Wilhelm Raabe
Der Dräumling
Wilhelm Raabe

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Das dreiundzwanzigste Kapitel.

Nein, der Dräumling hatte ihn noch gar nicht losgelassen.

So leicht läßt der Dräumling keinen frei.

Der quieszierte Festunternehmer sah sich noch immer in dem Atelier des wohlwollenden Gastfreundes vor dem Bilde der Muse, welche ihm eine so gute Bekannte war. Übrigens erforderte es, wie stets in solchen Fällen, ein längeres Horchen nach dem plötzlichen Aufschrecken, ehe er ganz und gar ermessen hatte, wie außerordentlich der Spektakel war, welchem die Stille und der Friede, die ihn so süß nach den Qualen des Tages einlullten, weichen mußten. Trotzdem daß die Werkstatt des Malers, wie wir wissen, dem freien Felde zu gelegen war, drang von der Marktseite her und aus den Gassen der Stadt der bedeutendste Lärm zu den erstaunten Ohren des freiwillig Eingesperrten. Rauschende Musik, welche jedoch, wie gesagt, nichts mit den Klängen der Sphären zu schaffen hatte, und vielstimmiges Jauchzen, jedoch nicht der himmlischen Heerscharen, sondern der Bevölkerung von Paddenau, erschütterte die Nacht und die Novemberluft. Dumpfe Paukenschläge ließen die zierlichen Kettchen, an welchen die dreischnäblige antike Lampe hing, die ganz klassisch den Schlummer des lateinischen Schulmeisters beleuchtet hatte, erzittern. Der Rektor Fischarth stützte sich, vorgebeugt, auf beide Armlehnen seines Sessels und sah starr nach der Tür, welche aus dem Atelier in das Wohngemach führte. Das Haus der tauben Witfrau war ebenfalls voll von Klängen der verschiedensten Sorte, und vielfüßiges Getrappel polterte auf der Treppe, vielfäustiges Gepoche donnerte an die Pforte der Wohnung des Malers Rudolf Haeseler.

Jeder Mensch, der auf eine solche oder eine ähnliche Weise aus einem angenehmen Schlummer (wenn ihn derselbe auch nicht in den Olymp führte) erweckt wird, denkt naturgemäß und zu allererst an Mord, Totschlag, Brand, Aufruhr und Erdbeben; sodann – notabene wenn er verheiratet ist – an sein Weib und seine Kinder, und der Rektor von Paddenau fiel nicht aus der Regel heraus. Außerdem fiel er aber auch, wie wir erfuhren, aus dem Olymp, und die phantasiereichsten Menschen fassen sich bei derartigen Gelegenheiten am schwersten und retten sich viel eher mit dem Stiefelknecht als mit dem Geldkasten und der Familie auf die Gasse. Man konnte von unserm Freunde Fischarth nicht verlangen, daß er ruhig die erloschene Zigarre von neuem an der antiken Lampe anzünde, ehe er ging, um gemächlich jene Tür, welche ihn noch von der Außenwelt trennte, zu erschließen.

Er ging durchaus nicht gemächlich hin, um den Schlüssel im Schloß umzudrehen. Er war aufgesprungen und sprang von neuem im Gemache umher; er warf verschiedene Stühle über den Haufen, stieß mit der Stirn an eine Schrankecke und schrie:

»Was ist denn? was ist denn? Donnerwetter, was ist los?«

Draußen trommelte es wütender an der Tür:

»Aufmachen! Vivat! Vivat Schiller! Vivat Fischarth! Hurra, – aufma – chen!«

»Gleich!« kreischte der taumelnde Rektor, nach dem Türgriffe tastend.

»Himmeldonnerwetter, gleich, gleich!«

Und wieder fuhr er zurück; denn was jetzt geschah, trieb selbst die taube Witwe, die Besitzerin des Hauses, an, sich die Ohren mit beiden Händen zuzuhalten. Ein gewaltiger Tusch, geschmettert von Trompeten und Hoboen, gewirbelt von Pauken und Trommeln, erschütterte das Haus bis in seine Grundfesten und trieb gleich am folgenden Tage den städtischen Baumeister zu einer amtlichen Untersuchung des Mauerwerkes an.

Wieder warf der Rektor im Zurückfahren einen Stuhl um.

»Hurra! Vivat! es lebe unser Mitbürger Fischarth! es lebe der Herr Rektor Fischarth! Dreimal hoch! Vivat! – vivat! – vivat!«

Außer sich stürzte sich der Gefeierte wieder auf die Tür; wie es ihm möglich wurde, den Schlüssel umzudrehen, konnte er nachher nicht angeben; aber es wurde ihm möglich. Die von den Andrängenden aufgeworfene Pforte schleuderte ihn fast zu Boden; mit aller Wucht und Gewalt, jedoch nicht ganz so, wie er es sich in seinen idealen Phantasien vorgestellt hatte, drang das hohe Fest, das ihn so viel heißen und kalten Angstschweiß gekostet hatte, geleitet von dem Freunde und Sumpf-, Heide- und Moor-Maler Haeseler, auf ihn herein.

Auf der Schwelle des Ateliers, von den Nachdringenden auch ein wenig katapultenhaft geschleudert, erschien, beleuchtet von verschiedenen buntfarbigen Papierlaternen, der Maler, griff taumelnd dem taumelnden Philologen in das Halstuch, hielt sich, hielt ihn und rief mit einem Grinsen, welches ihm den Mund bis zu beiden Ohren auseinanderzog:

»Bist du bereit? Wir sind es! Es ist halb sieben Uhr, und es ist die höchste Zeit für den grünen Esel!«

Nun kann man wohl einen Menschen, der uns einen hinterlistigen Streich spielte, wenn er allein kommt, um Abbitte zu tun, oder seine Handlungen durch Reue zu beschönigen oder durch eine kluge Darlegung zu rechtfertigen, am Kragen nehmen und, ohne auf Vernunft zu hören, tüchtig durchschütteln: – wie aber, wenn der Sünder kommt wie der Heidemaler Rudolf Haeseler, unter Fackelschein, mit Trommelwirbel und Drommetenklang und begleitet von sämtlichen Mitgliedern des Paddenauer Schillerausschusses und einem nicht unbedeutenden Teile der Stammgäste des runden Tisches im grünen Esel?!

Ist überhaupt ein Mann, der sich eben im Saal der Götter auf einen purpurnen Wolkensitz niederließ und durchbrach, ein Mann, der aus dem erhebendsten Traum durch solch ein schauderhaftes Getöse gerissen wird, überhaupt imstande, sofort dem Getöse gegenüber seine Stellung einzunehmen und einen klaren Überblick über die Sachlage zu gewinnen?

Die Masse in ihrem wüsten elementarischen Andringen hat ihr Recht, oder vielmehr ihre Macht nur allzu häufig über die besten Köpfe, die eisernsten Herzen behauptet, und ihr Unrecht ihnen gegenüber mit verdoppelter Energie festgehalten. Der Rektor im Dräumling, der weder einen besten Kopf besaß, noch auf ein eisernes Herz einen irgend gerechtfertigten Anspruch erheben konnte, stand – starrte – rieb sich die Augen – stammelte verworrene Worte: was sollte er auch anders machen?

Mit vielem theatralischen Talente hatte ihm der Maler die Arme um die Schultern und den Kopf an den Busen gelegt, und wenn es nötig gewesen, würden ihm wahrscheinlicherweise auch die Zähren für den feierlichen Moment nicht gemangelt haben.

»Sage mir –« schrie der Rektor.

»Sage mir nichts!« ächzte der Maler. »Begreife die große Stunde und ergib dich deinen Mitbürgern. Steigen wir zum Kapitol empor, den Göttern zu danken – marsch!«

Der Festordner ergab sich wirklich seinen Mitbürgern; er ergab sich wie ein junger phantasievoller Araber, der sich entweder heimlich im verbotenen Saft der Traube berauscht hat, oder sich plötzlich in den Händen eines tibetanischen Zauberers und in der Gewalt sämtlicher Dämonen, Dschinnen und Gulen der Wüste Kobi findet, und sich willenlos von einem gespenstischen Sturmwind weit über Samarkand hinaus ins Ungewisse, Grenzenlose fortwirbeln lassen muß. Der Dräumling, politisch aufgeregt, war schlimm; aber ästhetisch aufgeregt war er noch schlimmer.

Es ging die Treppe hinunter, und erst auf der untersten Stufe hielt der betäubte Fischarth dem Maler die Faust unter die Nase:

»Mein Junge, Rechenschaft verlange ich doch! verlaß dich drauf!«

»Sind dir die Schlüssel zu Händen gekommen?«

»Freilich!«

»Nun, so werde ich mit Vergnügen dir die gewünschte Rechenschaft ablegen. Alles Phlegma des Dräumligs auf dein Haupt! Weshalb kamst du mir nicht nach, nachdem ich dir die Gelegenheit gegeben hatte, dich zu sammeln? Mir scheint, die Enkel deiner Enkel werden mich noch segnen, weil ich heute ihren Ahnherrn vor der Überführung in das Landesirrenhaus bewahrte.«

Was der Ahnherr des Hauses Fischarth auf dieses große Wort seines Freundes erwiderte, ging den Enkeln leider vollständig verloren; denn beide Herren traten eben aus der Haustür der tauben Wittib und wurden auf der Straße von einem Jubelgeschrei Paddenaus in Empfang genommen, welches den demagogischen Talenten Haeselers alle Ehre machte. Er hatte seine Zeit wohl benutzt, und es zeigte sich wieder einmal, daß es den übelberüchtigtsten Individuen am schnellsten und leichtesten gelingt, sich im gemeinen Wesen an die Spitze der aufgeregten Massen zu stellen, wenn sie, die munteren Schlauköpfe und tatkräftigen Heimtücker, ihr Vergnügen oder ihren Vorteil dabei zu finden glauben.

Der liebe Freund Haeseler fand jedenfalls sein Vergnügen dabei, aber ob er seinen Vorteil dabei fand, mußte die Zukunft ausweisen; denn nicht ein jeglicher, der eines Wunsches Erfüllung erlangt, ist nachher imstande, zu behaupten, es sei ihm unmöglich gewesen, sich etwas anderes, Besseres, z. B. das Gegenteil seines Wunsches zu wünschen.

Lassen wir ihn das mit Knackstert Witwe und Sohn ausmachen; augenblicklich gab sich auf seinen Betrieb die Paddenauer Stadtmusik von neuem mit Aufbietung aller Kräfte an ihr disharmonisches Geschäft. Der Zug in den grünen Esel ordnete sich und setzte sich in Bewegung; wir aber, die wir zu Ehren des gefeierten Dichters seine edeln Werke von neuem lasen, ziehen Vorteil daraus und zwar in diesem eben gegebenen Falle aus der Tragödie Maria Stuart.

Wir gehen nicht mit auf das Schafott, und führen auch die Leser nicht dahin!

Wie der Graf Leicester nehmen wir unsern Standpunkt über dem Jammer – nein, nicht über dem Jammer, sondern unter ihm!

Da wir keine hohe unsterbliche Tragödie schaffen, sondern nur eine harmlose Posse aus der Kinderstube des Lebens liefern, so halten wir uns ruhig unter den großen Dingen, die im Festsaale vorgehen. Wir bleiben bescheiden in der Gaststube, die, wie wir wissen, unter dem Festsaale gelegen ist, brauchen aber auch keineswegs zusammenzufahren, wenn droben etwa ein Schemel gerückt werden sollte.

 


 


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