Wilhelm Raabe
Der Dräumling
Wilhelm Raabe

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Das fünfte Kapitel.

Die Schifferin, welche in der Tat eine ungemein reizende Schifferin war, landete unter dem Gartenzaun des Paddenauer Rektors, herzlich begrüßt von der Rektorin, und von dem Maler mit großer Dienstfertigkeit beim Erklimmen der ausgetretenen Stufen, die zu dem Garten emporführten, unterstützt. –

Die Frau Agnes übernahm sofort die formelle Vorstellung der Tochter des Geheimen Hofrats Mühlenhoff, Wulfhilde Mühlenhoff, und des Malers Rudolf Haeseler. Die Herrschaften hatten einander zwar bereits gesehen in den Gassen von Paddenau, allein es war dem Maler gewiß nicht zu verdenken, wenn er die Gelegenheit nicht vorübergehen ließ, das schöne junge Mädchen – das schönste junge Mädchen des Dräumlings, nunmehr auch reden zu hören.

Wulfhilde sagte jedoch fürs erste wenig.

Die Drillinge nahmen ihre ganze Beteiligung in Anspruch, und die Mutter der Drillinge führte selbstverständlich und mit Energie das Wort über die beiden Wiegen. Der Maler saß, sah und lauschte und fuhr fast erschrocken in die Höhe, als die Rektorin bemerkte:

»Unser Freund hier war eben im Begriff, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, liebe Wulfhilde. Wir machen uns schon seit einer Stunde gegenseitig die kuriosesten Bekenntnisse. Setze dich, wenn du ein wenig Zeit hast, höre ihn sprechen und hilf mir, ihn zu begreifen.«

»Bin ich denn so sehr dunkel gewesen, Frau Agnes?«

»Wie einem in Berlin, gar nicht zu reden von Rom und Griechenland, das Ideal vor die – verloren gehen kann, das ist mir dunkel.«

»Darf ich ein wenig aus meinem Leben und dem, was damit zusammenhängt, erzählen?« fragte der Maler, sich an das Fräulein wendend.

»Ich bitte darum,« sagte Wulfhilde Mühlenhoff ganz ruhig.

»Hast du dir ein Strickzeug mitgebracht, Kind?«

»Nein,« sagte Wulfhilde einfach, und der Maler, der übrigens gegen einen weißen Strumpf an einem wohlgeformten Bein nicht das mindeste einzuwenden hatte, dankte allen von ihm schnöde verleugneten olympischen Göttern und Göttinnen und begann, ebenfalls ohne alles Pathos, seinen Bericht:

»Mein Vater war einer jener guten Geschäftsleute, die unser Herr Jesus einst so kurzweilig aus dem Tempel jagte. Er war ein Wechsler – was man heutzutage einen Bankier nennt, und er muß wohl meistens zu seinem Vorteil gewechselt haben; denn als er mich meines unverständigen Lebenswandels halber zu enterben drohte, legte er mir vorher eine Bilanz seines Geschäftes vor. Der Glanz in der Nacht des Correggio ist nichts gegen das Licht, welches aus seinem – meines Vaters – Hauptbuche auf mich eindrang! Es war wirklich überwältigend und trieb mich auf der Stelle in das Dilettantentum hinein. Wir waren ein gebildetes Haus; meine Mutter war eine gebildete Frau, deren Vater erst zum Christentum übergetreten war – eine stattliche Frau, schwarzlockig, korpulent und ästhetisch –«

»Das geht gut an!« sagte die Frau Agnes.

»Eine gute Frau, obgleich eine Närrin, die niemals wußte, was sie wollte, und überall konfuse Liebhabereien in den hellen Tag hinein vor sich hertrieb wie eine Herde unflüggen, gackelnden, hüpfenden Federviehs. Mein Vater wußte stets, was er wollte, und wenn er etwas vor sich hertrieb, so ging es damit einen ganz bestimmten Weg, und seine Klienten erfuhren sicherlich am Ziele, daß jemand sie nicht ohne seine Gründe grade diesen Weg geführt habe. Haeseler und Sohn! das Weltall als Piedestal für Haeseler und Sohn! . . . Meine Mutter war aus Düsseldorf und hatte drolligerweise Geschmack an den bildenden Künsten gefunden, und von sehr früher Jugend an wußte ich, daß nichts einem Salon zu einer wohlfeilern und glänzenderen Zierde dient, als ein berühmter Künstler, zumal wenn er gutmütig genug ist, dann und wann ein Blatt in einem Album auszufüllen und mit seinem Namen zu zeichnen. Solange nun meine Mutter lebte, und das war bis zu meinem vierzehnten Jahre, hatte ich mit den übrigen guten Tierchen zu repräsentieren, und war ich in ihren Salons ein Joujou wie alles andere, welches nicht daraus wegblieb, oder daraus wegbleiben konnte. Nach ihrem Tode war auch ich natürlich nichts weiter als eine miserable Verquickung von Nichtswissen und Nichtswollen; aber zugleich ein Ding, das, wenn man an ihm drehte, ein wenig Musik machte, ein wenig mit dem Zeichenstift und dem Pinsel umgehen konnte, und den Umgang mit den künstlerischen Hausfreunden dem mürrischen Kontor des Papas weit vorzog. Allein der Papa war nunmehr imstande, seine Ansicht von der Welt und dem Leben geltend zu machen, ohne von der Mama sofort an ihr Eingebrachtes erinnert zu werden. Er sendete mich, um mich, wie er sich sehr roh ausdrückte, fürs erste einmal auszulüften, nach Bremen zu einem Onkel, der große überseeische Geschäfte machte –«

»Jetzt seien Sie erst mal still,« sprach die Frau Rektorin. »Ich finde die Art und Weise, in der Sie von Ihren Eltern reden, zum mindesten im höchsten Grade pietätlos. Findest du das nicht auch, Wulfhild?«

Wulfhilde Mühlenhoff, die Tochter eines wirklichen Geheimen Hofrats und vormaligen Prinzenerziehers, überhörte selbstverständlich die Frage, und die Frau Agnes war viel zu angenehm unterhalten, um auf dieses Überhören zu achten.

»Fahren Sie fort!« rief sie, und Wulfhilde nickte leise, als sich der Maler an sie wendete mit der Frage:

»Darf ich?«

Er durfte sicherlich, und er fuhr fort:

»In Bremen und im Hause des Onkels wurde erst recht nichts aus mir, und nach einem oder zwei Jahren fand mein Papa das denn auch heraus. Er beorderte mich heim und stellte ein scharfes Examen mit mir an, wovon die Folge war, daß er wieder einmal seinen Willen bekam, und daß ich bis zu seinem Tode den Kaufmann, so gut es eben gehen wollte, agierte und mich – zu einem Kunstfreund mit Mitteln, zu einem hochsträßlichen Mäcenas in der Stille, gähnend weiter heranbildete. Frau Agnes Fischarth, es ist nicht ganz und gar verwerflich, wenn der Mensch beizeiten sich darauf einrichtet, über seine Unglücksfälle mit Gelassenheit reden zu lernen! Der Onkel in Bremen, jener merkantile Leuchtturm, den wir von Köln aus stets mit Bewunderung und Erstaunen im Auge gehalten hatten, löschte urplötzlich aus, das heißt, er machte bankerott, und mein armer Vater hatte infolge davon gleichfalls zu liquidieren. Er brach durch die Bank geistig und körperlich, und wie es sich auswies, ganz ohne Grund. Er starb und am Tage nachher ergab es sich, daß er nicht mehr als zwei Drittel seines Vermögens eingebüßt hatte; – ich fand mich auf ein jährliches Einkommen von ungefähr dreitausend Talern beschränkt und bin bis jetzt so ziemlich damit ausgekommen.«

»Wir haben fünfhundert Taler Gehalt und bekommen vierzig Taler Mietsentschädigung,« seufzte die Frau Agnes mit einem wirklich wehmütigen Blicke auf ihre beiden Wiegen, auf welchen aber diesmal der Maler nicht achtete.

»Zwei Jahre lebte ich in Bonn in Gesellschaft des Bremer Onkels, den ich aus den Ruinen seines Hauses herausgeholt hatte, und welcher das Zeitliche mit dem Ewigen vertauschte, als ich eben einundzwanzig Jahre alt geworden war.«

»Unter Umständen scheinen Sie mir doch ein recht guter Mensch sein zu können, Herr Haeseler!« sagte die Paddenauer Rektorin.

»Davon sollen Sie sogleich noch inniger überzeugt werden. Beste,« rief der Gastfreund. »Diese eben gemeldeten zwei Jahre in Bonn gehören zu den altgenehmsten meines Lebens. In ihnen lernte ich meinen Freund Gustav, der da oben hinter dem Weinlaub seine blauen Hefte korrigiert, und welcher damals dort Philologie studierte, kennen. Ich half ihm den Rest seines Väterlichen wenigstens mit Verständnis unter die Leute zu bringen –«

»Jesus, ich nehme alles zurück, was ich eben Gutes von Ihnen gesagt habe!« rief die Frau Agnes außer sich vor verblüfftem Erstaunen; aber Wulfhilde Mühlenhoff lachte so glockentönig, daß sie dadurch den verwegenen Künstler gegen jeden – tätlichen Angriff deckte.

»Ich versichere Sie, liebe Gevatterin, er brachte den Mammon mit Gewinn – ja mit großem Gewinn unter die Leute.«

»Das weiß der liebe Himmel!«

»Wir trieben freilich auch sonst noch allerlei Allotria miteinander, Geschichte, Philosophie, Ästhetik –«

»Bitte gefälligst, einen Augenblick; jetzt möchte ich doch gern, daß Gustav bei Ihren fernern Konfessionen zugegen wäre. Mit seinen Korrekturen muß er nun allmählich fertig sein. Ich meine, wie rufen ihn.«

»Ich habe wenig mehr von ihm zu sagen. Er ging nachher seines Weges und ich des meinigen.«

»Ich halte es für besser, daß wir ihn rufen; denn sollte er doch noch einmal in Ihrer Historie vorkommen, so ist es mir, offen gestanden, lieber, wenn ich ihn sofort zur Hand habe. Für dich ist es ein rechtes Glück, daß du dein Schifflein hierher gelenkt hast, Wulfhild; heute kannst du etwas lernen! Willst du die Güte haben, mal unter seinem Fenster zu rufen?«

Das Fräulein erhob sich, und der Maler erhob sich im nämlichen Augenblick:

»Ich rufe mit!«

Die Frau Agnes blieb zwischen ihren beiden Wiegen sitzen, doch die beiden andern traten aus dem Garten in den Hof und sahen nach der Stube des Rektors empor. Die Fenster standen offen, es lag ein tiefer Friede, eine unsägliche Ruhe über Paddenau und dem Dräumling, und man vernahm von dem Hof aus deutlich, mit welchen Expektorationen und Paraphrasen und Parabasen der vergnügte Lateiner seine schauerliche Berufsarbeit begleitete.

»Hören wir ihn einen Augenblick, ehe wir uns mit unserm Auftrage an ihn wenden, Fräulein Mühlenhoff,« sagte der Maler, und das Fräulein nickte heiter und meinte:

»Ich höre ihn sehr gern!«

Aus dem geöffneten Fenster erklang es:

Wen ein Gott
In früher Stunde
Hinausführt, ihm leitend
Den kindlich unsichern Schritt,
Und stellt ihn auf den Berg
In die junge Sonne,
Wahrlich der wird
Ein anderes sehen,
Als der erhabene Unglückliche,
Welchem der Dämon
Um die Stunde des Mittags,
Auf halbem Wege
Des Menschenlebens,
Die Stirn berührt.

»Recht hübsch!« brummte der Maler.

»Mir scheint das sogar sehr schön zu sein!« flüsterte das Fräulein. »Ich bitte, stören Sie ihn nicht.«

Der Maler sah seitwärts auf den erwartungsvoll ein wenig geöffneten roten Mund und die glänzenden Augen der jungen Dame, und wäre in der Tat ein sehr albernes Subjekt gewesen, wenn er die Aufmerksamkeit der freudigen Lauscherin, und wäre es auch durch den besten Witz geschehen, auf sich gezogen hätte.

Aus der Höhe summte es mit Pathos hernieder:

»Es wird wachsen mit dem Tage
Das Kind,
Wird mit dem Auge des Adlers
Den feurigen Ball
Vom Aufgang zum Niedergang
Ruhig verfolgen.
In die Saiten der Leier,
Über welche der Knabe
Mit kindischer Hand
Lächelnd fuhr,
Wird greifen der Jüngling
Sieghaft und königlich
Und wieder lächeln.
Es wird der Mann
Dem Sturme stehen
Und seine Brüder
Mit leuchtendem Schilde
Gelassen decken.
Es wird der Greis
In heiterm Sinnen
Der dunkeln Nacht
Entgegenblicken,
Und hoher Ahnen
Göttliches Winken
Im klingenden Herzen
Hinübergehen:
Mehr Licht!«

Der Maler schlug mehr als bloß symbolisch die Hände über dem Kopf zusammen; doch Wulfhilde Mühlenhoff flüsterte:

»O bitte, lassen Sie ihn. Ich höre ihn so wirklich zu gern.«

Und von oben herab erscholl es im tiefsten Brustton und, sozusagen, in vergnügtester Zerknirschung:

»Aber der andre
Aus kreischendem Wirrsal
Empörter Städte
Verliert sich im Wald
Von glühender Heide.
Es folgen ihm fernher
Fluchwort und Drohwort,
Seufzen der Freunde,
Triumphschrei des Feinds.
Da steht er und zaudert,
Die Schrecken des Todes
Sind um ihn und in ihm;
Gestein und Gestrüppe
Versperrt ihm den Weg.«

»Hören Sie, Fräulein,« rief der Maler, »alles, was billig ist; aber jetzt wird es am Ende doch Zeit, daß wir den Traumwandler packen und vom Dache reißen; er wird uns sonst nichts ersparen, weder den Zauberer Virgil, noch die holde Führerschaft Beatrices; er ist imstande uns durch sämtliche Kreise der Hölle zu schleppen, und wir haben doch auch ewige Rücksicht auf sein unglückliches Weib zu nehmen. Fischarth! He, Fischarth!«

»Was gibt's, Haeseler?«

»Deine Gattin wünscht mit dir zu reden.«

»Der letzte Schlingel wird soeben expediert, in zwei Minuten bin ich bei euch.«

»Halte Wort, alter Junge! Kommen Sie, Fräulein Wulfhilde. Na, er hat keine Ahnung davon, was für eine Suppe ich ihm dort in der Holunderlaube eingerührt habe. Möchten Sie wohl in seiner Haut stecken, Fräulein Mühlenhoff?«

 


 


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