Wilhelm Raabe
Das Odfeld
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenzehntes Kapitel

Es ist in der Luftlinie wohl kaum der fünfzehnte Teil eines Äquatorgrads, das heißt eine deutsche geographische Meile vom Klostertor zu Amelungsborn bis auf die Höhe des Iths, bis in den Tönniesbusch, bis zum Ith-Anger über dem Rothen Stein. Für die Ausgestoßenen, die Flüchtlinge von Amelungsborn, im Odfeldnebel und am triefenden Vogler entlang war's erklecklich weiter.

Aber sie hatten Glück, die Exules, die Vogelfreien auf dem Odfelde. Sie kamen wohlbehalten durch die gefährlich rauschende Lenne und über den noch gefahrvollern Heerweg. Auf dem letztern fanden sie da, wo sie ihn überschritten, nur Tote, Sterbende und Verwundete aus allen Völkerschaften vom Löwengolf bis zum Cap Wrath, von der Bai von Biskaya bis zum Steinhuder Meer und in die Lüneburger Heide. Sie kamen um Scharfoldendorf herum auf die trümmer- und jammervolle Straße, die den Berg hinanführt, und ließen das verwüstete, geplünderte Dorf zur Rechten, um sich weiter aufwärts wieder nach rechts hin in den Eulenbruch zu schlagen. Es lag dick gesät vor ihren Füßen, und der alte Kriegspfad um Kloster Amelungsborn war nichts gegen den eben frisch in diesem furchtbaren Kriege von Bellona zerstampften Bergweg.

Der, welcher pour l'amour de Dieu um miséricorde und nach Wasser zu dem Junker von Münchhausen schrie, war aus Perpignan in der Grafschaft Roussillon und behauptete, er könne nichts dafür, daß er Lüerdissen mit in Brand habe setzen müssen. Und der, welcher die Arme nach dem Magister Buchius ausreckte, war aus Grußendorf im Westerbecker Moor und wußte dafür, daß er unter Mylord Granby dem Bauer in Kappelnhagen die Scheuer angesteckt habe, auch weiter keinen Entschuldigungsgrund, als daß er ohne sein Zutun in Tiddische an der Kleinen Aller dem Werber des Kurfürsten von Hannover und des guten Herzogs Ferdinand in die Hände gefallen sei.

»Die Raben! Das Portentum vom gestrigen Abend!« murmelte der Magister, seinen Hut in einer Lache füllend und ihm, dem Mann aus Tiddische, an den fieberheißen Mund haltend.

»Sie liegen wie unsere Vögel auf dem Wodansfeld, Herr Magister«, rief der Junker von Münchhausen von dem Mann aus Perpignan her. »Da, Kamerad, sauf! Ich wollte, es wäre was Besseres als Grabenwasser. No, in einem habt Ihr's doch besser als wir. Ihr habt bloß Durst, wir haben auch Hunger... Holla!«

Sie hatten keine Zeit zu verlieren, so mitleidige Herzen sie auch haben mochten; aber der Sprößling eines so wohl und weit berühmten Geschlechts wie der von Münchhausen bewies grade itzo, daß er ganz in die Zeit paßte und in sie hinein grad auf die Füße hin gefallen sei.

Auch die Toten, sie, die in der Nacht lebendig und gefräßig mit dem Herzog Ferdinand von der Weser aus zum Zug gen Einbeck aufgebrochen, aber hier unterwegs aus den Reihen gefallen waren, hatten ihre Kommißlaibe und sonstigen beim Abmarsch gefaßten Rationen noch ziemlich unangetastet bei sich, und sie lagen, wie gesagt, dick gesät auf der Straße von Scharfoldendorf bis auf die Höhe des Ith-Angers.

»Häng um, Heinrich!« rief der Junker, dem Knecht Schelze einen deutschen Brodbeutel auf den Schimmel reichend.

Er bewies bei diesem Überschreiten der Landstraßen den vollen Soldatenblick des Siebenjährigen Krieges und wußte nach dem Seinigen im Fluge zu greifen.

»Mein Herz blutet, Mademoisell; aber nur einen Augenblick halte meine Prinzeß den engländischen Tornister. So geht es in der Rapuse, Herr Magister! Vivat jetzo der französische Plunder! Guck, der Schlingel hat doch noch Zeit gehabt, 'nem Hahnen den Hals umzudrehen. Den lassen wir ihm am Säbelgurt; aber den Schnappsack nehmen wir ihm ab – an uns zurück, Herr Magister. Es ist zum Heulen, aber fidel ist's doch. Und nun vorwärts, en avant! Da kommt's wieder ganz blau und rot und grün den Berg herunter, und um Eschershausen sind sie auch noch nicht ins reine! Jetzt, wo sie sich genauer ins Gesicht sehen können, gehen sie erst ordentlich ans Werk. HaIali, halali! halali!«

So war es. Dicht zu ihrer Rechten von Holzen bis Wickensen stand die Schlacht; und allen im Dorfe Holzen, die sich nicht in den Rothen Stein verkrochen hatten, wie ihre Vorväter zu des Tilly und der Schweden Zeiten, denen mochte es wohl übel zumute sein ob dem Geschützfeuer, mit dem sich der Herr von Rohan Chabot gegen den engländischen Mylord Granby wehrte. Sie aber, und es sind wieder die Flüchtlinge aus Amelungsborn, gaben es während der nächsten zehn Minuten auch gänzlich auf, zur Rechten und zur Linken umzuschauen.

Sie liefen und stolperten, stürzten und rafften sich wieder auf und rannten von neuem zu, mitten durch die buntscheckige Ordre de bataille des Herzogs Ferdinand.

Sie sahen nur vor sich und, als sie den Wald wieder erreicht hatten, aufwärts durch die kahlen Gipfel zu den Klippen des Rothen Steins, wohinauf der alte Herr und Führer, der Magister Buchius, keuchend, ächzend, aber als ein Held, bei jeglichem Weiterschieben der knackenden Kniee immer von neuem mit der Hand, die den Zügel des Schimmels von Amelungsborn nicht hielt, vorwärts winkte.

»Wieschen, wir kommen noch einmal durch«, rief der Knecht. »Einen Büchsenschuß noch, und wir sind zu Hause. Halt aus, Kracke, und nachher verrecke!«

Magister Buchius blickte sich nur einen Moment auf das letzte unbarmherzige Wort hin um; dann stieg er und schleppte sich und die andern weiter. Er machte auch nicht die Menschheit anders, als sie war. Aber dem dampfenden Tier strich er die triefende Mähne:

»Halt aus, Freund, wie wir andern auch – nur noch fünf Minuten!«

Dolomit – Rautenspat, Braunbitterspat, Bitterkalk, Mineral, farblos oder gefärbt, besteht aus kohlensaurem Kalk mit kohlensaurer Magnesia, ist als Braunspat eisenhaltig und bildet als Gestein groteske Felsbildungen und ist höhlenreich, sagt heute die Wissenschaft oder das Konversationslexikon; und der Magister Buchius, der weder in seiner Bibliothek ein Konversationslexikon besaß noch irgend viel von Mineralogie verstund, stand plötzlich mitten in dem wilden Wald des achtzehnten Säkulums und mitten unter den wunderlichen Steingebilden des Idistavisus still und stieß sein spanisch Rohr in den Boden. Knecht Schelze im Arm Wieschens auf des Klosteramtmanns Reittier nickte allein ortsverständig, doch dazu mit scheu und schämern aufgezogenen Schultern und winselte weinerlich:

»Herr Magister, auf Eid und Gewissen, wahrhaftigen Gottes nicht aus bösem Willen und auch nicht mal aus Neugier. Ich hab's ja immer mit der Schule gehalten und kroch nur der Schule wegen hier auch mal unter, um zum Besten unserer Herren Primaner dem Kujon, dem Grünrock von Heinrichshagen, die Fährte zu verwischen.«

Der alte Herr winkte jetzt nur melancholisch lächelnd dem armen Sünder Verzeihung und wendete sich zu seinen übrigen Schutzbefohlenen:

»Nun sei es, wie es geschrieben steht: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel einfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.«

»Überwind haben wir hier zum wenigsten«, meinte Thedel von Münchhausen in der freilich windstillen, aber schlachtüberdonnerten Schluft im »Dolomit« und im Hochwald umguckend. »Nu, dies soll mich doch wundern. O Mademoi – Engel; sicher wie Daun bei Kolin im Felsennest! Aber diesmal kraufen wir von König Fritzens Partei unter, wann uns der Herr Magister die Tür zeigen will. Herrgott von Dassel, und die Prima von Amelungsborn hat bis itzo nicht auch hier Bescheid gewußt?!...«

Diesmal grinste Magister Buchius beinahe völlig wie einer seiner früheren Schuljungen; dann aber klatschte er halb zärtlich, halb wehmütig dem Schimmel des Herrn Klosteramtmanns auf die magere Flanke:

»Für dich, armer Freund, hab ich leider kein Unterkommen; aber ich hoffe, du wirst, unserer Last und Qual erledigt, dir schon durchhelfen. Hebe Er Schelzen aus dem Sattel und nehme Er dem guten Tier Sattel und Zaum ab, Herr von Münchhausen.«

Der Junker faßte den Knecht in die Arme, und Wieschen unterstützte ihn dabei vom Pferd aus. So brachten sie ihn glücklich auf den Erdboden und die Füße; und gottlob vermochte er sich auf den letztern jetzt schon wieder zu halten, wenn auch ein wenig taumelnd und mit schwarzen Wolken und flimmernden Flammen vor den Augen. Mademoisell Selinde stand wie eine Bildsäule, wenn auch nicht der Ergebung, so doch der Betäubung in dem Stein- und Waldwinkel und sah sich höchstens stumpfsinnig verwundert nach dem um, was den andern so erklecklichen Trost in diesen Schrecknissen zu geben schien. Des Amtmanns Schimmel warf den Kopf auf und sah sich um nach allen vier Windrichtungen, als wisse er schon, was nun kommen werde.

»Ja, du mußt nun gehen, alter Freund. Der Himmel helfe dir wie uns und schütze dich vor Feind und Freund, vor Frankreich und England; sie würden doch nur das letzte Mark aus deinen alten Knochen wollen, wenn sie die Hand auf dich legten. Nimm dich in acht – komme gut nach Hause – ja, was wirst du aber finden zu Hause in Amelungsborn, wenn du heimgekommen bist?«

»Grüße Er jedenfalls den Herrn Klosteramtmann in Amelungsborn von mir, Meister Hans!« lachte Thedel von Münchhausen. Das Tier schüttelte sich wieder, schnaufte, stand einen Augenblick überlegend und ging langsam seitab in den Wald hinein seines eigenen Weges.

»Herr Magister«, rief Knecht Heinrich, »Herr Magister, mir deucht, es gehet schlecht für unsern Herzog Ferdinand, und die Franschen gewinnen's ihm ab.«

»Zum Henker ja«, rief Thedel. »Monsieur Le Crapaud und Monsieur La Grenouille sind wieder im Vorhupfen gegen den Idistavisus und also auch gegen uns. Ihr Kanon kommt wahrhaftig näher! Hört nur! All ihr groß und klein Geschütz hat was wie vom Froschsumpf an sich: Brekkekekk, brekkekekk, Koax, Koax! O mit Jovis Donner gegen die Batrachier! Vivat Fridericus Rex! Vivat Ferdinandus Dux!«

Magister Buchius bog den nächsten Busch zur Seite:

»Belieben mir itzo auf den Fersen zu folgen, Mademoisell Fegebanck. Und fürchte Sie sich nicht, liebes Kind, es gehet wohl zuerst ein wenig abschüssig ins Dunkle, ja auch ein wenig auf den Knieen, aber wer kann heute hier sagen, daß das Dach seines Hauses sicherer über ihm sei als das Gestein, so des Herrn Hand in der Wildnis zum Unterschlupf für seine gejagte Kreatur wundervoll ausgehöhlet hat?«

Jetzt im tiefsten Busch und unter einer nicht allzu hohen Felswand im Dolomitgeklipp des Iths bückte er sich und griff in einen hohen Haufen von dürrem Gestrüpp, den der Wind und Zufall hier aufgehäuft zu haben schien, und fing an, denselben zur Seite zu räumen

»Bleibe Er ruhig, Schelze; aber Er, Thedel Münchhausen, fasse Er mit an.«

Eine unansehnliche enge Spalte im Gestein!...

»Hier in den Keller?« ächzte Mademoisell Selinde, die Hände ringend; doch Magister Buchius zeigte bereits fürder den Weg, das heißt, er war schon verschwunden im »Bauche der Erden«. Thedel Münchhausen, den linken Arm um des Herrn Amtmanns Vetterstochter legend, breitbeinig stehend und mit hochgeschwungener Rechten, zitierte außer sich vor Vergnügen den Kanonikus Gleim:

»›Hier hört man keinen Muffel seufzen,
Hier läuft kein Kramer mit Gewichten,
Hier rast kein Menzel mit Husaren –
Hier sind wir einfach, fromm und stille!
Hier schwärmen keine schwarzen Sorgen,
Hier hört man kein Geschrei der Laster –
Hier wollen wir uns Hütten bauen!
Was fehlt der Fülle solcher Wonne?
Ach Freund, es fehlt uns noch die Liebe.
Geh, hole du dein blondes Mädchen,
Ich will die braune Doris holen –‹

Schieb deinen Kerl, deinen Heinrich, fürsichtig dem Magister nach, Wieschen. Ach Mamsell, Prinzessin, Engel, meine Göttin,

›Neulich sprach ich mit den Bergen,
Und sie priesen mir ihr Silber,
Und den Schatz in goldnen Adern,
Und sie wollten mir ihn schenken –‹

alle Hagel und Wetter, höre einer den Chabot, wie er die Berge hinaufdrückt –

›Und die Sänger auf den Zweigen
Jagt er aus den grünen Zellen
In die Ritzen hohler Klippen –‹

Kotz-Kreuz-Element, es geht nicht anders, Selinde. Ob Sie nun mag oder nicht, Jungfer Fegebanck, mit hinunter, mit hinein muß Sie jetzt, wenn Sie nicht zu blutigem Brei getreten sein will!«

Und die Mamsell auf die Kniee niederdrückend und sie in den Abgrund hineinschiebend, murmelte er:

»Der alte Buchius!... er ist ein Held, ein Heros – ein Heros! Und die Große Schule zu Kloster Amelungsborn war der richtige Eselstall. Vivat der alte Buchius, der Magister Buchius! Aber wundern soll's mich, was für ein Nest er sich verstohlen und heimlich, selbst hinter meinem Rücken, hier in der Wildnis ausgebaut hat. Sehe ein Mensche – nur mutig, Courage, Mamsell, Allerschönste – es geht ja ganz hübsch in die Tiefe – o ihr unsterblichen Götter, na, dies ist denn wirklich ganz riesig, ganz famos und das Kuriöseste, was mir heute passieren konnte.«

Er hatte vollkommen recht zu dem letztern Ausruf. Konnte die Holzener Höhle am Rothen Stein einen ganzen Stamm vorsündflutlicher Urmenschen beherbergen, ein ganzes durch den Siebenjährigen Krieg verjagtes Dorf aufnehmen, so hatte Magister Buchius auf seinen einsamen Wegen hinterm Rücken der bösen Welt und der großen Zisterzienserschule von Amelungsborn wahrlich für sich gleichfalls im Schoße der Erde gefunden, was er brauchte. Und – er hatte sich drin eingerichtet!

»Dem, der uns hieher nachschleicht, dem schlage ich den Hirnkasten ein«, hatte Knecht Heinrich, wehmütig den Kopf schüttelnd, geseufzt, nachdem er, von den Förstern um König Heinrichs Vogelherd gejagt, dem alten Buchius auf die Sprünge geraten war und – sich bei ihm eingeschlichen hatte. »Dieses ist ja freilich gewiß und wahrhaftig ganz und gar wie für unsern Herrn Magister und seine Umstände unter den Herren und den Herrn Schülern bei uns in Amelungsborn vom lieben Herrgott eingerichtet!« – – – – »Hier könnte man schon hausen wie der heilige Antonius, der Große, in der oberägyptischen Wüste, nur mit einem Schaffell und einem härenen Hemde bekleidet und seinen Körper niemals mit Seife reinigend«, hatte der Magister selber geseufzet, als er als der erste von seinem Rektor, seinen Kollegen und seinen Schülern gepeinigte und gehetzte Schulmeister zum erstenmal den Unterschlupf betrat oder vielmehr in ihn einkroch.

»Wenn ich nur wüßte, wo ich bin und wie ich hieher gekommen bin, und, oh, bis auf die Knochen naß!« jammerte Mamsell Selinde. »O gitte, gitte, gitte, und so dunkel!«


 << zurück weiter >>