Wilhelm Raabe
Das Odfeld
Wilhelm Raabe

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Achtes Kapitel

Was die Vögel über dem Odfelde vorausverkündigt hatten, das setzte sich nun ins Werk, für das Kloster Amelungsborn zuerst vom Süden her. Der Franzmann war in Wirklichkeit auf und drängte wieder nordwärts mit Roß und Mann, mit Wagen und Geschütz. Seinem Zuge aber durch die Novembernacht voran flog ein einzelner, ein anderer Vogel gen Amelungsborn. Einer, der eben schnöde aus dem neuen Nest der weiland gelehrten Schule zu Kloster Amelungsborn geworfen worden war. So einer von den pro tempore Glücklichen, so um das neunzehnte Lebensjahr herum, ganz ohne alle Bagage, Proviant und Kriegskasse für den Marsch, in leichtem, noch ganz sommerlichem Kollett, dünnen Kniehosen und Strümpfen, doch auf dauerhaften Sohlen – Monsieur Thedel von Münchhausen, der neuen Hohen Schule zu Holzminden erster – »noch zu Amelungsborn oft genug verwarneter« – Relegatus!... Ach, der Magister Buchius kannte ihn schon!... Daß er, Monsieur Thedel, der tolle Thedel, die Gegend zwischen der Weser und der Homburg auch bei Nacht kannte, das war diesmal wirklich sein Glück. Wäre es bei Tage gewesen, so hätte man es ihm wohl angesehen, daß ihm das Gezweig im Dickicht häufig genug den Hut vom Kopfe gestoßen habe, daß er nicht selten der ausgefahrenen Heerstraße aus dem Wege gegangen sei und einen Umweg durch die Wildnis nicht gescheut habe, um einem unnötigen oder gar niederträchtigen Aufenthalt auf seinem Marsche auszuweichen.

Mehr denn einmal hatte ihn das Marodevolk von Auvergne, Pikardie oder hatten ihn welche von den Freiwilligen von Austrasien zum Führer brauchen wollen; doch auf die Gefahr hin, am nächsten Baum zu baumeln, war er den Zumutungen entgangen. Auf Stunden Weges wenigstens hatte er, wie er vermeinte, den Herrn Herzog von Broglio hinter sich gelassen und seine blauen, weißen und gelben Dragoner oft recht nahe auf den Fersen gehabt. Wie konnte der holzmindensche Schüler genau wissen, wo der große französische Oberfeldherr in diesen Tagen sich persönlich aufhielt? Hinter Lobach unter dem Eberstein hatte er aber seinetwegen jeden gebahnten Weg ganz aufgegeben und sich ganz im Walde verloren. Verloren? Das nun wohl nicht im wörtlichsten Sinne des Wortes. Dazu kannte er – leider Gottes – das Revier zu gut als der schlimmste nächtliche Wilderer der Sekunda und der Prima der frommen und hochgelahrten Klosterschule von Amelungsborn. Daß er dem Strick des Herrn Generals von Poyanne entging, war eigentlich gar kein Wunder, da ihn seinerzeit die Büchsenkugeln der Herzoglich Braunschweigischen Kammerförster der ganzen lustigen grünen Wildnis auch höchstens nur geschrammt hatten.

In Negenborn hätte er einkehren dürfen, da der fränkische Heereszug in dieser Nacht noch nicht über Bevern hinausging; aber vielleicht war dort im Dorfe der unruhigen Zeiten halber der Förster auch noch wach. Herr Thedel von Münchhausen ging lieber auch um Negenborn herum, eben wegen zu guter Bekanntschaft mit dem Förster dort, und schlug sich rechts durch den Wald, in welchem er von hier an jeden Baum, Stein, Stock, Stuken und Erdfall so genau kannte wie nur irgend Fuchs, Dachs, Hirsch, Reh und Wildschwein, sowie herzogliche grünröckige Beamtenschaft im Revier. So kam er ein wenig außer Atem und mit fressendem Hunger, aber bei sonst gesunden Gliedmaßen an auf dem südlichen Rande des Hooptals gegenüber dem Küchenbrink und Auerberge und saß, mitten in der Novembernacht den Schweiß von der Stirn mit dem Ärmel trocknend, einen Augenblick auf einem Stein und meinte:

»Guck, er hat immer noch Licht!«

Nach dem kurzen Augenblick des Verschnaufens nun hinunter zum Forstbach und auf der andern Seite des Tals wiederum in die Höhe, den steilen Abhang empor, zu dem Lichtschein aus der Zelle des Bruders Philemon und des Magisters Noah Buchius! Auch da ging am Gestein und im Gestrüpp ein Schlupfweg, den nicht alle Leute im Kloster so gut kannten wie der Junker Thedel von Münchhausen, welcher aber sicher doch schon seit manchem lieben Jahrhundert von Geschlecht zu Geschlecht durch die Leute von Amelungsborn hinter der Hand zu nützlicher Kenntnis weitergegeben worden war.

»Der Schrecken, wenn ich ihn jetzt von hier aus auf sein: Qui vive? anschriee: France!« lachte der wilde, junge, nächtliche Wanderer, die flache Hand an die Mauern von Kloster Amelungsborn legend. »Aber wissen möchte ich wohl, wie spät es eigentlich am Tage ist. O Selinde, Selinde, du wirst nicht mehr Licht haben wie der Magister! Mein Herz, ach, wenn du wüßtest, wer jetzo hier um die Mauern schleicht!«

Er schlich oder tastete in Wahrheit jetzt die Mauer des Klosters entlang. Wo andere um diese dunkle Stunde Hals und Beine gebrochen haben würden, ging er sicher wie – ein Nachtwandler. Jawohl, es war auch nicht das erstemal, daß er auch hier über dem Hooptal verbotene Wege gewandelt war. Der Baumast, der dort, wo die Gebäude zu Ende sind und die Hofmauer anfängt, an diese Mauer reicht, hängt seit der Tertia seiner nächtlichen Abenteuer voll.

Er reitet auf diesem Ast, als der erste Hund von Amelungsborn seine Visite merkt und anschlägt. Und – bum – bum – bum, da ist auch die Turmuhr. Wie dem Magister Buchius zählt sie dem Junker Thedel von Münchhausen die elfte Stunde des Abends zu; aber dem Junker fehlt freilich die Muße, die feierlichen, langsamen Schläge gelassen nachzuzählen.

»Verfluchte Köter!« murmelte er auf seinem Zweige zwischen den Zähnen. »Das ganze Nest machen sie mir rebellisch! Da hätte ich ebensogut morgen früh mit dem Herrn Marquis von Poyanne einrücken können! O Selinde, Mademoisell Selinde, mein Stern, meine Fackel, mein Herzbrand!«

Und trotz allem Gekläff und Gebelfer in allen Tonarten der Hundekehle aus allen Gehöften der weiland Brüder Zisterzienser mit einem letzten Schwung vom Ast auf die Mauer! Erst rittlings da und dann mit beiden Beinen in den Klostergarten hinunter baumelnd:

»›Was denkt ihr doch, ihr kühnen Sinnen?
Ihr geht auf all zu hoher Bahn;
Denn euer frevelndes Beginnen
Will weiter, als es steigen kann,
Weil ihr dasselbe lieben wollet,
Was ihr doch nur anbeten sollet‹; –

blaff, waff, waff, blaff, die Kompagnie gibt nicht nach. Sie bringen mir den Amtmann mit allem, was eine Mistgabel, einen Dreschflegel oder eine Donnerbüchse halten kann, auf den Hals. Sie wecken mir dazu freilich mein Zuckerkind, mein süßes Herzchen, mein Selindchen. Hier, hier, kusch Erdmann, kusch Fidel, kusch Spitz, Mops und Schäfertewe. Hab ich's nicht gesagt, da bellen auch schon der Herr Klosteramtmann in der Zipfelkappe aus dem Fenster dazwischen. Ach Selinde, o Selinde –

›Und also lieb ich mein Verderben
Und heg ein Feur in meiner Brust,
An dem ich noch zuletzt muß sterben,
Mein Untergang ist mir bewußt.
Das macht, ich habe lieben wollen,
Was ich doch nur anbeten sollen!‹«

Der Hund, der den Alarm gegeben hatte, stand innerhalb des umfriedeten Bezirks mit den Vorderpfoten hochauf gerichtet an der Mauer und blaffte immer wütender zu dem nächtlichen Eindringling empor.

»Kotz Blitz«, rief dieser. »Ich bin's, Erdmann! Pfü-it!« Und ein langgezogener Pfiff verwandelte das Gebell des treuen Wächters zuerst in ein erstauntes Schweigen, sodann in ein zärtlich Winseln und freudig Hin- und Herspringen. Schon stand der Schüler unten im Hof –

»Hund! Spitzbube, hab ich dich!« schrie's ihm im Ohr, und ein schwerer Prügel wurde ihm um den Kopf geschwungen.

»Diesmal bin ich's noch einmal, Heinrich!« flüsterte der Junge lachend. »Hand vom Kamisol; und – wer ist außer dir noch wach zu Amelungsborn?«

»Herr Gott, unser Musjeh Thedel!« stammelte der Knecht Heinrich Schelze. »Der Herr Junker von Münchhausen. I du meine Güte – nu, nu – also noch einmal so mitten in der Nacht? Ach je, ach herrje!«

»Kerl, so bring doch zuerst die andern verdammten Bestien zur Ruhe. 's ist doch nicht das erstemal, daß wir uns so treffen hier an der Mauer? Diesmal aber habe ich nicht die Förster, sondern die Franschen auf den Hacken. Und der Herzog Ferdinand ist über die Weser, und ich bin auf dem Wege zum Herzog Ferdinand –.«

»Auch der!« murmelte der Knecht.

»Und da wollt ich im Vorbeigehn doch von allen hier zum allerletztenmal Abschied nehmen. Was macht Jungfer Fegebanck, und wie geht's dem Herrn Magister? Jetzt aber sage Er gar nichts mehr, Schelze, sondern bringe Er die Hunde und den Klosteramtmann zur Ruhe. Meine Wege hier weiß ich ja wohl noch, das weißt du ja, Kamerad. Gute Nacht; ich krieche wohl schon irgendwo unter und am liebsten beim Magister Buchius. Also bis morgen früh, Heinrich!«

»Es war ein Baummarder, Herr Klosteramtmann, den unser Erdmann an der Hooptalsmauer gestellt hatte«, rief's fünf Minuten später zu dem Fenster des Gestrengen empor. »Die Franschen kommen erst morgen früh. Es ist wohl erst Ahrholzen, was jetzt brennt, – oder Schorborn! Wir haben wohl noch Zeit bis morgen mit ihnen. Wünsche eine recht wohlzuschlafende Nacht, Herr Amtmann.«

Als der arme Herr sein Fenster hastig wieder geschlossen hatte, hob der Bösewicht darunter noch einmal die Faust zu ihm empor, schüttelte sie und grinste:

»Lasse Er sich auch was recht Schönes träumen, Herr Klosteramtmann.« Nachher setzte er aber noch kopfschüttelnd hinzu: »Na, das soll mich doch nun wundern, ob der Herr Magister dem da, unserm Junker, sein Verlangen nach Seiner Durchlaucht auch austreiben werden.« –


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