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Neuntes Kapitel.
Geheime Botengänge

Der Oktober war da. Er war da mit seinen wehenden Nebeln, seinen heiteren Nachmittagen, seinen fliegenden Spinnweben und den von Sommerstürmen ruhende Lüften. Wanderer, die morgens noch einsam durch Nebelgrauen suchten, hielten um Mittag still-nachsinnend auf Höhen und Hügeln inne, ein schön enthülltes Land und Leben zu betrachten. Aus Wäldern mit flatternden Nebelresten drang der Schall der Jagd, von Feldern wie von Dankaltären stiegen aus Kartoffelkräutern Rauchsäulen auf, zwischen deren knisternden Feuern der Landmann, umkreist von Taubenscharen, das Fruchtkorn künftiger Ernste auswarf. Zwar die Blätter der Bäume wurden gelb, und der Blütenschmuck der Fluren war verschwunden, aber von den Zweigen lachten reife Früchte, und mit zäher Treue hing das ärmere Volk der Pflanzen jetzt noch an der Mutter Erde. Sie hatte ihnen seit der ersten Frühlingssonne Unterstand und Nahrung gegeben, ihr sollte jetzt nicht undankbar, wie es die stolze reiche Flora tat, so plötzlich aller Schmuck und alle wärmende Umhüllung entzogen werden. wo nur ein Grasplatz Raum gab, saß daher die Becherblume noch, auf Triften stand das Mastkraut, die Wolfsmilch nestelte an Flüssen, Grasnelken glühten am felsigen Rain, an Dämmen hin kroch der Hahnenfuß und Fels und Busch und Tal und Berg hatte seine Glockenblume und seinen Storchschnabel, seinen Natternkopf und weißen Bergklee noch, des Ehrenpreises und der wilden Reseda und anderer nicht zu gedenken!

Wie überall, so war auch in Mängelheim die Tätigkeit der Jahreszeit im Gange. Wer schon gesät hatte, ging daran, Schleusen und Dämme in Stand zu setzen und die Wiesen Tag und Nacht zu wässern, wer nicht schon im Frühjahr seinen Holzbedarf geschlagen hatte, setzte jetzt das Fällen fort, man führte Dünger und sammelte Waldsamen, man fischte Haupt- und Streichteiche und bearbeitet den Krapp, auch begann man Rüben und Möhren auszunehmen.

Mit diesen und anderen Herbstarbeiten war man auch im Dasselhofe nicht zurück. Im Gegenteil fiel ein wesentlicher Vorsprung auf, den dieser Hof bereits in jeder Tätigkeit errang …

Den Vormittag des fünfzehnten Oktober hatte Gotthard, der junge Dasselherr, zu Hause zugebracht, um den Obstgarten nicht ohne die nötige Pflege zu lassen. Er legte Samenschule und Hecken an, bezeichnete alte Bäume, die ausgerodet werden mussten, nahm den Himbeersträuchen das alte Holz, verpflanzte und löste Baumausläufer ab und prüfte die Stämme der Baumschule, welche zu versetzen waren.

Da er vor dem Mittagstische noch die Arbeit seines Oberknechtes zu prüfen hatte, der auf neue Weise pflügen und breite Bifänge anlegen musste, so verließ er gegen halb elf den Garten und wollte durch den Hof ins Freie gehen.

Er war auch bis ans Tor gelangt, als sein Blick auf eine Tafel über den Eingang fiel und ihn bewog, ein wenig still zu halten.

Der Denkspruch auf der Tafel war heute schon acht Tage alt, er musste, weil es die Ordnung wollte, durch einen andern ersetzt werden.

Alsbald hatte Gotthard ein Stück Kreise herbeigeschafft, löschte den alten Denkspruch aus und setzte einen neuen an die Stelle.

Es war der siebenzehnte der Zahl nach und hatte den Zweck, dem Gesinde und jedem Fremden, der vorüberging, eine wichtige Lebensregel vor Augen zu halten.

In der Tat, wenn auch nur ein Teil der bisherigen Sprüche den Leuten zu Herzen ging, so musste manches Gute sich ergeben, denn einige der Sprüche lauteten:

»Die Arbeit ist der Vater des Glücks. Leitet eure Geschäfte selbst und lasst euch nie von ihnen leiten. Derjenige, welcher von der Hoffnung lebt, wird vor Hunger sterben. Wer vom Pfluge reich werden will, muss ihn selber führen. Das Auge des Meisters schafft mehr als seine beiden Hände. Hütet euch besonders vor kleinen Ausgaben. Der Stolz frühstückt mit dem Überfluss, hält Mittag mit der Armut und isst zu Abend mit der Verachtung. Versteh', dann geh'. Mit vielem hält man Haus, mit Wenigem kommt man aus.«

Der Spruch, den Gotthard heute über der Einfahrt aufhing, lautete:

Besser arm in Ehren als reich in Schanden!

Dass er mit diesem Spruch alsbald jemand so erschrecken würde, dass er die Farbe wechselte, dachte Gotthard in diesem Augenblicke wirklich nicht.

Der Sechter war eben von der anderen Seite in den Hof getreten und blieb, den Spruch vor Augen, betroffen und schweigsam stehen.

»Wie wird's da meinem Auftrag gehen«, dachte er, »wenn er nun einmal denkt, es sei eine Schande, mit ihr reich zu werden?«

Vielleicht wäre er noch länger bedenklich stehen geblieben, wenn nicht Gotthard, an den er eine Sendung hatte, zum Tore hinausgegangen wäre. Die Sendung musste aber vollzogen werden, also half kein Zögern und Bedenken, Sechter stieß ermuntert den Wanderstock zu Boden und folgte Gotthard nach.

»Gut Heil, Harr Gotthard – und nehmt mich mit!« rief er am Kreuzweg oben dem ruhig hinschreitenden Gotthard nach.

Gotthard blickte um, ohne stille zu stehen, zuckte leicht mit den Wimpern und erwiderte dann mit Lächeln:

»Ihr seid es, Sechter? Wohin? Wohin?«

Wie im Schuss war Sechter an seiner Seite und sagte geschäftig:

»Ihr fragt, wohin? Wie, wenn ich sage, nicht weiter als hierher – hierher zu Euch?«

»Es kann mit recht sein, wenn Ihr Gutes bringt – was wünscht, was wollt Ihr?« sagte Gotthard.

Sechter hustete einige Male, nahm dann einen seltsamen Umweg durch Betrachtungen über Witterung und Jahreszeit, hoffte auf Ergiebigkeit des Roggens und der Kartoffelfrucht und sagte dann, sich um den Mund fahrend, dass die Bartstoppeln rauschten:

»Hm. Wenn ich alles so gut als die Schüttung der Ernte erraten könnte, so wär' mein Auftrag überflüssig; so aber, weil das nicht der Fall ist, muss ich Euch schon bitten …«

»Was?«

»Mir eine Auskunft zu geben über einen Landsmann – und dass ich ihn gleich nenne – über Trabert – Euern jungen Nachbar.«

»Inwiefern eine Auskunft?« fragte Gotthard etwas rasch.

»Der Trabert ist jetzt Wittwer. Über kurz oder lang wird er wieder heiraten müssen. Er ist noch ein hübscher Mann und hat noch immer Glück beim Frauenzimmer – Beweis, dass ihn jetzt die Schönste und Reichste heiraten will – wenn anders sein Leumund echt und recht befunden wird.«

»Um dies zu erfahren, kommt Ihr zu mir?« sagte Gotthard so ernst, dass der Sechter fast Bedenken trug, seine Mission weiter zu verfolgen.

»Der Trabert ist einstmal Euer Schulkamerad gewesen, er ist auch später mit Euch viel beisammen gewesen, ist noch jetzt Euer Nachbar – und so müsst Ihr ja doch wissen, wie es, rund besehen,mit seinem Herzen und seinem Wesen aussieht?«

»Welcher Braut soll er angeraten werden, wenn ich Gutes von ihm sage?« fragte Gotthard.

»Je nun«, sagte Sechter, seine Finger fest um den Knopf des Stockes klammernd, als wollte er seinem Mut ein Beispiel geben, wie man sich jetzt gewaltsam an die Sache halten müsse – »Je nun«, wiederholte er: »Die Schönste und Reichste, aber auch die Verwettertste im Land hat's auf den hübschen Wittwer abgesehen – die Luzia Aarauer hat ihn ausersehen!«

Es war nur der großen Gewalt über sich selbst möglich, dass Gotthard jetzt einen ungeheuren Triumph hinter ruhigen Mienen niederhielt; er war jetzt über Sechters Sendung, die er eigentlich seit Wochen erwartet, vollkommen im Reinen und gedachte den Diplomaten nicht so leichten Kaufes zu entlassen.

Während also Sechter mit starren Augen nach Überraschung, ja Bestürzung in Gotthards Mienen suchte, blieben diese Mienen gelassen wie bei einer Nachricht ohne allen Belang, ja sie schienen zerstreut und etwas gelangweilt.

Zum Überflusse fielen Gotthards Blicke eben nach dem Walde hin, wo eine Herde Schafe, schlecht gehütet, über ein frischbestelltes Saatfeld ging; er legte die Handfläche über die Brauen und pfiff durchdringend nach der Richtung, wo er den lässigen Hirten vermutete. Richtig sprangen alsbald ein Knabe und ein Schäferhund aus dem Walde und verjagten die Herde von dem unerlaubten Wege.

Beruhigt wendete sich Gotthard dann zum Sechter zurück und sagte aufgeräumt:

»Was den Trabert anbelangt, so weiß ich wirklich nur Gutes von ihm zu sagen. Er ist still, ist wacker, ist mannhaft; er ist kein Trinker, kein Verschwender und kein Händelsucher. Er ist gerade alt genug, um ein zweites Mal heiraten zu können und gerade schön genug, um ein zweites Weib bei sich zu halten. Das kann ich sagen, und so kann ich ihn empfehlen. Aber«, fuhr er mit lächelnder Ironie fort, »ob ich ihm die Luzia ebenfalls empfehlen könnte, das ist freilich zweimal zu bedenken. Die Luzia ist schön, ihr Feind selbst muss es sagen. Wer sich an dieser Schönheit versieht, ist nicht zu schelten; wohl dem, der sie besitzen wird, er wird einen Schatz im Hause haben. Aber ist sie gut und sanft genug? Man kann sich auch in süßem Wein ersäufen. Was hilft's dem Schiffer, dass er bei spiegelglatter See ausläuft, er muss gefasst sein zu ertrinken. Schön ist die Luzia, aber wild im Herzen; gut kann sie sein, allein zu toben wie das Weltmeer ist ihr lieber. Wäre die Ehe dritthalb Tage lang, so würd' ich sagen: Trabert zugegriffen! Die Ehe aber ist von langer Dauer; da kommt Sonnenschein und Sturm und Krieg und Frieden, und viel Glück bleibt oft auf dem Platze. Ob die Luzia in der Ehe nicht holder wird, ihrer Hitze, ihrem Zorn die Räder sperrt, kann das wer wissen? Auf sie selbst kommt's an! Sie selbst wird wissen, wie sie Macht hat über sich! Will sie beten, fasten, sich in Demut üben – warum nicht? Warum sollte nicht der Trabert gerade der rechte Mann für sie sein? Mit seiner Gutheit wird sie machen könne, war sie will. Wenn sie Ja sagt, wird er auch Ja sagen, wenn sie Nein sagt, wird er auch Nein sagen; sie wird einen Mann haben und ein Spielzeug, einen Hausherrn, der auch Kleiderstock und Puppe wird, wie sie's gerade haben will … Sechter, in allem Ernst, ich komme wirklich drauf hinaus: die Leutchen passen ganz zusammen und gilt meine Meinung, so sollten sie sich wirklich haben, die Luzia und der wackere Trabert!«

Den Sechter riss der Schluss dieser Rede förmlich von der Seite Gotthards weg, kalte Schweißtropfen traten auf seine Stirne.

»Den glaubt sie zu fangen, den glaubt sie auf den Trabert eifersüchtig zu sehen?« dachte er.

Mit vieler Mühe raffte er seine diplomatische Fassung wieder zusammen und sagte nach einer Pause:

»Ich kann Euch nur dankbar sein, Herr Gotthard. Luziens Base, die mich dieser Kundschaft wegen zu Euch schickt, wird Euch später selber danken … Also glaubt Ihr wirklich …«

»Wie ich sagte«, fiel Gotthard scheinbar allen Ernstes ein: »Wenn Luzia einen lieben, guten Mann sucht, so findet sie nur einen und dieser eine unter allen ist der Trabert, mein lieber Freund und wackrer Nachbar!«

Sechter stieß den Wanderstock in den Boden, legte beide Hände über den Knopf, hielt eine Weile wie nachdenklich inne und sagte dann kurzweg aufbrechend:

»Je nun, so kann ich ja nach Hause mit der Nachricht; behüt' Euch Gott – und nichts für ungut um der Nachfrage willen!«

»Grüßt Luziens Base und sagt ihr, wenn sie mehr zu wissen wünscht, so bin ich gern zu ihrem Willen!« sagte Gotthard.

Mit diesen Worten begab er sich feldein, ohne umzusehen, und überließ den Sechter einer Stimmung und Sorge wunderlichster Art.

»Sechter, Du bist geliefert, Du bist der Katz«, sagte er zu sich wie zu einem Zweiten: »Bringst Du der Luzia Gotthards Worte heim, so schießen Dich ihre Augen mit Rehposten tot. Ei Du Blitz und kein Ende! Sie hat ihn erschrecken wollen, und er hat sich kaum geschüttelt, sie hat ihn zornig machen wollen, und er hat die Nachricht verschluckt wie reinen puren Honigfladen! Ha, und ich! Nun, ich bin fertig, ich hab' mein letztes Amt getan. Wenn ich heute ungerupft nach Hause komme, darf ich Gott auf beiden Knien danken. Oder soll ich ihretwegen falsche Nachricht bringen, lügen und betrügen?«

Wilder Zorn übermannte ihn bei dem Gedanken.

Ein Dornstrauch am Wege sollte alsbald fühlen, was es mit einem zornigen Sechter auf sich habe, der Wanderstock sauste hinüber und herüber, der Dornstrauch wehrte sich vergebens mit Ästen und Stacheln, bald war er ein Kind des Erbarmens und Todes, entlaubt, zerschunden, zerschmettert.

»So, Du hast Dein Teil, jetzt ist mir leichter«, brummte Sechter und wischte die Spuren des Straußes von derm Stocke; dann wendete er sich noch einmal zurück, um den ruhig weiter gehenden Gotthard zu betrachten.

Seine Gedanken drückten sich zwar nicht in Worten aus, allein aus dem Ernst der Mienen und aus dem Schütteln des Kopfes ließ sich wohl entnehmen, dass er an dem jungen Manne auch ein Rätsel gefunden, das ihm nicht bloß während des Heimwegs zu raten geben werde …

Vielleicht hätte es dem außerordentlichen Gesandten einige Trost gewährt, zu wissen, dass gerade um die Stunde, wo er selbst unverrichteter Sache von seiner Sendung zurückkehrte, eine zweite Botschaft, die zu gleicher Zeit mit eine innern Mission an die Mutter Gotthards abgesendet worden war, mit wenig besserem Erfolg sich abarbeitete.

Die Botschaft bestand in einer Ambassadeurin ohne alles Gefolge und Gepränge, in Gestalt der alten Nägeli, einer Inwohnerin des Aarauerhofes.

Sie wagte es, in den Nebenbau des Dasselhofes, zur Mutter Gotthards unter dem Vorwande einzutreten, dass sie im Vorübergehen vor Durst fast verschmachte und deshalb schon um einen Trank Wasser belästigen müsse.

Natürlich wurde dieser Wunsch bereitwillig erfüllt, und weil man eine Gabe nicht annehmen und gleich wieder davon eilen kann, so setzte sich die Nägeli ein wenig nieder und drückte ihre Freude aus, die gute Dasselherrin gesund und wohl aussehend zu finden.

Eine solche Versicherung nimmt am Ende jedes Menschenkind gerne hin; dies tat denn auch die Mutter Gotthards, und da sie dem jähen Sturz aus ihrer früheren Herrlichkeit ihre volksfreundlichen Gesinnungen wieder hervorsuchte und gerade am liebsten mit armen, alten Frauen vertraulich verkehrte, so gab alsbald ein Wort das andere, und die Gesandtschaft fasste festen Boden.

Es war ein Augenblick von großem Interesse, als die Ambassadeurin ihr Inkognito abzulegen und mit der rechten Farbe herauszurücken beschloss.

Weil sie beide gerade so schön beisammen wären, sagte sie, und weil denn doch eine Sache nicht länger als nötig im Verschluss bleiben solle, so wolle sie nebenbei, unter anderem und wie von Ungefähr eine Neuigkeit mitteilen und sagen, dass sie eigentlich gekommen sei – auf eine Anfrage eine Antwort abzuholen.

Natürlich fragte Gotthards Mutter einigermaßen gespannt, welche Neuigkeit und Anfrage denn gemeint sein solle.

Fürs Erste, meinte die Nägeli, sei es wohl hier herum noch neu, dass der Nachbar Trabert bald ein außerordentliches Glück machen werde, dass die Luzia Aarauer nicht übel Lust zu haben scheine, seine Werbung anzunehmen und ihm, abgesehen von ihrer gefürchteten, aber schönen Person – ihr ganzes, ganzes Vermögen zuzubringen!

Gotthards Mutter bemerkte, diese Neuigkeit in der Tat nicht geahnt zu haben und wollte eben hinzufügen, dass sie in diesem Falle den Wolfgang Trabert nur von Herzen bedauern könne, als ihr die gewandte Botschafterin noch rechtzeitig das Wort abschnitt und sagte:

»Dabei schwant Euch aber noch ein viel Schlimmeres nicht!«

»Nun, was ist das?« fragte Gotthards Mutter.

»Dass diese schöne, reiche Braut gerade Eurem Hofe verloren geht, für den sie – dass ich's nur gleich sage – eigentlich bestimmt gewesen ist!«

»Für unsern Hof?« sagte die Dasselfrau mit Staunen und mit Schrecken.

»Für Euern Hof, für Euern jüngsten Sohn«, erwiderte die Nägeli näher rückend. Und mit einer selbst in diplomatischen Sphären seltenen Gewandtheit wurde nun nach Art der Tagesblätter mitgeteilt, wie von bester Hand und aus sicherster Quelle, von einer Seite, die sich immer noch als eingeweiht erwiesen, als ganz glaubwürdig mitgeteilt werde, der schönen Aarauerin habe nie ein würdigerer Ehemann vorgeschwebt als Gotthard, den sie vor zwei Jahren näher kenne zu lernen Gelegenheit gehabt und nach dessen Bewerbung sie lange sehnlich ausgeblickt habe. Leider habe sich der junge Mensch wie taub und blind von ihr gewendet, habe alle Winke, so verständlich sie gewesen, nicht bemerkt und habe so verschuldet, dass die schöne Luzia endlich, verdrossen und zum Trotz die ganze Burschenwelt genarrt und – um endlich ihrem alten Vater zu Liebe unter die Haube zu kommen – zuletzt dem hübschen Wittwer Trabert ihre Neigung zugewendet.

»Schade, dass es so weit ist«, schloss die fertige Rednerin, »aber wer weiß, ob das Blatt nicht gewendet würde, wenn Euer Godehard jetzt noch ein Zeichen gäbe und bald zu wissen täte, dass die Aarauerin ihm was gelte!«

Die Mutter Gotthards legte die Hand an ihre fahle Wange und sagte kopfschüttelnd:

»Das ist nichts für unsern Sohn.«

In diesem Augenblick trat der alte Dasselherr in die Stube. Er war in eine blaue Blouse gekleidet, hatte einen breitkrämpigen Strohhut auf dem Kopf und hohe Bauernstiefel an den Beinen.er sah wieder wohl aus und machte nach Erscheinung und Benehmen den Eindruck eines alten Ökonomen, der sich etwas auffallend auf den derben, ungefügen Bauern spielt.

Diese neueste Wandlung, offenbar in Szene gesetzt, um seinem wieder hoch in Ehren stehenden Sohne, der ja ebenfalls mit Ernst und Liebe unter das Volk herabgestiegen, ein Zugeständnis zu machen, erwies sich freilich nicht als stark und eingelebt genug, sobald die geheime Botschafterin nach kurzer Einleitung auch ihm den Zweck ihrer Sendung offen darlegte und ihre Eröffnung mit folgenden Worten schloss:

»Auf Eure Meinung, Euern Rat wird Gotthard alles geben, und ich glaube, die Aarauerin ist ein gutes Fürwort wert!«

Ein alter, derber Volksmann würde die überraschende Botschaft schweigsam angehört, dann den Hut langsam an die Wand gehangen haben und hingesessen sein, um unter zusammengeschobenen Brauen hervor die geheime Botin erst argwöhnisch zu prüfen und ihr dann rundweg zu sagen: »Euer Antrag, Weib, wäre besser dort geblieben, von wo er ausgegangen ist!«

Der alte Dasselherr aber sah aus der Mitteilung der gewandten Nägeli sofort wieder eine jener verhängnisvollen Fragen am fernen Horizonte aufsteigen, deren Beseitigung oder Lösung über seine Fassung und Stärke hinaus ging. Er blieb deshalb unbeweglich stehen, machte ein höchst betroffenes Gesicht, sah seine Frau verlegen fragend an und wusste auf die geheimen Eröffnungen nichts zu erwidern.

»Frau, so leg' doch der Nägeli auch etwas zur Stärkung vor«, brachte er endlich mit einiger Sicherheit hervor und setzte sich ziemlich entfernt der Unterhändlerin gegenüber.

Seine Frau erhob sich entschuldigend, dass sie nicht gleich an eine bescheidene Bewirtung gedacht habe, holte ein Stück Weißbrot und ein langes Schnappmesser und bemerkte, beides auf den Tisch legend und sich wieder setzend:

»Nägeli, was Ihr uns da sagtet, ist gar ernst, und ich fürchte, dass der Gotthard nichts wird wissen wollen. Er ist gar eigen, und die Aarauerin ist es noch viel mehr.«

»Ja«, meinte der Dasselherr jetzt, »das Leichteste wird es nicht sein, dem Gotthard eine solche Botschaft beizubringen oder ihm gar noch zuzureden; das wage, wer da will, ich nicht!«

Die Nägeli sah alsbald, dass sie dem besorgten, unbeholfenen Paare durch einige Winke zu Hilfe kommen müsse und teilte ihnen mit, dass eben ein geheimer Unterhändler auch bei Gotthard sich befinden müsse, um ihn auszuforschen und vorsichtige Andeutungen fallen zu lassen.

»Den Mann hab' ich von Weitem gesehen«, sagte der Dasselherr mit einigem Nachdruck, »es kam mir vor, als sein es der Michael Sechter gewesen – ist's derselbe wirklich, den Ihr meint?«

»Er ist's. Uns also braucht Ihr nichts zu tun, als den Gotthard so nebenher auf die Luzia hinweisen und ihm ihre große Mitgift und ihre guten Seiten rühmen, wenn auch ihre Fehler mehr als recht verschrien sind!«

»Lasst uns einmal drüber schlafen«, sagte die Dasselfrau, zu Boden sehend, »es ist immer ein schweres Amt, und der Gotthard ist ein gar eigener, fester Kopf!« Es klang eine trübe wehmütige Erinnerung durch diese kurze Bemerkung.

Die Nägeli versicherte, damit ganz wohl einverstanden zu sein, gab dem nachdenklichen Ehepaar verabschiedend die Hand und ließ nebenbei merken, dass sie vielleicht in Kurzem wieder einmal nachfragen werde, wie die Sachen stünden.

Wäre ihr darum zu tun gewesen, gleich jetzt aus den Mienen des alten Paares einen Schluss für künftige Aussichten zu ziehen, so würde sie entnommen haben, dass wenigstens von den Eltern nichts Gutes gehofft und erwartet werde; denn sie gaben ihr mit ernsten, fast verstörten Mienen das Geleite vor das Haus und kehrten in derselben Weise nach der Stube zurück, wo sie nach Ausrufungen der Verwunderung und des Schreckens Gotthard höchstens stille zu beobachten und Beaten, ihre Tochter, als Ratgeberin ins Geheimnis zu ziehen beschlossen.

Freilich sollten sie am folgenden Abend, als sie die Tochter zu vertraulicher Unterredung in ihre Stube beschieden, die fast betäubende Mitteilung erhalten, dass Gotthard längst beschlossen habe, um die Luzia zu werben und sie, koste es, was es wolle, als seine Hausfrau heimzuführen!

Die Befürchtungen, welche nun zunächst in den Herzen der Eltern aufstiegen, waren ganz derselben Art, wie sie im Gemüte Beatens erwachten, als sie die Nachricht von der beschlossenen Bewerbung Gotthards zum ersten Male durch diesen selbst erhielt.

Sie sahen das bisschen Ruhe und die seit Kurzem verbesserte Behandlung wieder ganz in Frage gestellt, sahen im Geiste ihre Tochter aus dem Familienhofe vertreiben und selbst ihren Sohn Gotthard, so fest sie sonst auf seinen Charakter zählten, von der unbändigen Luzia überboten und nicht zu seinem Wohle bemeistert.

Der heftigen Bestürzung über die verhängnisvolle Mitteilung folgten ein langes, dumpfes Stillschweigen und diesem eine Unterredung voll Entmutigung und Sorge.

Es wollte bei den bekümmerten Eltern wenig helfen, dass Beate, ihre eigenen Sorgen zurückdrängend, manche weniger bedenkliche Seite hervorhob und ihr starkes Vertrauen Gotthard zu erkennen gab; sie hatte auch leichter Fassung zu zeigen und der Angelegenheit mildere Seiten abzugewinnen, während die Eltern noch unter dem Vollgewicht der neuen Mitteilung litten und erlagen.

Schließlich blieb diesen freilich wenig anderes übrig, als sich dahin zu entscheiden, in die Angelegenheit ihres Sohne auf keine Weise einzugreifen, sondern ihr den Verlauf zu lassen, den sie selber nehmen werde, also den Gotthard weder im Sinne der Sendbotin zur Werbung anzutreiben, noch ihn, was ja nach der ganzen Charakterbildung Gotthards ohnehin vergeblich gewesen wäre, von der Werbung abzuhalten.

»Ich vertraue auf Gott, der alles in seinem Sinne zum Rechten lenkt«, sagte der alte Dasselherr endlich wie zum Abschluss der langen, bangen Unterredung und ließ dadurch zum ersten Male einen Blick in die vollkommene Wandlung seiner Gemütsstimmung werfen.

Nie zuvor, etwa seine Jugendjahre abgerechnet, wäre ein solches Gottvertrauen in lauten Worten über seine Lippen gekommen; er gab sich ja immer für einen jener leichtfertigen Freidenker, welche, ohne tiefere Überzeugung durch Studium und Nachdenken, sich vom mütterlichen Boden positiver Religionslehren zu früh losschälen und über die höchsten Dinge und den ernstesten Glauben anderer leichtfertig wegspringen, um sie, einer frivolen Mode folgend, bei jedem Anlass zu geselligen Scherzen und Possen zu missbrauchen. Er hatte diese löbliche Unsitte während seiner Glanztage an sogenannten Gebildeten oft genug beobachtet, und um sich auch in dieser Hinsicht zu den Gebildeten zählen zu dürfen, blindlings nachgeahmt. Das Unglück hatte ihn seitdem sowohl von den Halbgebildeten mit etwas Städtefirnis losgelöst und hatte ihn zu der so manches reinigenden Schwermut einsamen Nachsinnens zurückgeführt, wodurch er denn, da ihm kein Läuterungsprozess durch die Wissenschaft zu Gute kam, mit Sack und Pack ins Lager kindlicher Fühlweise zurück geriet und allem, was die Kirche und Volkssitte vorschrieb, sich unbedingt unterwarf. Dies stand seinen grauen Haaren und der bedenklichen Lage seines Alters jedenfalls besser an als flache Ironie und Spaßhaftigkeit, wo Ernst und Tränen an ihrem Platz waren …

Aber während so die Gemüter der Eltern und der Schwester unter dem Drucke einer düstern und schwülen Atmosphäre litten, war Gotthards Geist bereits über die schwere Wolkenregion der Sorge und Ungewissheit hinaus und wiegte sich im sonnigen Vorgenusse eines Sieges, den er lange, unverdrossen und mit weiser Berechnung vorbereitet hatte. Er allein sah das Schifflein seines Glückes fröhlich nach dem Ufer treiben, während alle Übrigen sich täuschten, als ob das Ufer mit dem Ziele immer weiter fliehe. Milder hatte Gotthard nie Befehle in seinem Hause erteilt als jetzt, und gütiger war er seinen Eltern nie begegnet; bis vor Kurzem nur selten einmal bei den Eltern in der kleinen Wohnstube und dann fast immer eines trockenen Geschäftes halber kommend, erschien er jetzt beinahe jeden Abend, um vertraulich und gesprächig eine Stunde hinzubringen. Vermied er's auch, die Rede auf seine Heiratspläne und Aussichten zu bringen, so wusste er doch durch Gegenstände anderer Art die Unterhaltung wünschenswert in Gang zu bringen und die Sorgen der Eltern, wenigstens solange er zugegen war, zu mildern oder gar vergessen zu machen …

So waren wieder acht Tage vorübergegangen, als eines Morgens zum Schrecken der Schwester und der Eltern der Sechter wieder im Dasselhofe erschien; er begehrte dringend den Gotthard zu sprechen, und als man ihn zum Gartenpförtchen hinaus nach dem nächsten Felde wies, eilte er mit Kuriergeschäftigkeit von dannen und hielt sodann ein kurze, und wie es schien, sehr gewichtige Unterredung mit dem Dasselherrn. Die Folge war, dass am folgenden Abend Gotthard nicht zu den Eltern in die kleine Stube kam, sondern, besser angekleidet, Haus und Hof der Wachsamkeit der Schwester anempfahl und im Abenddunkel sich auf eine geheimnisvolle Wanderung begab.

Als Beate den Eltern von dem Unstande Meldung tat, da schwiegen und weinte sie und dachten:

»Jetzt ist er mit ihr einig – und unsere guten Stunden sind gezählt!«

Beate aber brachte in der Stille ihren Plan zur Reife, an dem Tag der Hochzeit ihr Bündelchen zu schnüren und in die weite, fremde Welt zu wandern.


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