Wilhelm Raabe
Das Odfeld
Wilhelm Raabe

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Sechzehntes Kapitel

»Allerschönste, Sie hören den Herrn Magister«, rief der letzte Primaner von der wirklichen Klosterschule Amelungsborn, und Mamsell ließ es sich diesmal ruhig gefallen, daß er dabei seinen Arm um sie legte. »Wer doch jetzo hier Hausgelegenheit wüßte wie – ein anderer zu Amelungsborn vor zwei Stunden.«

Das gute Mädchen war nicht mehr imstande, den braven Jungen als einen närrischen zu behandeln. Sie hing ihm an der Schulter wie eine entblätternde Pfingstrose und ächzte nur:

»O Jeses, Jeses, Jeses, Thedel, so guck Er nur, so hör Er nur! O hätt Er mich unter mein Bett kriechen lassen, da hätten sie vielleicht nicht drunter geleuchtet und gegriffen. O je, hier aus dem Busch zerren sie uns in fünf Minuten und trampeln über uns weg, und das Gekrache dort überm Katthagen bringt mich dazu um!«...

»Bunt genug sieht es aus, und das Gedudel, die Tanzmusik ist auch nicht übel. So 'n Schützenhof! Was meinst du dazu, Jungfer Wieschen?«

»Ich denke nur an meinen Heinrich und verlasse mich auf den lieben Gott und unsern Herrn Magister. Und Heinrich, liebster Heinrich, wenn wir den guten Herzog Ferdinand dazu heute wieder fänden –«

»Fürs erste will der nur Eschershausen den franschen Spitzbuben abnehmen. Nicht wahr, Herr Magister? Der Herr Magister Buchius sehen auch dorten nach der Richtung und merken, wo die Hunde den Hirschen gestellt haben? Halali! Halali!«

Magister Buchius überhörte diese Frage und den laut hinausgejauchzten Weidmannsruf wie alles andere, was eben geschwatzt worden war. Er stand auf sein spanisch Rohr gelehnt und sah auf die Schlacht hin und hinunter, wie er am gestrigen Abend zu ihr emporgeschaut hatte. Nun wimmelte das Odfeld von streifenden Reitertrupps beider kämpfender Heere, und die Pferdehufe stampften die Leichname der schwarzen geflügelten Sieger und überwundenen von gestern in Sumpf und Moor und den Heideboden. Den Ith entlang scholl die Trommel und der Dudelsack ununterbrochen in das Kleingewehrfeuer hinein, und über den Quadhagen und den Eschershausener Stadtberg hinaus hörte man wohl, daß General Conway und Mylord Granby den Herrn von Poyanne scharf in der Schere hielten, um dem Herrn Generalleutnant von Hardenberg so lange als möglich Zeit zu lassen, auch an ihn heranzukommen und möglicherweise das Beste zum Tage zu tun.

Man vermochte es nicht mehr zu unterscheiden, was als Nebeldampf noch an den Bergen hing und aus den Tälern aufstieg, oder was Dampf der Schlacht war. Aber auf ruhige Zuschauer war nicht gerechnet, und langes Besinnen galt nicht für Leute, die unbemerkt durchschlüpfen und ihren Leib – einerlei wo, ob über der Erde, ob unter der Erde, in Sicherheit während der Bataille zu bringen wünschten.

Wer wußte jetzt einen Unterschlupf? Sie taten die Frage und –

»Ich!« sagte Magister Buchius, und er hatte noch niemals in seinem an die Seite gedrückten, scheuen, schweigsamen, überschrieenen, überlächelten, überlachten Dasein den Accentus so kraftvoll auf das persönlichste aller Fürwörter gelegt wie jetzt.

Er überließ die Mamsell dem Junker von Münchhausen. Er nahm den Zügel des Schimmels des Herrn Klosteramtmanns. Er führte den Gaul und die übrige Gesellschaft weiter in den überbedrängten Tag – zum erstenmal in seinem Leben berauscht – von allem wunderlich berauscht – wie als ob er nun den ganzen wirbelnden schwarzen Vogelschwarm und Kampf von gestern abend im eigenen Hirn habe und selber als schwarzer gelehrter Kriegsmann mit flatternden Rockschößen und geschwungenem spanischen Rohr im allerdicksten Haufen sich mit im Kreise drehe und Gegner niederschlage und gewalttätige Hindernisse bewältige. Siegreich! Ein Heros! Unter den Helden des heutigen Tages, wenn auch vielleicht der sonderbarste, doch wahrlich nicht der kleinste.

»Nach dem Rothen Stein kommen wir nicht durch«, murmelte er. »Das ist dort nicht bloß Pulverrauch, das ist Brandqualm. Der von Münchhausen hat recht: was sich aus Holzen hat retten können, das hat sich im Rothen Stein verkrochen, und wir finden dort keine Unterkunft mehr. Zurück und zur Linken seitwärts am Vogler hinauf können wir nicht. Auf wen wartet der Franzos eigentlich, daß er sich hier so in Haufen hält?«

Magister Buchius konnte es, ein so trefflicher Stratege er auch war, freilich nicht wissen, daß die Herren von Poyanne und von Chabot von dorther, wie der Herzog Ferdinand, den Herrn Generalleutnant von Hardenberg erwarteten und mit ihren Streifparteien gleich Fühlern im November-Morgengrauen nach ihm austasteten.

»Wären wir durch die Lenne«, murmelte er weiter, »und kämen wir heil über die Heerstraße, so wüßte ich wohl durch den Eulenbruch und den Düstern Grund hinauf –«

»Ich auch«, sagte Schelze vom Gaul und aus den Armen seines Wieschens herab. »Sie nennen es da am Brauerstiegskopf – links vom Rothen Stein.«

»Er kennt das auch?« fragte der Magister Buchius verwundert hinauf; und der immer mehr zum Bewußtsein kommende Knecht Heinrich ächzte mit mattem, jammerhaft verlegenem Grinsen:

»Ach Gott, so wahr mir Gott in meiner Not helfe, Herr Magister; ich habe keinem, keinem Menschen davon gesagt, so wahr ich ehrlich bin, liebster, liebster Herr Magister! Wenn sie's nicht in diesem Tumult gefunden haben, kennt den Ort kein anderer als wir zwei beide!«

»Es gibt keine Stätte für dich auf Erden, da du kannst sagen, du bist allein zu Hause«, seufzte Magister Buchius nach einer Weile; und wieder nach einer Weile fügte er hinzu: »Es ist so, und es wird also wohl das beste sein.«

»Heinrich, ich sah's dem Herrn Magister an, daß du ihm einen Verdruß gemacht hast!« rief aber jetzt Wieschen. »Sag's gleich – ich will's, sag's gleich, was es gewesen ist. Und nun noch darzu gar heute!«

»Sei nur ruhig, Wieschen. Nichts ist's!« lächelte der alte Herr zu der erschreckten, tränenvollen Magd empor. »Und grade heute, Wieschen, kommt's weniger als vorher mir drauf an, daß dein Schatz auch dort Bescheid zu wissen scheint, wo der alte Magister Buchius die thebaische Wüste ganz für sich allein zu haben vermeinte. Heute – jetzt seid ihr alle – auch Er, lieber von Münchhausen, hier willkommen, wo ich mir bei den Tieren der Wildnis als Einsiedler ein Unterkommen ausgemachet hatte, wann – mir euere Lustigkeit im Kloster ein wenig zu arg wurde, lieber Monsieur Thedel.«

»Du bist auch dabei gewesen, Heinrich!« rief Wieschen, ihren Schatz auf des Amtmanns Schimmel zwar noch fester fassend, aber ihn doch dabei ein wenig schüttelnd.

»Damals noch nicht; halt nur Ruhe, Kind«, lächelte der alte Herr wieder.

»Herr Magister –« wollte der Exschüler der berühmten großen Wald-, Wildnis- und Wilddiebsschule zu Kloster Amelungsborn betroffen, kleinlaut, nicht mit seiner Rechtfertigung, sondern mit seiner Reue aufwarten. Doch dem winkte der letzte Kollaborator ab; zwar auch lächelnd, jedoch auf eine andere Art.

»Beruhige Er sich nur auch, von Münchhausen. Jedenfalls ist Er nicht der einzige gewesen, so weder dem Bruder Philemon in seiner Zelle noch dem alten Buchius in der Zelle des Bruders Philemon die Ruhe und Beschaulichkeit gegönnt hat – seinerzeit – dann und wann.«

Er sah jetzt, ohne sich um den geduckten Scholaren fürs erste weiter zu kümmern, den wunden Knecht auf dem Pferde an und deutete meinungsvoll vor sich hin in die Berge, und zwar auf eine ganz bestimmte Stelle.

Knecht Heinrich mit weinerlich verzogenem Mundwerk nickte und sagte kläglich:

»Ich konnte ja nichts davor, daß ich's auch fand und einkroch, Herr Magister. Aber so wahr mir Gott helfe, es weiß außer mir und dem Herrn Magister kein anderer Mensche davon. Ach wären wir nur über die Straßen vor dem engelländischen Zuzug!«

»Du Dummrian!« rief Wieschen, ihren immer mehr zum Leben erwachenden Schatz von neuem fester packend und eindringlicher schüttelnd. »Du hast es ja nun, wie du es gestern abend für mich und dich haben wolltest. Bist nun mit mir und noch dazu mit dem Herrn Magister und der Mamsell und dem Herrn von Münchhausen mitten derzwischen! O Herr Magister, Herr Magister, bei Ihrem lieben Herzen, lasse Er es keinem von uns armen Sündern entgelten, was wir an Ihm verböset haben! Helfe Er uns! Helfe Er uns allen heraus aus dem Krieg, und der Not, und der Angst, und dem Elend!«

»Wenn wir über die Straße wären!« murmelte der alte Herr, des Klosteramtmanns Schimmel am Zügel immer hastiger sich nachzerrend durch den Wald und das Dickicht. –

Ei ja, die Straße und die Straßen von der Weser, von dem Hauptquartier zu Ohr her, zu beiden Seiten des Iths bis zu dem neuen Hauptquartier Seiner Durchlaucht des Herzogs Ferdinand zu Wickensen, an diesem fünften November 1761!

Schon vor Tage hatten die Schotten Kapellenhagen jenseits der Berge den Franzosen nach heftigem Kampfe abgenommen und sie durch den Ith auf der Landstraße nach Scharfoldendorf hinuntergetrieben; und wenn das Dorf jenseits der Berge noch rauchte, so brannte es jetzt in Ölkassen wie in Lüerdissen, und die Herrenmühle bei Scharfoldendorf dicht vor den Flüchtigen stand auch in Flammen.

»Wir können und dürfen mit den Jungfrauen nicht hier weilen, Dieterich von Münchhausen«, rief der Magister. »Hindurch! Mein ist die Erde noch, Zeus! O laß sie mir noch diesen Tag, diese Armen hier zu erretten vor Schmach und Schande, vor dem erbarmungslosen Feinde, vor dem zuchtlosen Freunde! Grausame Parze, tränenliebender Pluto, schonet, o schonet der Locken der Jugend! Versehre uns nicht mit Feuer, Pluto! Neptun, ich flehe dich an – Lenne, geschwollener Strom, verschwemme uns nicht den Pfad; und wenn du, der Proserpina Bote, o Hermes, diesem Zuge voranschreitest, so winke nur dem Greis seitab zum Hades! Winke mir allein mit dem Caduceo, mir, dem Alten, der schon zu seinem Troste weiß, daß dein Pfad zum Port führt, einerlei – ob man von Kekrops' Flur, ob man von Meroë kommt! O Schattenführer, den Jungen – diesen Kindern gönne noch ihre Hoffnung und ihren Wandel im lieben Tagesschein!«.......


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