der Kirche hin; Männer und Burschen drängten näher an die Schlachtordnungen, dort ermunternd und zur Tapferkeit anfeuernd, hier aufs Dringlichste warnend und mit schlimmen Folgen drohend. Manche angstvolle Mutter eilte ebenfalls hinzu, um ihren unter den Kämpfern entdeckten Sohn noch rechtzeitig durch Bitten und Beschwören der Gefahr zu entreißen.

So war das Drängen und Fliehen, das Rufen und Toben immer verworrener geworden, die Kramläden wurden geschlossen, Äste von den Bäumen gerissen, Pflöcke aus dem Boden gezogen, um Waffen zu bekommen, und an den schwieligen Händen prüfte man Schlagringe mit gezahnten Rändern; es erhöhte die Schauer der Szene nicht wenig, dass in diesem Augenblicke die Glocken den Beginn des Gottesdienstes anzeigten und feierlich-fromme Töne der Orgel sich in das wüste Getöse mischten.

Gotthard hatte eben seine Eltern bis an die Türe der Kirche begleitet und sagte jetzt mit dem Tone vollkommener Ruhe:

»So, Vater und Mutter, tretet ein und lasset Euch die Andacht nicht stören.«

Die Eltern folgten schweigend und in der Meinung, er wolle ihnen gleichfalls folgen; die Schwester aber blieb stehen und sah mit bekümmerten Blicken auf.

»Gehst Du nicht auch mit herein, Gotthard?« sagte sie und faltete unwillkürlich wie zu einer Bitte die Hände; allein schon war Gotthard nicht mehr in der Fassung, ruhig eine Antwort zu geben; wie der Blitz hatte er seine Hahnenfeder auf dem Hute, drückte die Schwester nach der Kirchentüre, sagte: »Denke meiner im Gebet«, und war jetzt im Tumult verschwunden. Nur zwei funkelnde, schöne Augen, die von einem in der Nähe postierten Wagen herab ihn beobachtet hatten, folgten ihm auch durch das wüste Gedränge.

Luzia war es, welche hier von ihrem Wagen wie von einer Ehrentribüne herab das Wogen und Treiben überschaute und mit Staunen sah, wie Gotthard, eine Trutzfeder auf dem Hut, die Menge durchbrach, sich zur Partei am goldenen Rösslein gesellte – sich an deren Spitze stellte und rasch durch jubelnden Zuwachs verstärkt, gegen Barther unter die Linden vorrückte.

Ein betäubender Aufschrei und dann eine lautlose Pause entstand. In einemfesten Knäuel dränge sich alles um die Kämpfer.

Barther und Gotthard, ihren Raufern etwas voran, begannen in üblichen Trutzliedern Frage und Antwort zu geben. Je mutiger und treffender sie klangen, desto greller war der Zuruf der Kämpfer, denen das Schärfen und Hinhalten der Rauflust ein dämonisches Vergnügen gewährte.

Da auf einmal – Gotthard hatte scheinbar keine Lust mehr, Worte und Lieder zu verschwenden – traten beide Führer in die Reihe der Kämpfer zurück, und die Schlacht, zu der sich Fäuste, Knüttel und Pflöcke unruhig schwangen, musste beginnen; – allein ein Wunder schien sich zu ereignen – die Schlacht, anstatt ihren Anfang zu nehmen – begann nicht; – ein Wort, eine dunkle Andeutung in Gotthards letztes Trutzlied eingeflochten, brachte den Mut und die Streitlust des furchtbaren Gegners auf einmal so außer Fassung, dass er wie vom Donner gerührt, erstarrte, erblasste – dann wankend die Schulter eines Kameraden suchte, hinzusinken drohte und endlich einen Wink gab, den Kampf ruhen – und ihn freiaus von dannen gehen zu lassen!

Unter lautlosem Staunen sahen ihn bald die Zuschauer und Kämpfer durch ihre Reihen drängen, dann in halber Flucht von dannen eilen – nur einen letzten Blick noch auf den glänzenden, aber verlorenen Preis des Kampfes, auf Luzien werfen – und verschwinden …

Vor einem Seitenaltare kniend und aus ihrem Buche betend, hatte Beate indessen nicht versäumt, den Bruder inniglich in ihre Andacht einzuschließen, von Angst gefoltert, horchte sie dazwischen nach der Richtung des Kampfplatzes hin, um aus der Art des Lärmens Gutes oder Schlimmes zu entnehmen; allein die brausenden Töne der Orgel, verbunden mit dem hellen Gesang der überfüllten Kirche, überboten jeden Laut der Ferne, und als jetzt eine Pause eintrat für das Ablesen des Evangeliums am Altare – da war auch unter den Linden aller Streit bereits zu Ende, und Beate sah bei einer leichten Wendung ihres Kopfes – den Bruder ruhig und wohlbehalten in die Kirche treten und hinter seinen Eltern seinen Platz einnehmen.

Da war er also wieder, wohlbehalten – und gerettet durch die Bitten seiner Schwester wie durch die eigene Kraft und Überlegenheit, die er schon so oft bewiesen.

Der Schwester klopften die Pulse an den Schläfen, ihre Freude machte sich in Tränen Luft, und ihr Gebet erflehte nur das eine noch, dass auch die Folgen des Streites für den Bruder nicht von Übel werden möchten!

Das ruhige Erscheinen und Benehmen des Bruders konnte freilich noch keine Gewähr dafür geben, dass der eben bestandene Streit ohne üble Folgen bleiben werde, hätte sich Gotthard doch auch im schlimmsten Falle sicherlich fest und ruhig verhalten; Beate musste sich also schon gedulden, bis ihr aus anderen Zeichen oder aus bestimmten Mitteilungen die ersehnte Beruhigung zuteilwürde. Zum Glück war dies bald genug der Fall; sie sollte nicht nur beruhigt, sondern auch im Tiefsten erfreut und belohnt werden für ihre Sorgen während des Gottesdienstes.

Denn als sie bald nach dem »Ite missa est« sich erhob und in Gemeinschaft mit den Eltern und mit Gotthard aus der Kirche trat, fiel es ihr auf, dass draußen sich die Leute in dichten Gruppen aufgestellt hatten und mit neugierig-achtungsvollen Blicken Gotthard empfingen und betrachteten. Einige lüfteten sogar die Hüte. Auffallender noch erschien es, dass die Leute flüsternd und oft nach Gotthard zeigend in achtungsvoller Entfernung folgten, während sie doch sonst gewohnt waren, sich in eine brausende Masse aufzulösen und einzeln oder in kleinen Gruppen heimzueilen.

Ungeduld und Neugierde bewogen Beaten endlich, hinter Gotthard und ihren Eltern ein wenig zurückzubleiben und scheinbar harmlos sich an zwei Kirchgängerinnen aus Mängelheim anzuschließen.

Diese ersparten ihr denn auch das Fragen, indem sie selbst alsbald begannen, ob sie denn wisse, was unter den Kirchenlinden vorgefallen und was sie für einen »ausderweisenen« Bruder habe.

Beates Unwissenheit war ihnen denn sehr willkommen, und sie erzählten, abwechselnd einander immer unterbrechend und verbessernd, was sie alles gehört und selbst gesehen.

Danach war es fast nicht mehr mit rechten Dingen zugegangen, wie der junge Dasselherr, gleichsam unvorbereitet, von Gestalt dem Barther aus Glanthal kaum an den Schurrbart reichend, von einem viel kleineren und zahmeren Streithaufen unterstützt, sich ins Gefecht stellt, dem gefürchteten Gegner auf den Leib rückt und Trutz singe, wie er ihn endlich »mit Augen, die eine Bretterwand durchsengen« und »durch Worte, die kein Mensch im rechten Sinn kapierte« zum Wanken, zum Erbleichen – zum Entfliehen zwingt, so dass auch Barthers Anhang plötzlich dasteht und, vom Führer verlassen, das Singen und Schlagen unterlässt!

»Nein, das ist nimmer recht menschenmöglich, und ich kann mich nicht satt verwundern, Deinem Bruder nicht genug danken«, rief die Gängelmeierin mit gerührten Blicken, »ist doch auch mein Peter bei den Robblern gewesen und so jetzt frei und ungeschädigt ausgegangen!«

Gewiss war der Bewunderung der Mütter viel von aufrichtigem Danke beigemischt, da man zu gut wusste, wie selten Robblerkämpfe, wenn sie auch nicht mehr so gefährlich waren wie sonst, ganz ohne Schäden und Nachweh abzugehen pflegen.

Beate hatte genug gehört, um den weiteren Herzerleichterungen beider Frauen nur noch mit halbem Ohre zu horchen; ihr Auge, ihr Herz, all' ihre Gedanken waren bereits wieder bei dem Bruder, der in diesem Augenblicke, als wäre nichts Bemerkenswertes vorgefallen, vor ihr herging und mit den Eltern mancherlei besprach, auf des Vaters Frage auch den Robblerkampf erwähnte.

»Es hat sich beilegen lassen, und das war am besten«, sagte er flüchtig und milde und brachte das Gespräch auf andere Dinge.

Die Musik der heimkehrenden Hochzeit erklang jetzt munter aus der Ferne, und Beate betrachtete ihren Bruder mit jener tiefen, erquickenden Rührung, mit der man Helden im höchsten Momente ihres Glanzes menschlich einfach und bescheiden erscheinen sieht. Sie würde dieses Gefühles noch reiner sich erfreut haben, wenn nicht der Gedanke an die Luzia Aarauer unwillkürlich sich ihr aufgedrängt hätte.

Und es war in der Tat die Frage: Welche Wirkung hatte Gotthards Sieg auf die übermütige Schöne hervorgebracht? Wie nahm sie die schmähliche Niederlage ihres berühmten Ehren- und Raufritters auf und inwieweit kam der Triumpf Gotthards seiner Bewerbung jetzt zugute?

Leider ist auf alle diese Fragen wenig Tröstliches zu sagen.

Luzia hatte, wie erwähnt, im Augenblicke des sich entspinnenden Kampfes mitten auf dem Kirchenplatze Stellung genommen, um von ihrer Wagenburg herab dem Leibesturniere zuzusehen; ihre Erwartung ging dahin, dass dem Barther aus Glanthal der Schlegler aus Murten gegenüberstehen und der Kampf ein lange währendes, aufgeregtes und imposantes Schauspiel bieten werde. Ihre aufregenden Gedanken eilten, indem man sich zum Kampfe stellte, triumphierend schon voraus und sahen den Sieger, gleichviel welchen, nach geschehener Schlacht zu ihrem Wagen treten und sie für Nachmittag zum Tanz in Wengern laden. Dies war mit ihrem Wissen und Einverständnis durch Zwischenträger förmlich verabredet worden – zum Ärgernis und tiefen Neide heiratslustiger Burschen und Mädchen – namentlich eines Menschen, dessen geheimnisvolles und scheinbar unzugängliches Herz Luzia tödlich treffen wollte. So im Vollgenuss ihres Triumphes schon im Voraus schwelgend, musste es freilich ihrer Schadenfreude wie ihrem Stolze in die Quere kommen, bis zum Augenblick des Kampfes den zweiten Feldherrn aus Murten nicht auf dem Schlachtfelde erscheinen – ja plötzlich an seiner Statt einen Menschen erscheinen zu sehen, den sie vor allen unter den Martern eines gekränkten Zuschauers gern hätte leiden sehen. Dazu kam noch der qualvolle Umstand, dass ihr der Sieg sowie die Niederlage des plötzlich erschienenen Führers gleich gefährlich und gleich entsetzlich sein musste. Selten wird daher der höchste Triumphgedanke eines Menschen plötzlich so voll banger Zweifel und ohnmächtiger Wut in sich selbst erstarren, wie es jetzt im Geiste der Luzia der Fall war. In ihrer straff gehobenen Haltung plötzlich festgebannt, sah Luzia Gotthard vor der Kirchentüre den Hut mit der Trutzfeder schmücken, rasch und unwiderstehlich durch die Menge drängen, sich an die Spitze der Gegner Barthers stellen, letzterem kühn vor die Stirne rücken, hell und mächtig ihm Trutz sagen und singen, Anstalt zum Angriff machen – und plötzlich – den ersten, furchtbaren und bewährtesten Raufer – zur Flucht, zum schmachvollsten Reißaus bewegen … Man konnte sagen, das Staunen des Volkes gipfelte in dem entsetzenvollen Erstarren Luzias; bleich, mit hängenden Armen, aber düster-funkelnden Augen saß sie da und blickte, wie zu Stein geworden, auf den Schauplatz erfochtenen schnellen Sieges! …

»Der Gottesdienst fängt an, lasst und absteigen, der Knecht kann allein beim Rössel einstellen«, sagte der Aarauer, durch das Haltmachen des Wagens schon ungehalten genug, jetzt aber durch einen Blick auf seine Tochter in ängstliche Unruhe versetzt.

Er wollte durch sein gutes Beispiel das Absteigen auch der Übrigen beschleunigen, gelangte auch glücklich auf den Boden und reichte seiner Tochter die Hand, um ihr herab zu helfen.

»Nu, Luzia«, sagte er, mit Schrecken gewahrend, dass sich seine Hand vergebens nach der Tochter streckte: »Komm, komm jetzt herab, mein Kind!«

»Ja, lass uns absteigen«, fügte die immer sanft-ratende Base hinzu: »Ein Platz in der Kirche wird je länger je schwerer zu finden sein.«

»Weiter fahren, weiter!« tönte es plötzlich und heftig von den Lippen Luziens.

»Was denn weiter fahren? Warum denn? Absteigen, in die Kirche wollen wir ja«, sagte der Aarauer mit steigender Aufregung, wie sie den nervösen Alten immer ergriff, wenn ein Wetter in den Mienen der Tochter aufstieg.

»Weiter fahren!« war die abermalige Antwort der aus ihrer Erstarrung ungebärdig Erwachenden.

Diese Antwort war zugleich als Befehl an den vorne sitzenden Knecht gerichtet, der, die Zügel in den Händen, mit dem üblichen Gefühl verschmitzten Humors die Schultern in die Höhe zog und regungslos sitzend dachte:

»Mir ist's recht, meinetwegen kann ich auch wohl fahren!«

Die Pferde zogen an und machten die eben sich erhebende Base wieder auf ihren Sitz zurücksinken.

»Ums Himmelswillen, Luzia!« rief der aufgeregte Aarauer und trabte neben dem in Gang gekommenen Wager her – »So halt doch stille, Gregor! … Gregor, stille halten!«

»Mir ist's recht, meinstwegen kann ich auch stille halten«, dachte Gregor und hielt die Pferde wieder an, indem sein rechter Mundwinkel, welcher in humoristischen Stimmungen stets ein starkes Übergewicht hatte, tiefer und tiefer sank.

»Fahren! Weiter fahren!« tönte es mit wütendem Nachdruck von den Lippen Luziens, während sie sich erhob, um gleichzeitig eine derbe Handmahnung Gregors Rücken zu applizieren.

»Mir ist's recht, meinstwegen kann ich auch fahren«, dachte er, regungslos und mit gehobenen Schultern wie zuvor; er wollte dabei die Sache etwas entschiedener in Gang bringen, ließ den Pferden, da gerade Platz genug war, die Zügel schießen und fuhr in einem Zuge bis zum goldnen Rösslein vor.

»Hier willst Du abwarten, was der Weibsbildergeneral und sein Vize, der Herr Vater, weiter sagen werden!« dachte er.

»Nun, was stehst Du stille? Hier haben wir nichts zu suchen! Weiter! Heim!« rief die ungestüme Luzia und erhob sich wieder von dem Sitze.

Gregor hatte lange genug im Hause Aarauers gedient, um zu wissen, dass er unter allen Umständen am besten fahre, wenn er Luziens und nicht ihres Vaters Befehlen gehorche, er sagte also ruhig: »Hi!« fitzte dabei die ohnehin zum Ausgreifen gern bereiten Pferde und lenkte in einem Bogen wieder nach der Straße zurück, woher er eben gekommen war.

»Da seht Ihr jemand, der um die Predigt herumfährt«, dachte er mit schiefem Mundwinkel, als er die gerade Richtung wieder gewonnen hatte, und mit unerbittlicher Konsequenz ließ er nun die Pferde, wenn auch nicht schnell, so doch im angenehmen allegretto weiter gehen.

Vergebens war es, dass die Base, welche mit dem Rücken fast an seinem Rücken lehnte, ihm rief, ihn mit dem Ellenbogen anstieß, dass er doch wenigstens so lange halten möge, bis der Aarauer auch nachgekommen und wieder aufgestiegen sei – Gregor ließ sich rufen, stoßen, bitten – was aber war alles das für ihn?

»Bis die Luzia sich ins Mittel legt, kümmert mich nichts mehr, was hinter meinem Rücken vorgeht!« dachte er.

Luzia aber legte sich keineswegs ins Mittel; sie war und blieb vielmehr, seit sie den Wagen wieder auf dem Heimweg sah, in ihre wütende Erstarrung zurückgefallen und ließ die Base reden, bitte, weinen und beschwören, wenigstens auf offener Straße, vor den Augen erstaunter Landsleute keine so seltsame, so auffallende Szene aufzuführen! Erst als der Wagen den sogenannten Datterich hinan fuhr und neben das Wäldchen mit den vielen Himbeer- und Haselnussstauden kam, rief Luzia plötzlich:

»Stille halten!« und machte Anstalt abzusteigen.

»Mir ist's recht, wenn sie's befiehlt, kann ich wieder halten auch«, dachte Gregor und ließ die Pferde stehen.

»Luzia«, rief die Base besorgt und wehmütig, »was willst du hier? Warum willst Du hier vom Wagen?«

Ohne eine Antwort zu geben, war Luzia rasch auf ein Rad und hinunter gestiegen und ging dem Pfade nach, welcher nach dem Wäldchen führte.

Die Hände ringend, dann und wann einen Seufzer von unbeschreiblichem Schmerz und Ingrimm ausstoßend, erreichte sie das Dunkel des Wäldchens, und in die schmerzlich tobenden Worte: »Sterben! Sterben!« ausbrechend, sank sie endlich unter krampfhaftem Schluchzen unter eine Fiche am Saum des Waldes nieder.

Es war ein seltsam ergreifendes Bild, die herrlich gewachsene und in die malerische Landestracht gekleidete Gestalt so dahingesunken und im Ausbruch wildesten Schmerzes atmen und weinen zu sehen, während die milde, bekümmerte Base zu ihren Häupten kniete, ihren Kopf zu heben und zu stützen suchte und sänftlich fragte, bat und beschwor.

Die Szene griff selbst dem an mancherlei Rippenstöße des Schicksals gewöhnten Gregor sichtlich ans Herz, der als Staffage von seinem Bocke herunter starrenden Auges sich fragte, wie denn etwas Fremdes, nirgends Sichtbares die unbändige Aarauerin so treffen und niederwerfen könne, während sichtbare Menschen bisher so wenig über sie vermocht!

Der später hinzukommende Aarauer trug weniger zur Erhöhung als zur Belebung des wundersamen Anblicks bei. Denn als er trabend und grimmig-besorgt endlich auch zur Stelle gelangte und die Tochter so im verzweifeltsten Zustande sah, blieb er zwar einige Augenblicke bestürzt und fragend vor derselben stehen und stellte Fragen über Fragen; als ihm aber die Schwägerin nichts als Achselzucken und tränenschwere Blicke zur Verfügung stellte, fing er an, am Saum des Waldes angstvoll hin und her zu traben, mit gefalteten Händen unzusammenhängende Klagen auszustoßen, von unglücklichen Vätern zu stammeln, die gar so ungebärdige Kinder haben und von glücklichen Kindern wieder, die den teilnahmsvollsten Eltern ihre Sorgen nicht vertrauen wollen; er sprach auch etwas von versäumter Vaterstrenge und so unnatürlich groß gewordenem Kindesungehorsam, allein es waren doch eben nur flüchtige Randbemerkungen zu dem großen Beileidswerke seines tiefbewegten, mitleidsvollen Vaterherzen.

Nur einmal wurde auch der Aarauer eine erhebende Figur in dem Tableau am Rand des Wäldchen, als die Kirchenglocke drüben das Zeichen zur Wandlung gab und er, während die ganze Natur herum in sonntäglicher Feier ruhte, neben Tochter und Base hinkniete, dreimal an die Brust schlug und bewegt-andächtig sagte: »O Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst in mein Haus etc …«

Der Gottesdienst war endlich vorüber, man konnte bis zum Berghang herüber durch die offenen Kirchenfenster die Fortissimotöne der Orgel vernehmen und am Eingang in die Kirche die ersten den Gottesdienst verlassenden Leute erscheinen sehen.

»Komm, Luzia, die Kirche ist zu Ende, lass uns heimwärts trachten«, sagte die Base milde bittend.

Luzia erhob sich mit Hilfe der Base und des Vaters und ließ sich schweigend zu dem Wagen führen; als sie oben wer, nahm auch ihre Begleitung ihre Sitze wieder ein, und Gregor wartete nicht, bis ihm befohlen war, vom Platz zu fahren.

Der Wagen hatte den Kamm der Höhe ganz erreicht und wurde denselben entlang gelenkt, als Luzia einmal flüchtig aufsah und einen Blick nach Wengern zurück warf; – nach allen Seiten wimmelte es bereits von Kirchgängern, die sich sputend heimbegaben – und am »langen Wege« nach Mängelheim hin erschien Gotthard, ruhig zwischen Vater und Mutter schreitend und von einer dunklen Menge, die ihm folgte, stumm bewundert … Ferne klangen die heiteren Töne der Hochzeitsmusik, und von Pistolenschüssen schütterte die Luft in diesem Augenblicke wieder …


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