Wilhelm Raabe
Das Odfeld
Wilhelm Raabe

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Neuntes Kapitel

Wenn nun Monsieur Thedel von Münchhausen aus dem Bevernschen sich noch bei Nacht im wilden Weserwalde zurechtzufinden wußte, so hätte ihn eine doppelte ägyptische Finsternis nicht gehindert, irgendein Ziel tief unten im Gewölbe oder hoch oben auf dem Dache von Amelungsborn ohne Anstoß zu erreichen. Der wußte da Bescheid! Wahrhaftig!! Er schlupfte in dasselbe türlose mittelalterliche Pförtchen, in welches Magister Buchius sich nach der Heimkehr von seinem Nachmittags- und Abendspaziergang hineingeschoben hatte. Er erstieg dieselben Treppen wie der Magister und durchmaß dieselben Gänge. Er hielt sogar vor den nämlichen Türen an wie der alte Herr, aber durchaus nicht mit den Gefühlen desselben. Wahrlich legte er nicht wehmütig-erinnerungsvoll die Hand darauf; doch die Hand brauchte er freilich bei dem Gestus, den er vor mehr als einer der altersschwarzen, stillen Schulzimmerpforten machte.

Das gab dann jedesmal einen klatschenden Schall, der das Echo weithin in den Korridoren weckte. Und jedesmal brummte der junge Malemeritus von Amelungsborn und Relegatus von Holzminden:

»Sauberer Stall! Infames Cachot! Noch derselbige Geruch – pfui Teufel – Brrr! Na, euch gönne ich schon noch ein halb Dutzend Male dem Broglio und seinen Schuften zum Quartier.«

Er bezwang sich merkwürdig. Er trat weder die Pforte der Sekunda noch die der Prima ein, und vor der Tür der Quinta stieg auch ihm doch sogar ein melancholisch Gefühl auf, und mit einem Seufzer sagte er:

»Der alte Herr! Der alte Buchius!... Dahinter haben sie ihn sein ganzes liebes Leben ihnen und uns Lümmeln zum Spaß gehalten! Und ich habe meinen Spaß mit an ihm gehabt.«

Er hob den Hut vom Kopfe und behielt ihn in der Hand.

»Vivat der Magister Buchius, und – der Herrgott erlasse mir meine Sünden an ihm, wie der Alte sie mir zu hunderttausend Malen erlassen hat. Ach Gott, ach Gott, so kommt der tollste Schüler von Amelungsborn zu dem überflüssigsten, bespotteten Präzeptor, so kommt Barthel vom Mostholen mit zerbrochenem Kruge. O virga, o ferula! O merces doctrinae! Hoffentlich hat er jetzo, nachdem auch das andere Hundepack wieder still geworden ist, sein Licht noch nicht ausgeblasen.«

Im nächsten Augenblicke klopfte er leise und schüchtern an die Tür des letzten wirklichen Zisterziensers von Kloster Amelungsborn. Mit dem Wort meinen wir aber nicht den Bruder Philemon, den letzten katholischen Mönch der Stiftung auf dem Auerberge über dem Hooptale. –

Magister Buchius war noch wach; aber er saß freilich schon mit gelösten Hosenschnallen auf seinem Bettrande. Die Spukgeschichten, in die er sich nach des Tages Erlebnissen hineingelesen hatte beim bänglichen Tagesschluß, hatten ihn doch noch eine Weile vom völligen Entkleiden ab- und beim Hinstarren in die trübe Flamme seiner Lampe festgehalten. Als es nun so pochte, wie es auch beim Schloßprediger von Iburg, Herrn Theodorus Kampf, hie und da zu mitternächtlicher Stunde geklopft hatte, vermochte er trotz der überlegenen Stimmung, in der wir ihn vorher gelassen haben, nicht, seines Erschreckens sogleich Meister zu werden. Sein schlimmster Discipulus hatte einzutreten, ohne daß er vorher dazu eingeladen worden war.

»Ich bin es, Domine«, sagte der jetzt mit verlegenem Grinsen. »Ich bitte um Permission, so späte am Abend den Herrn Magister noch aufzustören. Thedel Münchhausen, mein Herr Magister! Von Holzminden her mit übergroßer Sehnsucht nach Ihm! Vivat Ferdinandus Dux!«

»Krah!« sagte der Rabe, durch den neuen Besuch in seinem Schlaf gestört.

»Ohe, was haben der Herr Magister da für einen neuen Stubenkameraden?... Ich bin's wirklich noch einmal in Fleisch und Blut, Thedel Münchhausen! Ja, sieh mich nur so an, Bestie. Gehörst wohl auch zu denen, die heute abend mit mir zu Scharen von der Weser kamen?«

Die letzten Worte waren natürlich an den aus seinem Winkel vorgehüpften Vogel gerichtet; der Magister sah noch eine geraume Weile von dem einen Gast auf den andern, bis er sich so weit gefaßt hatte, die schwarzen Manschesternen wieder in die Höhe zu ziehen, sie zurechtzurücken und zu rufen:

»Täuschet mich mein Gesicht nicht? Er, Musjeh? Monsieur von Münchhausen? Um diese mitternächtige Stunde? Wie kommet Er hieher, Musjeh? Wo kommet Er her, Musjeh? Was will Er – grade Er wieder in Amelungsborn? O ihr Götter, hat Er gerade es nicht mit dem allerhöchsten Überdruß an christlicher und heidnischer Schulzucht und Ordnung verlassen? Hat der Herr Amtmann nicht –«

»Dreimal drei Kreuze hinter der ärgsten Canaille im ganzen Cötus her gemacht? Jawohl, Domine, einen feinen Duft haben wir hinter uns gelassen; aber Sie wissen es ja am besten: Ducunt volentem fata –«

»Nolentem trahunt«, schloß der alte Herr. »Also wollend – mit Seinem guten Willen folgt Er Seinem Fatum hieher?«

»Gutwillig, mit meinem allerbesten Willen. Abgesehen von dem Tritt, den sie mir in Holzminden auf die Posteriora versetzet haben, meinen Weg in die weite Welt zu befördern. Der Herr Magister Buchius haben es niemals genau gewußt, was für – ein guter Prophete Sie zu Zeiten waren.«

»Oh, oh – eheu, eheu, eheu!«

»Heu, heu, heu – Heu!« flennte grinsend mit den Knöcheln beider Fäuste vor den Augen der junge Taugenichts und leichtsinnigste Primus inter pares der weiland gelehrten Schule zu Kloster Amelungsborn, Thedel Münchhausen. »Ja, Heu, Heu! Die Herren zu Holzminden machen fürder keinen Ochsen unter sich fett mit dem Heu, das ich ihnen noch auf ihren gelehrten Wiesen zusammenharken könnte.«

»Consilium abeundi?« stammelte der alte Herr.

»Relegatio in aeternum. Diesmal fortgeschickt, aus dem Tempel getrieben, auf Nimmerwiederkommen. Sie hatten eben im Konvent ihre letzte Hoffnung für den Patienten auf die Veränderung von Luft und Ort gesetzet. Gestern waren die Herren zur letzten Konferenz beieinander und sind zu der Meinung gekommen, es sei keine Hoffnung mehr bei ihnen für den armen Sünder in extremis.«

Magister Noah Buchius ließ noch einmal die Hände schwer auf die dürren Kniee fallen, nachdem er von neuem auf dem Rande seines Bettes niedergesessen war. Und sein Kummer wuchs, wie er angstvoll weiter auf dem hübschen, mutwilligen Gesichte seines schlimmen Lieblings, des unbotmäßigsten Koätanen der weiland altberühmten Klosterschule von Amelungsborn nachforschte und – wenig von seinen eigenen, schmerzensvollen und beschämten Gemütsbewegungen darauf abgemalt fand.

Der Knabe half nicht dem guten alten Herrn über den Angstbissen, der ihn in der Kehle würgte, hinweg. Er ließ ihn mit aller Rücksichtslosigkeit der Jugend mit dem Kummer, den er ihm machte, fertig werden. Er ließ den alten Mann mit der stoischen Gelassenheit derer, die ihr Leben noch vor sich zu haben glauben, wieder zu Atem und zu Worten kommen.

Es dauerte wiederum eine längere Zeit, ehe der Magister so weit sich gefaßt hatte, daß er matt und ergeben die Frage tun konnte:

»Die gütige Gewogenheit wird Er auch wohl nicht haben wollen, mir zu kommunizieren Cur? Zu teutsch: warum, weshalb, wofür und weswegen? Und was Seine Verwandtschaft zu Wolfenbüttel hierzu sagen wird?«

Thedel von Münchhausen zuckte greinend die Achseln:

»Aus Liebe zu mir und wegen größester Sorge um meine Wohlfahrt und die der deutschen Nation. Sie meinten, was sie mir noch anzubieten hätten bei sich auf der Schulbank, das schlüge doch nur bei mir an wie 's weiland amelungsbornsche Weihwasser beim leidigen Satan. Und das deutsche Vaterland habe mich sicherlich nötiger als sie, Prior-Rektor, Konrektor und Lehrerkonvent in der neuen gelehrten, unschuldigen Herrlichkeit, vermeinten sie. Gefiel ihnen hier im Walde meine Intimität mit den Wildschützen vom Hils, Ith und Vogler nicht, so grauete ihnen vor meiner Kompagnie mit den Weserschiffern fast noch mehr. Konnte aber ich denn davor, daß heute kein Bock den Fluß herauf- oder herunterfährt, von dem sie nicht nach dem lieben Thedel Münchhausen zu den Klassenfenstern hinaufrufen? Und der Frau Priorin war ich schon seit der Quarta ein Dorn im Auge; das wissen der Herr Magister ja ebensogut als wie ich. Das Poem, die zwei Reime, die ihr an den Reifrock hinten gespendelt waren und so mit ihr umliefen auf dem Schützenhof auf der Steinbreite, sind nicht von mir gewesen; aber ich habe sie auch auf mich nehmen müssen in der letzten Konferenz gestern. Ach ja, was ganz Besonderes ist nicht weiter vorgefallen, das Faß ist übergelaufen und damit basta. Sie haben mir in Zärtlichkeit geraten, nunmehro das Vaterland nicht länger warten zu lassen, sondern zum Kalbfell zu schwören, wie es mir in der Wiege gesungen worden sei, und zumal da der Herr Vormund in Wolfenbüttel ja selber dazu rate. Daß sie mir mit dem Herrn Vormund und Oheim rieten, doch meinen Herrn Vetter von Bodenwerder unter den hannöverschen Jägern, den hohen Alliierten und dem Herzog Ferdinand aufzusuchen, das traf wohl meine Meinung auch; aber – ohne meine Sehnsucht nach Ihm, Herr Magister, hätte ich sie doch noch einmal persuadiert, es noch einmal, zum allerletztenmal mit der lateinischen Stallfütterung bei mir armen Corydon zu probieren. Aber das Verlangen nach dem Herrn Magister –«

»Nach mir?« rief der gute alte Herr, die magern Hände zusammenschlagend. »O Theodorice, Theodorice, Er wird wohl noch auf Seinem Sterbebette Seinen Jokus treiben wollen! Ist denn dies eine Zeit zum Scherzen? So nehme Er jetzo doch für eine Viertelstunde Vernunft an und rede Er verständig, Monsieur. Er siehet doch meinen Kummer um Ihn, und – wir sind hier nicht mehr auf der Großen Schule zu Kloster Amelungsborn – sondern nur in der Kammer des alten, verbrauchten, unnützen Buchius, und – morgen früh ruft weder Ihn noch mich die Glocke zu den Lektionen, und Er hat an mir keine Materia mehr, sich zu präparieren zu einem neuen Spaß, mit dem Er die Herren Kommilitonen über den närrischen Magister Buchius zum Lachen bringen möchte!«

Dies kam nun in einer Weise zum Vorschein, die den jungen Menschen vollständig duckte. Es war keine Dumme-Jungen-Komödie in dem Ausdruck der Betroffenheit, der Reue, mit dem er sich auf die Hände des alten, vor Erregung zitternden Schulmeisters niederbeugte, sie ergriff und zwischen Verlegenheit und – ja, auch zwischen Tränen stotterte:

»Der Herr Magister haben recht, Sie haben recht! Wir haben es alle, Konvent und Cötus, nicht um den Herrn Magister verdient, daß Sie einen einzigen freundlichen Gedanken für uns haben. Da; gleich und wie ein Lamm gutwillig lege ich mich da vor dem Herrn über den Stuhl – holen der Herr Magister Buchius Ihr spanisch Rohr und zahlen Sie mir nachträglich durch den Rest der Nacht, was ich an Ihnen pekziert und meritiert habe, und geben Sie's mir für das ganze Kloster, Abt, Amtmann, Rektor, Doktoren und Kollaboratoren mit. Haue Er sie nach Herzenslust in meiner Person. Lasse Er mich in dieser Nacht den wohlverdienten Sündenbock sein für Seine armen, elenden dreißig unbelohnten, übelbelohnten Jahre am Schuldienst zu Amelungsborn. Nachher brauche ich nur noch einen andern Abschied hier am Ort zu nehmen; dann werd ich ja auch wohl den Herrn Vetter auf dem Marsche durch den Ith irgendwo tot oder lebendig treffen, oder wenn den nicht, so doch ohnzweifelhaft den Herrn Herzog Ferdinand und – nachher werd ich's an die Franzosen weitergeben, was Er mir, liebster Herr Magister, in dieser Nacht an Restanten ausgezahlet hat. Da verlasse Er sich drauf! Vivat Ferdinandus Dux! Imperator! Victor! Sie belieben zuzuhauen und mir den meritierten Lohn zu verabreichen.«

Der reuige Sünder hatte wahrhaftig sich den Stuhl vor dem Magister zurechtgerückt und holte wirklich und im vollen Ernst den Stock aus dem Winkel und bot ihn dem guten Herrn hin; aber dieser sprach, die gefalteten Hände vor sich hinstreckend und so mit ihnen abwehrend und mit einer durch Erregung und Rührung erstickten Stimme:

»Mein lieber Junker von Münchhausen!?«...

»Sie belieben nicht? Der allerbeste Herr wollen alles mir boshaften Kujon und Halunken hingehen lassen?« (Ein Blick des Bösewichts streifte hier auch ganz unwillkürlich die Kuriositätensammlung des wackern Gelehrten.) »Der Herr Magister will nicht an Thedel Münchhausen nachholen, was Er in dreißig Jahren an der ganzen hohen Schule von Amelungsborn, Cötus und Lehrerkonvent, hat verabsäumet? Dann – gebe Er mir Seine gute Hand und glaube mir: im ganzen Römischen Reich, ja, im Universo lebet außer dem Herzog Ferdinand kein andrer außer Ihm, nach dem der wilde Münchhausen solch ein Desir und Verlangen gespürt hat in den letzten Zeiten!«

»Oh, mein Junker von Münchhausen!«

»Das Heimweh nach dem alten Wesen ist es gewesen, das mich noch einmal hieher gebracht hat. Vater und Mutter weiland zu Bevern und der Herr Vormund in Wolfenbüttel haben mich allzulange hier in der Wildschule belassen. Das alte Kloster, der freie Wald und Himmel haben es mir angetan. Die Herren zu Holzminden haben vermeint, Ihn, den Herrn Magister, ihren Besten, dorten in ihrer neuen Ordnung nicht unter sich brauchen zu können, und sie sind dümmer gewesen als die Esel in diesem Casu. Aber mich, den schlimmen Teufelsbraten, haben sie in Wahrheit und Wirklichkeit nicht bei sich prästieren können. Sie hielten's nicht aus, und ich hab's auch nicht ausgehalten zu Holzminden hinter ihren Mauern, bei ihrem neuen Zwang und Serenissimi des Herzogs Karl Durchlaucht revidierten Schulordnung! Ich hab's mit Willen danach gemacht, daß sie mich vor die Tür setzen mußten. Und nun bin ich hier, ehe ich zu den hohen Alliierten gehe, um den letzten treuesten Abschied von meinem ältesten, treuesten und allergelahrtesten Gönner und unwissend intimsten Freund zu nehmen.«


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