Wilhelm Raabe
Der Dräumling
Wilhelm Raabe

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Das sechste Kapitel.

Nach fünf Minuten saß der Rektor von Paddenau wirklich wieder bei den andern in der Laube und hatte in der Tat ein scharfes Kreuzverhör über seine Bonner Fahrten und Taten, so wie über den Verbleib seines Väterlichen auszuhalten. Er kam aber doch noch gut ab, denn beide Damen waren allzu neugierig auf den fernern Lebensbericht des Künstlers.

»Wir reden heute abend noch ein weniges darüber, lieber Gustav,« sagte die Rektorin Agnes. »Das macht man besser unter vier Augen ab; hier würde dich augenblicklich alles zu sehr zerstreuen, mein Mäuschen. Wollen Sie nun die Güte haben, in Ihrer Erzählung von sich fortzufahren, Herr Urian?«

»Wenn Sie das eine Erzählung nennen – mit Vergnügen!« lachte der heimtückische Sumpfvirtuose. »Verzeihe, Gustav, nur der Zufall führte mich und deine gute Frau auf jenen unsichern Boden; ich rate dir; nimm nachher einen Anlauf und suche besser darüber wegzukommen, als wir beide. Also, Frau Gevatterin, er – nämlich mein Freund Gustav Fischarth, ging nach Hause und soll sich, einem dunkeln Gerücht zufolge, sehr bald verlobt und späterhin auch verheiratet haben; ich ging, nachdem ich vorher den Bremenser Onkel begraben hatte, nach Brüssel, unter dem Vorwande, die belgische Malerschule dort zu studieren. Ach, Frau Agnes, unter einem ähnlichen Vorwande war ich nachher in Italien, kopierte die Prärafaeliten, langweilte mich fürchterlich dabei und wurde noch fürchterlicher ausgelacht, als ich dann den Leuten mein erstes eigenes Bild, die Frucht jenes sonderbaren Gewühls von tiefsinnigem Gefühl und innigster Geschmacklosigkeit, vorzuführen die Impertinenz hatte. Heute noch schallt mir das Lachen Roms in den Ohren nach, das heillose Gelächter, welches mich begleitete, als ich vor meinem Erfolge über den Ponte molle Reißaus nahm.«

»Aufrichtig ist er, das muß man ihm lassen,« bemerkte der Rektor.

»Freilich könntest du dir in dieser Beziehung, jedoch nach einer andern Richtung hin, ein gutes Beispiel an ihm nehmen,« erwiderte ihm sofort seine Frau.

»Was hat unsereiner, wenn er nicht aufrichtig ist?« rief der Maler. »Und im vorliegenden Falle ist die Aufrichtigkeit gar kein Verdienst; denn der Gewinn, welchen ich damals machte, belohnte mich für vieles mehr als die einfache Menschenpflicht, wahr zu sein! Ich brachte eines mit von Rom nach München, was mich um ein Unendliches höher stellte als neunundneunzig neunzehntel Prozent meiner Brüder in Apell, nämlich die Sicherheit, die Gewißheit, sämtliche Studien, Kopien, Skizzen und Motive vor meiner Abreise vorsichtiglich verbrannt oder sonst vertilgt zu haben.«

»Mein Mann hebt alles auf, was er zusammenschreibt,« sprach die Frau Agnes.

»Aber er belästigt das Publikum nicht damit, und so legt sich denn die Sache in dieser Hinsicht etwas anders. Für einen strebenden, das heißt auf den Beifall und den Geldbeutel des Volkes Anspruch erhebenden Künstler gibt es kein wonnigeres Gefühl, als wieder einmal reine Bahn vor und hinter sich gemacht zu haben, und sich in den holdesten Spielen der Phantasie über das, was nun werden kann, zu ergehen. Speziell für den Maler gibt es nichts Herrlicheres als eine leere Studienmappe oder gar eine leere, graue, auf den Rahmen gespannte Leinwand. Der größte Pfuscher braucht da nicht mit Michelangelo Buonarroti zu tauschen. Die Sonne malt unter solchen Umständen selber in der Seele des begeisterten Narren, und nachher ist ihr – der Sonne – gegenüber ja selbst Michelangelo ein elender Pfuscher, sobald er wieder den ersten Kreidestrich auf der grauen Tafel gezogen hat. Sehen Sie, Frau Gevatterin, und Sie, mein teueres Fräulein, damit sind wir an jenem Punkte wieder angekommen, den wir uns vorhin klar zu machen wünschten.«

»Nun soll es mich doch wundern, worüber ihr eigentlich in meiner Abwesenheit geschwatzt habt,« rief der Paddenauer Rektor.

»Über die Laïs, die Korintherin, mein Sohn.«

»Was?« rief die Paddenauer Rektorin. »Ist denn das wahr, Wulfhilde? Ich bitte dich, Wulfhild, kannst du dem Herrn auf seinen Sprüngen noch folgen? Was mich anbetrifft, so bleibe ich von jetzt an ruhig sitzen und warte ab, daß er mir wieder verständlich wird.«

Wulfhilde Mühlenhoff legte den Finger an das Kinn und sah ruhig lächelnd auf den künstlerischen Gast des Dräumlings, der ebenso ruhig und lächelnd, doch nicht so schön lächelnd, sagte:

»Man behauptet, es sei nicht jedem gegeben, nach Korinth zu gehen, aber meiner Meinung nach ist jedermann auf dem Marsche dorthin, und die meisten langen auch wirklich daselbst an, obgleich sie es selber nicht wissen, und höchstens immer noch auf dem Wege zu der schönen Stadt zu sein glauben, während sie sich doch bereits auf der Rückkehr befinden. Für jedermann sitzt in Korinth das Ideal, die Freude, der Genuß; für uns im besondern aber sitzt dort die prachtvolle Dame, die Kunst, und lächelt jeden an, aber es ist ein eigentümliches Lächeln. Und wie geht man mit ihr um! Nicias schleppt sie als Gefangene von Sizilien nach Griechenland; Demosthenes, der Politiker, findet sie zu teuer für tausend Talente; in seinem Staate kann man das billiger haben. Xenocrates, der philosophische Narr, will weder in seinem System, noch in seinem Leben etwas von ihr wissen; aber Diogenes, der närrische Philosoph, weiß recht gut mit ihr auszukommen. Aristipp, der philosophische Tändler, besaß sie trotz seinem frechen Worte nicht, und Myron, der Bildhauer, der ihr zu Ehren seine weißen Haare schwarz färbte, kam dabei nicht auf seine kosmetischen Kosten und mußte sich mit Recht von ihr auslachen lassen.«

»Welch eine ungemeine philologische Belesenheit!« rief der lateinische Dräumlingsschulmeisier höchlichst erstaunt.

»Nicht wahr? Übrigens rede ich zu deiner lieben Frau, und du bist nur zum Zuhören herkommandiert, also behalte deine Anmerkungen für dich.«

»Jawohl, denke du an Bonn, deine dreitausend Taler und deine Dri – deine armen Kinder, Gustav,« sagte die Frau des Schulmeisters.

»Lassen wir ihn, Gastfreundin,« fuhr der Maler fort. »Jene waren allesamt große Herren, von denen man ungestraft geringschätzig reden darf, denn sie stehen zu hoch, um Schaden durch unser Geschwätz erleiden zu können. Für uns hier handelt es sich nur um die Plebs, die nach Korinth sich drängt. Die Beständigen darunter sehen mit einem Handbuch der Kunst in der Hand die Herrliche vorüberziehen. Die Albernen suchen ihren weißen Rossen in die Zügel zu fallen und sich auf den goldenen Wagen zu schwingen, sie schwingen sich aber höchstens auf den Bedientensitz oder auf den Reisekoffer, und auch dann noch ruft die mutwillige, kritische Straßenjugend: Madam, es sitzt wer hinten auf! . . . Die – nun die – die Leute unserer Art weichen, um nicht unter die Hufe der Götterpferde zu geraten, bescheiden zurück, machen eine tiefe Verbeugung – richten sich wieder auf und – gehen eben nach München, das Herz voll Sonnenschein und die Hände festgeballt in den Taschen.«

»Diese Lais soll aber, wie ich mich erinnere, ein recht sonderbares Frauenzimmer gewesen sein,« warf die Rektorin von Paddenau aus Beckers Weltgeschichte und dem steten Verkehr mit ihrem pädagogischen Gatten ein.

Der Maler erwiderte mit größtmöglichem Ernste:

»Freilich, und die Kunst ist Artemis, Pallas Athene, ist Madonna, ist Urania! Wir wissen das, und lasen das in den ästhetischen Handbüchern; allein des Phidias Aspasia, Rafaels Fornarina und so weiter waren ebenfalls recht sonderbare Frauenzimmer, und doch würde es ohne sie schlimm um die Uranien, Madonnen und Dianen aussehen. Frau Agnes, die griechischen Damen, soweit sie nicht recht sonderbare Frauenzimmer waren, haben die Lais denn auch, aus wohlverstandenem Interesse und vielleicht auch aus Neid, und nicht bloß aus Eifersucht auf ihre Schönheit, totgeschlagen im Tempel der Venus, und das wiederholt sich heute noch, und ich würde mir nicht erlauben, es zu sagen, wenn ich nicht selber einige solche Fälle erlebt hätte. Es waren die Männer damals, welche der großen Korintherin das Denkmal am Ufer des Peneus setzten, das Denkmal mit der Inschrift: Hellas, glorreich und siegreich, ward ein Sklav der himmlischen Schönheit der Lais, welche von der Liebe erzeugt und von Korinth genährt wurde. – Was die Herren heute nach einer solchen Mordtat der Damen tun, will ich dahingestellt sein lassen.«

»Es ist mir dunkel so, als ob ich die Unverschämtheit, die in allem diesem liegt, verstände,« sprach die Frau Agnes. »Ich will das ebenfalls dahingestellt sein lassen, aber ich bitte, jetzt kommen Sie endlich, endlich gefälligst darauf, wie Ihnen die Poesie verloren ging, Ihnen selbst, lieber Herr Haeseler.«

»Jetzt noch?« fragte der Maler mit einem Blicke im Kreise.

»Haben Sie es uns vielleicht bereits mitgeteilt? Bitte, lieber Herr Haeseler – in drei Worten!«

Und der liebe Herr Haeseler sah die junge Frau ein wenig von der Seite an, aber er faßte sich, leise und vorsichtig lächelnd:

»Also in drei Worten! Ich fand, daß mein Papa recht und meine Mama unrecht gehabt habe, und wenn ich nicht mein genügend Auskommen mir sicher gewußt hätte, so wäre ich auf der Stelle Photograph geworden und hätte die Sonne, von der ich vorhin sprach, in dieser Weise für mich wirken lassen. Der Wein, welchen Horaz und Virgil, Rafael Sanzio, Tizian und Correggio tranken, sagte meiner Natur nicht zu: aber das Münchener Bier brachte mich wieder auf die Beine, und darauf hoffe ich denn auch noch einige Zeit stehen zu bleiben. Dem Weltgericht in der Sistina gegenüber, vor dem Laokoon, ja selbst vor Myrons Kuh hatte ich Angst; aber im Panger Moos fand ich meinen Beruf, und den habe ich denn fortan gottlob festgehalten. O ich wachse auch mit meinen größern Zwecken; selbst Paddenau im Dräumling ist mir nur eine Station auf dem Wege in die Unsterblichkeit, – glücklicherweise die vorletzte! Die letzte führt mich mitten in die Lüneburger Heide hinein, und dort – ja nur dort, meine Damen, hoffe ich vergnügten und bescheidenen Gemütes dem Motive zu begegnen, welches mir meinen Platz im Konversationslexikon verschafft und durch mehrere Auflagen desselben verbürgt. Dort, in der nimmer genug zu preisenden Lüneburger Heide, so ungefähr zwischen der Örtze und der Meine, im großen Moor zwischen Winsen und Hudemühlen, werde ich mein erstes – hören Sie wohl, meine Damen – mein erstes Bild malen!«

»Das haben Sie denn ziemlich nahe,« sagte die Frau Agnes. »Aber hören Sie ebenfalls, lieber Haeseler, wenn es nicht augenblicklich recht abendkühl würde, und wenn ich nicht meine Kinder ins Haus zu schaffen hätte, so würde ich Ihnen genauer auseinandersetzen, daß weder ich noch Wulfhilde Mühlenhoff hier so dumm sind, als Sie uns taxieren.«

»Ach, mein Gott –« rief der Maler, doch der männliche Drilling unterbrach seine Widerrede durch ein schrilles Zetergeschrei. Beide weibliche Drillinge fielen sofort in die Symphonie ein, und beide erwachsene Damen zogen sich mit dem winselnden Kleeblatt eiligst ins Haus zurück, und aus der Tiefe desselben erklang es noch eine geraume Zelt: »Äh–hä–ä–äh–häh!«

»Die Bestie!« brummte der Sumpfmaler, und der Rektor von Paddenau sprach behaglich lachend:

»Ja, der Junge fängt das Konzert stets an; du brauchst übrigens darob nicht außer Fassung zu geraten, Rudolf. Meine Frau hat mit ihm einen Kontrakt geschlossen; er brüllt jedesmal auf der Stelle los, sobald bei irgendeiner Auseinandersetzung die Mama in Gefahr gerät, nicht das letzte Wort zu behalten. Ich hoffe, die beiden Mädchen werden dereinst sich auf meine Seite stellen.–«

 


 


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