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buchschmuck

D'siré

Der Julimittag lag heiß und blendend über dem kleinen, stillen Dorf, das in dem dürftigen Schatten der Pappeln zu schlafen schien, wie ein ermatteter Wanderer, der vor dem Weitermarsch ausruht. Ein elendes Dorf im unfruchtbaren Berry, hart an der steinigen Ebene von Avor, die in dem weißglühenden Sonnenstrahl aussah wie ein mit Gebeinen besätes Feld.

Vom Kirchturm tönten erst vier einzelne Glockenklänge als Vorspiel, dann schlug die Uhr zwölf.

Die Thür der dicht an der Kirche gelegenen Schule wurde geöffnet und über den Weg ergoß sich ein Schwarm von größern und kleinern Kindern, die einen Augenblick mit ihren schrillen Stimmen, ihren Balgereien und ihrem stürmischen Toben die Stille unterbrachen und sich dann wie ein heimkehrender Taubenflug in die verschiedenen Häuser zerstreuten.

Dann lag die Straße wieder einsam da und die aufgewirbelten Staubwolken verzogen sich allmählich. Nun erschien der Lehrer, ein magerer, hochgewachsener junger Mann mit blondem Haar und blondem Bart auf der Schwelle. Er schloß die Thür, steckte den Schlüssel zu sich und schritt schnell über den Weg, dem nahen Wirtshaus zu, das leicht zu erkennen war an dem Tannenzweig, den es statt des Schildes trug. Beim Eintreten gelangte man gleich zu ebner Erde in den großen kühlen Saal. Es war ein einfacher Raum, zwei Betten mit roten Vorhängen, einige Strohstühle und Tische bildeten die Einrichtung. Als der Lehrer eintrat, war der Tisch, an dem er zu essen pflegte, schon gedeckt. Alles war da, die drei übereinander gestellten zinnernen Teller auf dem groben, weißen Tischtuch, das eiserne Besteck und das Brot neben der Kanne mit Rotwein.

Justin Pauly setzte sich, entfaltete die Serviette und schnitt sich ein Stück Brot ab. Dann erst bemerkte er, daß er nicht allein im Saal war. An dem Tisch im Hintergrunde, der dicht an eines der Betten herangeschoben war, saß ein Mann, das Gesicht in die Hände vergraben, vor seinem Glase Bier, über das ein vereinzelter Sonnenstrahl hinglitt.

Es war ein seltsamer Landstreicher, er sah heruntergekommener und zerlumpter aus, als die Strolche, die man sonst gewöhnlich auf dem Lande antrifft und die hier leichter ihr Brot finden als in der Stadt. Sein Alter war schwer zu erraten, so verbrannt war die Gesichtsfarbe und die Haare waren wie durch ein darüber hingegangenes Feuer weggesengt. Die Züge hatten alle Form verloren, als hätte eine Eruption das ganze Fleisch aufgeworfen, die Augen, die Nasenlöcher und den Mund verklebt. Der Lehrer erinnerte sich in einem anatomischen Museum Wachsabgüsse von verunglückten Grubenarbeitern aus Saint-Etienne gesehen zu haben, deren Gesichter in ähnlicher Weise zerstört und aufgetrieben waren.

»Es wird ein Arbeiter aus Vierzon sein, dem ein Unfall zugestoßen ist, – der arme Teufel!«

Einen Augenblick grübelte er darüber nach, dann wurde er durch den Eintritt des Fräulein Lucotte abgelenkt, die ihm die Suppe brachte.

Lächelnd begrüßten sich die beiden. Pauly hatte sich, seit er in Foissy war, zu ihr hingezogen gefühlt. Sie hatte mehr Bildung und eine feinere Sprache als die andern Mädchen im Dorfe. Bis zum Tode ihrer Mutter war sie im Kloster gewesen, wo sie gelernt und die kleineren Zöglinge unterrichtet hatte. Henriette war ein hübsches Mädchen, wenigstens für diese Gegend, die nicht viele an Schönheiten aufwies. Sie hatte sanfte graue Augen, ihre Stirn war gewölbt und glatt, die Wangen gelblich getönt und die glatt gescheitelten Haare von einem matten, anämischen Blond.

Sie setzte die Suppenschüssel nieder und stützte die Hände auf den Tisch.

»Wie gehts denn heute, Fräulein Henriette«, fragte Pauly, während er sich die Serviette umband.

»O, ganz gut, Herr Justin, und Ihnen?«

»Danke, ebenso.«

Sie sahen sich an, und ihre Blicke trieben das gewohnte Spiel zwischen jungen Leuten, die Gefallen an einander finden, sich begehren und doch nicht wagen ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.

Der Strolch bewegte sich in seiner Ecke, er spie geräuschvoll aus und scharrte dann mit dem Fuß an der Erde. Pauly wies mit fragendem Blick auf ihn hin.

Henriette beugte sich etwas herab, die Hände immer noch auf den Tisch gestützt und antwortete leise:

»Ich weiß es nicht. – Er sitzt schon eine Stunde da vor seinem Schoppen, ohne zu trinken. Als er kam, hat er mich so sonderbar angesehen, daß mir ganz bange wurde. Ich bin froh, daß Sie da sind. Papa ist fort und da haben Katharina und ich uns etwas geängstigt. – Aber das ist kein Grund, daß Sie Ihre Suppe kalt werden lassen.«

Sie richtete sich wieder auf und warf einen Blick nach dem Gegenstand ihrer Unterhaltung, während der Lehrer sagte:

»Sie werden mich aber doch nicht allein lassen aus Furcht vor diesem Bettler?«

»Nein, bewahre, ich setze mich zu Ihnen.«

Sie begannen nun miteinander zu schwatzen, wie sie es alle Tage thaten, während er seine Suppe hinunterlöffelte und sie neben ihm am Tischende saß. In dieser Plauderstunde, der beide allmorgendlich mit Ungeduld entgegensahen, besprachen sie die Tagesereignisse des Dorfes. Henriette interessierte sich für Paulys Schüler, und er erzählte ihr ganz ernst die Streiche der kleinen Spitzbuben und von den Aufgaben und Strafen, die er unter sie austeilte.

»Jean Rousseau ist wirklich sehr begabt. Er hat ein ganz fehlerfreies Diktat geschrieben, und denken Sie nur, Fräulein Henriette, heute morgen ist er zu mir gekommen und hat mich gebeten, ihm die Interpunktion beizubringen. Schade, daß er so zerstreut ist.«

»Und Mathiau?« fragte Henriette, die sie alle kannte.

»O, Anton Mathiau ist der reine Idiot; das ist ein Bengel, der wird noch mit 30 Jahren die Gänse hüten.« –

Dann sprachen sie über das Journal de l'Indre. Pauly hielt es sich und Henriette lieh es von ihm, um das Feuilleton zu lesen. Es war ein Roman von M. Jules Mary. Pauly fand ihn recht gut geschrieben, aber den Stil zu prätentiös. Henriette erklärte ihn einfach für »schön«.

Als der Lehrer mit seiner Suppe fertig war, nahm sie ihm den Teller weg und obgleich er ihr wehren und aus Galanterie sich selbst bedienen wollte, holte sie ihm das gesottene Hammelfleisch mit Kartoffeln.

Dann nahm sie ihren Platz neben ihm wieder ein. Sie hatten beide den Strolch ganz vergessen, der noch immer mit seinem Schoppen in der Ecke saß, als ob er überhaupt nicht existierte.

Nach einer Pause, während der beider Gedanken bei demselben Gegenstand verweilten, fing Pauly zögernd wieder an:

»Und von dort drüben? – noch immer keine Nachricht?«

Henriette errötete und wurde nachdenklich. Dann sagte sie:

»Nein, keine Nachricht.« –

»Hat der Oberst nicht geantwortet?«

»Nein, noch nicht.«

Der Lehrer schüttelte den Kopf.

»Dann wird es aus sein, fürchte ich, man kann es kaum bezweifeln.«

»Der arme D'siré!« seufzte Henriette. Sie hielt ihre Schürze vor die Augen und fing an zu weinen. Der Lehrer stand auf und trat hinter ihren Stuhl. Mit schüchternen Geberden versuchte er sie zu trösten, indem er ihr sanft zuredete:

»Sehen Sie, Fräulein Henriette, Sie müssen sich nicht so aufregen. Nun ist es bald ein Jahr, daß die Sache so steht, nicht wahr? –

Seine Kameraden, die voriges Jahr mit seiner Kompagnie zurückkamen, haben Ihnen doch gesagt, daß er schon zwei Monate vor dem Gefecht von Liang-Phu verschwunden war, wahrscheinlich desertiert. –

Er muß den Piraten, die immer um die Kolonie herumstreichen, in die Hände gefallen sein.«

Aber Henriette weinte immer noch, ganz verstört bei dem Gedanken, daß der Mann, den sie geliebt hatte, mit dem sie einst abends in dem Dickicht an der Garonne gewesen war, der erste, der sie an die Brust gedrückt hatte, daß er nun tot sein sollte – tot – und dort in der Ferne, so fern von ihr in der Erde Chinas moderte.

»Armer D'siré«, sagte sie wieder, »er hat mich so lieb gehabt. Wenn nicht alles so gekommen wäre, wären wir heut verheiratet.« –

»Ja, gewiß«, begann Pauly von neuem, »es ist sehr traurig, aber wissen Sie denn nicht, daß jetzt, wo Sie Ihren Verlobten verloren haben, – daß es noch jemanden giebt, der Sie auch sehr lieb hat, der Sie ebenso liebt wie Herr Désiré?«

Henriette erhob den Kopf, ihre Augen schimmerten unter Thränen. Sie zerrte an ihren blauen Schürzenbändern, mit einem Anflug von Koketterie mitten in ihrem Schmerz:

»Wer denn, Herr Pauly?«

Er zog sie auf die Bank nieder. Sie setzten sich nebeneinander in eine Ecke, wo sie meinten, daß der Landstreicher sie nicht sehen könnte.

»Nun, – ich, Fräulein Henriette. Wissen Sie denn nicht, wie ich Sie liebe?«

Sie wurde rot. In der flammenden Hitze ihrer Wangen vertrockneten ihre Thränen. Gewiß, sie behielt den armen D'siré, der so fern von der Heimat in Asien gestorben war, in treuem Andenken, aber sie war noch jung, sie konnte doch nicht immer allein bleiben, sie mußte jemanden haben, der sie liebkoste, der ihre Hände in den seinen hielt, der sie küßte und sie lieb hatte.

Und Pauly versuchte, halblaut redend, sie zu überzeugen: » D'siré ist gestorben. Es ist nicht mehr zu bezweifeln. Sie haben genug um ihn geweint. Sie sind seinem Andenken lange genug treu geblieben ...«

Und dann, ohne ihm nahe treten zu wollen, diesem braunen Burschen, – den er, Pauly, ja nicht einmal gekannt – durfte einem dann nicht der Gedanke kommen, daß er überhaupt nicht der rechte Mann für sie gewesen sei? Er war doch fast ganz ungebildet gewesen, er war Arbeiter – was für ein Leben würde sie dann mit ihm geführt haben? –

Sie senkte den Kopf und gab keine Antwort.

»Ja«, meinte Pauly ganz entmutigt, »ich sehe es schon, Sie lieben ihn immer noch. Und mich lieben Sie nicht. Ich weiß auch, was ich dann zu thun habe.« –

»Was denn, Herr Justin?«

»Ich will um eine andere Stelle nachsuchen. Ich habe einen Kollegen in Nicure, der gern hierher möchte, weil er in Avor zu Hause ist. An den werde ich schreiben.«

Aber Henriette ergriff ihn lebhaft bei den Händen:

»Das werden Sie nicht thun, Herr Justin!«

»Warum denn nicht?« antwortete er und wandte das Gesicht ab, »was soll ich hier, wenn Sie keine Freundschaft für mich empfinden?«

»Keine Freundschaft für Sie? Es ist sehr Unrecht von Ihnen, so zu reden. Sie wissen ganz gut, daß ich Sie gern habe – mehr vielleicht, als ich sollte – und daß ich sehr unglücklich wäre, wenn Sie Foissy verließen, – wie D'siré.« –

Ihre Augen schwammen wieder in Thränen und schwere Seufzer erschütterten ihren Körper. Pauly zog sie eng an sich und küßte sie sanft auf Hals und Wangen.

»Weinen Sie nicht, Sie sollen nicht weinen, meine kleine Henriette. – Ich bleibe in Foissy. Auch wenn Sie mich nicht lieben, ich könnte nicht fortgehen, könnte nicht darauf verzichten, Sie wenigstens sowie jetzt, morgens und abends zu sehen. – Ich bleibe. Und –« er senkte die Stimme und zögerte etwas – »später, wenn Sie Gewißheit haben, – dann, wenn Sie erlauben – dann gehe ich zu Ihrem Vater« –

Sie legte ihm die Hand auf den Mund. –

»Ja – später – ich verspreche es Ihnen. Ich würde so froh sein, – so sehr froh« –

Ein natürliches Verlangen nach Liebkosungen trieb sie dazu, ihm die Arme um den Hals zu schlingen und ihm ihre Lippen darzureichen. Sie umarmten sich, die Lust sich zu küssen jagte ihnen das Blut in die Wangen – die lange Zurückhaltung war zu schwer für ihre Jugend gewesen.

Ein Geräusch schreckte sie auseinander. Der Landstreicher hatte seinen Tisch zurückgeschoben und war aufgestanden. Sie sahen wie er stehend seinen Schoppen auf einen Zug leerte und dann die 2 Sous neben das leere Glas warf. – Er ging an ihnen vorbei, – sie hielten sich noch halb umschlungen – und sah sie einen Augenblick an.

Dann ging er mit unsichern Schritten hinaus.

»Er hat doch nur ein Glas Bier getrunken«, bemerkte Pauly, »und schwankt wie ein Betrunkener.«

»Haben Sie gesehen, wie er uns anblickte?« flüsterte Henriette.

Pauly antwortete nicht, der Wunsch, die Lippen, die eben auf den seinen geruht, noch einmal zu küssen, nahm ihn ganz gefangen. Und das junge Mädchen war gleich besiegt, sie ließ sich wieder von ihm in die Arme schließen und sich liebkosen. Sie fühlte sich freier, seitdem der Mann fort war. Lange blieben sie so, eng aneinander geschmiegt, als ob diese Umarmung sie vor einer unsichtbaren Gefahr schützen sollte, die sie über sich schweben fühlten und die ihre Liebe bedrohte.

Plötzlich riß Henriette sich los. Pauly fragte, erschrocken über ihre Blässe:

»Aber, was haben Sie, Henriette? Sind Sie krank?«

Und sie stammelte:

»Der Mann – der Betrunkene – der Bettler – ich habe seine Augen erkannt – ich glaube – sicher – ich besinne mich jetzt –«

Nun war die Reihe zu erbleichen an Pauly.

»Sie haben ihn erkannt?«

»Ja, ich glaube wenigstens – jetzt – wenn es –«

Sie sprach den Namen nicht aus, aber der Lehrer verstand sie nur zu gut. Als sie aufstand um an die Thür zu gehen, und auf die Landstraße hinauszuspähen, faßte er ihre Hand und wollte sie zurückhalten.

»Henriette – um Gottes willen – gehen Sie nicht.«

Ihm war, als ob sein Glück, sein Glück, das er eben noch in den Armen gehalten, ihm durch diese offene Thür entweichen wollte.

Henriette antwortete mit tiefem Ernst:

»Doch, ich muß, ich muß sehen –«

Sie zog ihn mit sich fort. So kamen sie bis zur Schwelle ohne einander loszulassen, als ob sie gefürchtet hätten, daß der Bettler ihnen hinter der Thür auflauere um sie zu überfallen.

Aber die Schwelle war leer. Sie spähten das Dorf entlang, dessen Häuserreihen sich öde und verschlafen zu beiden Seiten der Landstraße hindehnten.

Nur da, wo sich der blaue Himmel mit der weißen Landstraße berührte, gewahrten sie einen kleinen schwarzen Punkt, der sich weiter und weiter entfernte.

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