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Eva's Tagebuch

I.
Die »noirs«

20. Mai.

Warum bin ich so nervös und traurig? ... warum ist mein Herz so voll von abscheulichen »noirs«, wie die gute Mutter Reine-des-Anges sie in jenen glücklichen Zeiten nannte, da ich nur Schulsorgen hatte, – da ich weder verheiratet war, noch ... Was wollte ich nur schreiben? ... Meine ganze Freude ist jetzt, daß ich Mama bin, meine ganze Freude ist jetzt mein Herzblatt von neunzehn Monaten, mein dicker, kleiner Réné. Die Mutter Reine-des-Anges, die diesen Namen »noirs" erfunden hatte, um unbestimmte, schwere, dunkle Dinge zu bezeichnen, die das Herz belasten, ohne daß man weiß, woher sie kommen und was sie sind, hatte auch ein Mittel gefunden, die »noirs« zu bekämpfen. So machte man's: Man setzte sich allein in sein Zimmer, vor ein schönes Blatt reinen Papiers, die Feder oder den Bleistift in der Hand. Man blickte sorgfältig in sich selbst hinein. Durch angestrengtes Hineinsehen entdeckte man endlich fast immer die »noirs«, in der Tiefe des Herzens kauernd, jedes in seinem besondern Winkel; das heißt, die wirklichen Ursachen der unbestimmten Traurigkeit zeigten sich allmählich ganz klar in ihrer wahren Gestalt. Sobald man eins erblickte, schilderte man es auf dem Papier so genau wie möglich, und gab ihm eine Nummer. War die Liste beendet, prüfte man jedes »noir« eingehend; man bemühte sich, ein Heilmittel dafür zu finden, man versuchte, ergeben zu sein, betete ein wenig und meist genügte das, uns Ruhe und gute Stimmung wiederzugeben.

Ach! je mehr ich im selbständigen Leben fortschreite – übrigens habe ich erst eine kleine Strecke zurückgelegt – destomehr sehe ich ein, warum dies Leben so nichtig, so voll von Schwachheit und Erbärmlichkeiten ist. Vielleicht, weil ich mich nicht mehr an die weise Zucht des Klosters halte. Wüßte man sie auf die Sitten der Dame von Welt und der Gattin zu übertragen, ach – wie stark wäre man!

Zum Guten ist es nie zu spät. Versuchen wir das Mittel der Mutter Reine-des-Anges, angewandt auf den speziellen Fall der Eva Olivier, Schreiberin dieses, Ex-Pensionärin des Sacré-Coeur de Blois, jetzt Gräfin Raoul de Boistelle, zweiundzwanzig Jahre alt, drei Jahre verheiratet, im Besitz eines entzückenden Bébés, das ich vergöttre und eines abscheulichen, ganz abscheulichen und reizenden Mannes ... den ich auch vergöttre, ach!

Da liegt nun das vorschriftsmäßige weiße Papier vor mir. Ich nehme eine neue Feder. Ich verriegle die Thür und setze mich nieder. Bébé schläft, die Miß ist bei ihm. Raoul ist im Club (um drei Uhr nachmittags, Sonntags! Nun ... glauben wir's ihm vorläufig). Vor zwei Stunden stört mich niemand. Fangen wir an.

Meine »noirs«

1tens. Es ist Sonntag, ein trauriger Tag, besonders zwischen Frühstück und Mittag. Dazu ist's entsetzlich heiß, und habe ich's zu heiß, bin ich wie tot.

2tens. Bébé hat ein kleines Söckchen im Mundwinkel. Auch sonst beunruhigt mich der liebe Kleine seit mehr als einer Woche, ich finde ihn etwas blaß und fieberhaft erregt, und sonst war doch seine prächtige Gesundheit mein Stolz. Miß sagt, daß er nicht gut schläft.

3tens. Whitefern hat mein Reisekleid verpfuscht. Nach zehn Anproben hat er's mir heute morgen geschickt, während ich noch schlief, – natürlich mit Absicht, damit ich's nicht in Gegenwart der Schneiderin anprobiere. Abscheulich und lächerlich sehe ich darin aus: fast wie jene »Damen«, die beim Korso Kutscher spielen; nur fehlen der weiße Hut und die Peitsche. Ich werde meine Reise nach Talloires aufgeben müssen.

4tens. Endlich das große, echte »noir", das einzige, das überhaupt zählt: ich bin eifersüchtig, schrecklich eifersüchtig. Keine alberne, grundlose Eifersucht, aus Lust mich und meinen Mann zu quälen. Nein, ich habe Gründe.

Einmal liebt Raoul mich nicht. Wenn ich stürbe, würde er wohl Schmerz empfinden; aber ich glaube, weiter geht seine Zärtlichkeit nicht. Ich langweile ihn, das ist klar, er zieht es vor, dort zu sein, wo ich nicht bin. Das Herz bricht mir fast, wenn ich solche Dinge schreibe; aber das Verfahren der Mutter Reine-des-Anges verlangt ausdrücklich; man soll seine »noirs" mit unerbittlicher Aufrichtigkeit prüfen.

Seinem Mann nicht zu gefallen, ist schon schrecklich; aber das ist nicht alles: Raoul ist durch eine andre gefesselt. O! ich weiß nicht genau, wer die Frau ist, die ihn mir nimmt, auch nicht, wie weit sie ihn mir geraubt hat. Wenn ich's wüßte! ... Gewiß ist nur, daß ich ihn zum Teil schon verloren habe. Ist's ein junges Mädchen oder eine junge Frau? Ein junges Mädchen! Kann man sie wirklich so nennen, mit diesem Wort, mit dem man uns im Kloster so nannte, die wir so unschuldig, so schüchtern, so zurückhaltend waren? Fräulein Luce de Giverny ist eine jener extravaganten kleinen Pariserinnen, die die Sitten der neuen Welt in unsere Kreise tragen, – außer der Selbstachtung; denn die Amerikanerinnen, bei all ihrem Flirt, wissen sich zu verteidigen.

Fräulein Luce de Giverny fährt allein aus; man begegnet ihr im Salon du Champs de Mars mit einem Herrn, der ihr die Bilder zeigt. Daß das Coupé der Frau von Giverny, ihrer Mutter, vor der Porte Rapp wartet, thut, wie es scheint, dem Anstand Genüge. Fräulein von Giverny wählt sich auf Bällen einen Herrn nach ihrem Geschmack, isoliert sich mit ihm in einem Winkel und bleibt dort die ganze Nacht. Bei den Avrezacs vorgestern war mein Mann der Cavalier ihrer Wahl ... Und später, im Wagen, wunderte er sich über meinen Nervenanfall!

Außer Fräulein von Giverny ist auch Madame Delaveaux da, die Frau eines Malers: eine kleine blonde Wachtel, weiß und rosig, sehr hübsch, zu hübsch, warum empfangen wir Leute, die nicht hergehören wie diese Delaveauxs; Menschen, in deren Vergangenheit Milchhandlungen, öffentliche Bälle, möblierte Zimmer, Ateliers eine Rolle gespielt haben. Woher hat er sich seine Frau geholt? Man sagt, sie wäre ein früheres Modell und hätte schon vor ihrer Heirat mit ihm gelebt. Dennoch empfängt man die Leute überall, ihn, weil er Talent und Geist hat und viel Geld verdient, und sie, weil sie hübsch genug ist, alle Männer nur durch die Berührung ihrer kleinen vollen Hand in Tiere zu verwandeln. Und die macht meinem Mann den Hof! (Alle Frauen machen Raoul den Hof! Gott! wäre er nur weniger verführerisch, ich würde ihn ja doch lieben! und man würde nicht ewig versuchen, ihn mir zu nehmen.) Also, Madame Delaveaux hat vierzehn Tage lang Raoul den Hof gemacht wie die andern: Raoul schien ganz dabei zu sein, dann plötzlich änderten sie ihr Benehmen; sie haben fast gar nicht mehr mit einander gesprochen; fast mieden sie sich. Dumm wie ich bin, war ich froh darüber; ich dachte: »Welch ein Glück, sie lieben sich nicht, ich habe mich getäuscht.« Aber Mama, die klar sieht, die mich immer erst aufmerksam macht, wenn Raoul nicht gut thut und mir zu verstehen giebt, daß ich ihm böse sein muß, Mama sagte:

– Nimm dich in acht! die flirten nicht mehr vor der Welt, also finden sie sich wo anders. Überwache deinen Mann.

– Dann, antwortete ich, macht er also der kleinen Giverny nicht den Hof?

– Traue auch der kleinen Giverny nicht.

Ich habe gethan wie Mama gesagt, ach! ich traue weder der kleinen Giverny noch der Madame Delaveaux noch Raoul.

Und ich leide entsetzlich.

Das sind meine »noirs«. Andere seh ich keine, so sorgsam ich auch hineingehe. Es handelt sich also darum, sie zu erörtern und sie zu zerstreuen, wenn ich's vermag.

Bei dem ersten halte ich mich nicht länger auf. Daß es heiß und daß es Sonntag ist, das sind Thatsachen, um die man nur das Schicksal anklagen kann. Nichtsdestoweniger entschließe ich mich zu zwei Dingen: Käthe den Befehl zu geben, die Fenster, Jalousieen und Vorhänge meines Zimmers sorgfältig verschlossen zu halten, solange es der Sonne ausgesetzt ist; und von heute ab die Abendmesse zu besuchen, was den Nachmittag sehr gut ausfüllt.

Zweites »noir«! Der Pöckchen, das Unwohlsein Bébés. Der Doktor Arnaud, unser Hausarzt, ist heute morgen gekommen und hat erklärt, daß es durchaus nichts Besorgniserregendes sei, daß in dieser Jahreszeit alle Kinder Fieberanfälle hätten. Aber in einigen Vierteln von Paris herrscht eine Pocken-Epidemie unter den Kindern. Ich will dem Doktor Robin, zu dem ich großes Vertrauen habe, schreiben und ihn bitten, daß er spätestens morgen kommt, Bébé zu untersuchen.

Drittes »noir«: Mein verpfuschtes Kleid. Ich will es Whitefern zurückschicken und ihm rund heraussagen, daß ich keine neuen Änderungen wünsche, daß ich's nicht behalte, daß ich aber bereit bin, ein neues bei ihm zu bestellen. Frau von Avrezac hat es auch so gemacht. Whitefern ist sehr vernünftig, aber man muß sich an ihn selbst wenden, nicht an sein sehr unliebenswürdiges Personal. In fünf Tagen muß das neue Kostüm fertig sein. Meine Abreise nach Talloires braucht nicht verschoben zu werden.

Bleibt das Haupt »noir«: Mein Mann, mein garstiger Raoul. Arme Mutter Reine-des-Anges, die du jetzt Lobgesänge im Paradiese singst, flöße mir in diesem Punkt die Gedanken einer vernünftigen und christlichen Gattin ein! Du verstehst gewiß, daß ich's nicht ertrüge, um eine Madame Delaveaux oder ein Fräulein von Giverny verlassen zu werden. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, glaube es mir, gute Mutter Reine-des-Anges. Ich liebe Raoul unendlich, ich denke nur an ihn: mein ganzes Ich gehört ihm so sehr, daß ... wie soll ich's wagen, dem Ausdruck zu geben? – daß ich manchmal Gewissensbisse habe, ihm so blind anzugehören! Ich bin ja nicht häßlich, Mutter Reine, und mehr als einmal seit meinem Eintritt in die Welt hat man versucht, mir den Hof zu machen. Ist's vielleicht nur, damit ich mir den Hof machen lasse. Ist's vielleicht, weil Raoul fühlt, daß ich sein Eigentum, seine Sache bin, daß er sich nicht mehr darum bekümmert, mich zu behalten? Soll ich ihm meine Zärtlichkeit nicht mehr zeigen? Soll ich meinerseits flirten, ihn eifersüchtig machen, mit andern Worten so verfahren wie sie's in Romanen und Theaterstücken thun? ...

O! wie mich das anwidert! Nein ich thu' es nicht; ich werde nicht, meinen Mann zu mir zurückzuführen, mir den Anschein einer ehrvergeßnen Frau geben. Nur, glaube ich, wird es klug sein, mein Herz zu überwachen; ich muß Raoul meinen Schmerz zeigen, aber nicht durch Thränen (ich habe schon in seiner Gegenwart geweint, ach! und ich fühle, daß das alles verdirbt), aber durch Schweigen, durch ... Enthaltsamkeit. Es wird mir schwer werden; aber es muß sein.

Ich fasse den Entschluß, von nun an meinen Mann mit Kälte und Ergebung zu behandeln, sonst nichts. Was aber kann ich gegen meine beiden Freundinnen, gegen Fräulein von Giverny und Madame Delaveaux? Ich will sicherlich keinen Skandal, und übrigens bleibt Raoul, obgleich er schmählich mit diesen Geschöpfen flirtet, mir gegenüber durchaus der korrekte Mann von Welt: er würde mir nicht einmal Gelegenheit zu einer Scene geben. Soll ich mich drein schicken? Ich kann es nicht: ich bin nicht heldenhaft und heilig genug, um mich ruhig betrügen zu lassen. Ich glaube nicht, daß Gott das von mir verlangt. Ich habe ein Recht auf die Treue meines Mannes. Wenn er sie nun nicht hält, lebe ich lieber allein, mit meinem lieben Bébé, das mich vielleicht trösten kann.

Das also ist entschieden. Ich will die Wahrheit wissen, und wenn sie zu grausam ist, werde ich meine Mutter bitten, zu mir und Bébé auf unsre Güter in Loir-et-Cher zu kommen ... Aber wie die Wahrheit erfahren? Neulich ist ein Prospekt an meine Adresse gekommen, und ich habe ihn vor meinem Manne geöffnet, da ich keine Ahnung hatte, was er enthielt ... Es war das Cirkular einer Agentur, welche es übernimmt, die Ehemänner auf Kosten der Frauen, und die Frauen auf Kosten der Ehemänner zu überwachen. Ich habe das Papier Raoul gereicht, der es, sobald er hineingesehn, mit unzufriedner Miene zerknittert hat.

Er hatte nicht nötig, unzufrieden zu sein.

Niemals werde ich solche Mittel anwenden! Niemals werde ich ihn polizeilich überwachen lassen! Ich selbst werde ihn überwachen, wie man einen Soldaten überwacht, den man der Fahnenflucht für fähig hält. Er braucht nicht zu fürchten, daß ich seine Briefe öffne, daß ich die Schubladen seines Schreibtisches durchwühle ... Aber da die Frau ihrem Manne folgen soll, darf der Mann nicht dahin gehn, wohin seine Frau ihm nicht folgen kann, – also nehme er sich in acht! Vielleicht wird eines Tages, wenn er mit jener sündhaften Freude, die ich zuweilen in seinen Augen, seiner Stimme, seinen Bewegungen entdecke, zu irgend einem Rendezvous eilt – er seine Frau finden.

Zu Ende bin ich mit meiner Prüfung: sie hat mich nicht getröstet, aber doch ein wenig beruhigt. Meine heftige Migräne ist langsam zu dumpfer Neuralgie geworden.

Ich verlasse meinen Schreibtisch und trete ans Fenster, an das mittlere, das auf die Terrasse hinaus geht. Ich will die etwas kühler gewordene Abendluft einatmen. Sechs Uhr vorüber. Wie lange ich nachgedacht habe. Jetzt ist die Sonne hinter den großen Eucalypten versunken, die unsern Garten so schön abschließen und die Illusion geben, daß es auf dieser Seite keine Häuser, kein Paris mehr giebt. Im sonnenlosen Garten herrscht eine köstliche lauwarme Temperatur. Trotz der Hitze dieses frühreifen Frühlings, behält der fundo dell' aria wie man in Florenz sagt, seine Frische. Wie schön ist's hier! Was für beneidenswert seltene Dinge sind dieses Haus und dieser Garten mitten in Faubourg Saint-Honoré. Wieviel Grund habe ich, das Leben zu genießen, glücklich zu sein! Vortreffliche Eltern, einen reizenden Mann, – zu reizend – ein entzückendes Bébé, all' meine Launen befriedigt ... Ach! ich würde das Leben vergöttern, wenn zwei blaue und zwei schwarze Augen nicht wären! Ich bin nicht bösartig, aber wenn ich diese Augen auslöschen könnte, die blauen und die schwarzen, ganz sanft, ohne ihnen zu wehe zu thun, ohne denen, die sie lieb haben, zu großen Kummer zu bereiten, – ich meine die, die das Recht haben, sie zu lieben ... Ist das schlecht? Ach! freilich! aber ich liebe meinen Mann und will, daß er mir allein gehört ... Das ist's!

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II.
Der Tröster

26. Mai.

Ganz allein, auch heute abend wieder, wie alle Abende in diesem Jahre!

Wo ist Raoul?

Ich habe ihn nicht einmal gefragt, – müde der ewigen so leichten, so nutzlosen Lüge: »Ich gehe in den Klub ...«

Ich will aufrichtig sein: Ich muß feststellen, daß er heute bereit war, mich zu den Avrezacs zu begleiten, wo man ein Lustspiel aufführt, das ein junger Offizier der Chasseurs geschrieben hat. Aber ich wußte, daß Fräulein von Giverny in diesem Stück die Rolle einer Naiven »fin-de-siècle (so sagt der Theaterzettel) giebt, und das nahm mir natürlich alle Lust, dabei zu sein! ... In diesem Augenblick ist er bei der einen oder der andern, umfängt sie mit jenem halb ironischen, halb bewundernden Blick, mit dem er die Frauen erregt, die ihm gefallen, aber die er nicht achtet. Anders hat er mich angesehn, als er mich liebte.

Aber ich will nicht mehr daran denken. Einen Trost habe ich, der mich alles vergessen läßt, der alles aufwiegt ... Heute abend habe ich Miß mit der Gouvernante der kleinen Virmondays in den Circus geschickt, und ich bewache Rénés Schlaf selbst.

Herr Réné schläft auf dem Rücken; der linke Arm hängt zum Bettchen heraus; seine festgeschlossene rosige Faust drückt den Saum des Betttuchs zusammen. Sein Mützchen, leicht zum Ohr geneigt, giebt seinem guten Gesichtchen in tiefstem Schlaf etwas Eigensinniges. Er bewegt seine feuchten Lippen und lallt von Zeit zu Zeit ein wenig im Traum.

O! wie reizend ist er! töten könnte ich ihn mit meinen Küssen. Daß ich ihn nur nicht aufwecke. Wenn man seinen ersten Schlaf stört, weigert sich Bébé energisch, vor der Stunde seines zweiten Schlummers wieder einzuschlafen, das heißt fast gegen ein Uhr morgens erst. Denn er schläft in zwei Abschnitten, mit einer Pause von dreiviertel Stunden ungefähr, in welcher er singt, spricht, sich bewegt, seine Milch trinkt mit einem Orangenblütentropfen darin ... Er ist ein großes Gewohnheitsmenschlein.

Nächstens, am 4. Juni, wird er neunzehn Monate alt. Ich finde ihn sehr stark und besonders sehr groß. Miß sagt mir, daß man ihn im Tuileriegarten immer für älter hält. mir, daß man ihn im Tuileriengarten immer für älter hält. Aber vielleicht sagt sie es nur, mir eine Freude zu machen. Ich möchte so sehr gern, daß Réné der größte, der stärkste, der schönste, der klügste wäre! ... Die Mutterschaft ist, scheint mir, der erlaubte Stolz und der erlaubte Egoismus.

Dennoch glaube ich nicht, für meinen Sohn blind zu sein. Wenn er auch ein schöner Knabe zu werden verspricht, so verrät bis jetzt nichts, daß er außergewöhnlich begabt sein wird. Er spricht kaum. Die kleine Julie Virmondoy, die zwei Monate älter ist, spricht fließend. Aber Rénés konfuses Plaudern ist reizend! Er nennt seine Mama: »Gamé«, und durch diese beiden Silben erhält er von ihr alles, was er nur will. Das Bild seines Vaters nennt er: »Cata Potee«. Ich laß ihn jeden Abend vor dem Einschlafen sein Gebet hersagen, ein kleines einfaches Gebet, das er begreifen kann.

»Lieber Jesus, ich schenke Dir mein Herz. Laß mich groß werden, damit ich Dir dienen kann und laß Papa, Mama, Großmama und Miß gesund bleiben. Amen.«

Von Bébé hergesagt, wird das Gebet ungefähr so:

»Lieb Sesus ... Erz ... goß ... diene ... Laß sund Tata, Gamé, Miß ... Am.«

Aber wenn er einige Silben verschluckt, bringt er es durch das Bekreuzen wieder ein. Ein dutzendmal wohl thut er's vorher und nachher, das Herzblatt!

Seit einigen Tagen geht's ihm besser ... Dennoch besucht ihn der Arzt noch jeden Morgen, und ich habe heut von ihm keine klare Antwort erhalten, nicht das tröstliche: »Nichts zu befürchten ...« das ich erfleht hatte. Wenn ich an die Zartheit dieses kleinen so geliebten Geschöpfes denke, das ein böses Fieber mir in wenigen Stunden nehmen könnte, ist's mit meiner Überlegung zu Ende, – dann komme ich fast von Sinnen. Ich springe auf, eile an Bébés Wiege und werde erst ruhig, wenn ich gesehen habe, wie sein Atem regelmäßig das Betttuch hebt, seine Händchen sich bewegen und wenn ich seinen Mund die Sprache seines Schlummers habe radebrechen hören ...

Und während ich bei meinem Sohne bin, bittet Raoul Madame Delaveaux um ein Rendezvous, oder arrangiert mit Fräulein von Giverny ein tête-à-tête!

... Denn ich glaube nicht mehr, daß diese angeblichen Flirts harmlos sind. Persönliche Erfahrung, und hauptsächlich Mama haben mir meine Unbefangenheit von einst geraubt: »Wenn dein Mann flirtet«, sagt Mama, »so sei sicher: diesen Flirt trennt vom Ehebruch nur die Gelegenheit.« Flirt! schreckliches, tückisches, ungesundes Wort! Wenn ich's jetzt aussprechen höre, entsetze ich mich davor wie vor einem häßlichen Wort.

Um diese Stunden des Wachens an Bébés Bettchen hinzubringen wollte ich mir soeben aus Raouls Rauchzimmer, seinem speziellen Salon, in den: er seine Freunde empfängt und das ich sonst nie betrete, einige Blätter holen. Da lagen sie, ein ganzer Stoß, Figaro, Gil Blas, Gaulois, Libre Parole. Raoul, der der unordentlichste Ehemann ist, – und auch der vertrauensvollste, – hatte seinen Schlüsselbund mit der hängenden Kette ruhig am Schreibtisch stecken lassen. – Fühlte ich eine Versuchung? Nein, wirklich, ich glaube nicht.

Viel eher die Furcht, versucht zu werden. Mit reinen Händen habe ich mich geflüchtet; wieder bei mir, habe ich sogleich nach Josef, dem Kammerdiener meines Mannes, geschellt, der ihn schon bediente, als er noch ein Knabe war, der ihm sehr ergeben ist und von dem ich fürchte, daß er mir feindlich gesinnt ist; ich habe ihn die Blätter holen lassen. Gleich darauf hat er sie mir gebracht. Aber ich war ganz sicher, daß er die Schlüssel fortgenommen hat.

Lesen wir diese Prosa. Ich thu' es sonst nicht. Die berühmten ernsten Blätter langweilen mich, die andern, jene, die Geschichten veröffentlichen, die unsre Brüder und Männer amüsant finden, sind voll von Sachen, die ich nicht verstehe; einige aber verstehe ich nur zu gut und mir wird schlecht beim lesen, als sehe ich eine Mißgestalt oder eine Wunde.

Grade dieses Blatt hier, sagt Raoul, ist die gewöhnliche Lektüre der Börsenmänner, Klubisten und der leichtfertigen Frauen ... Versuchen wir seine Wirkung auf eine ernste Frau, Gattin eines Klubisten ... Zuerst, die Geschichte eines Mannes, der nach den: Tode seiner Frau ihren Hund tötet. Ich habe es schon gesagt: ich verstehe es nicht. Es muß sehr unschicklich sein ... Wie glücklich ich bin, nichts davon zu verstehen!

Dann kommen Notizen: Gestern wurden im Bois gesehen: Fräulein Irma Descloziers, Marguerite de Bourgogne, Sudovigue Furville, Miß Chamyagne etc. etc. Zwölf Zeilen sinds! Wen interessiert denn das? Die Freunde dieser »Damen« ohne Zweifel. Mein Gott! wie zahlreich müssen sie sein, daß einem so viel daran liegt, ihnen zu gefallen!

Politik: wird überschlagen! Vermischtes: Ein unehrlicher Bankbeamter ... Der Streik der Holzpflasterer ... Das Drama in der Passage Gouffroy ... Eine eifersüchtige Frau hat drei Revolverschüsse auf ihren Mann abgegeben. Arme Frau! Von oben bis unten in den Schichten der Gesellschaft sind wir immer die Verlassenen, die Unglücklichen ... Aber wie können sie's nur über sich gewinnen, das zu töten, was sie lieben?

Theaternachrichten ... Mathematische Rätsel ... Annoncen. Das ist amüsant. Eine Masse Tragödien und kleine Lustspiele im Rahmen einiger Zeilen.

I.R. Ich habe eine Stunde mvpfk ugwu vgu hgygvtgu, von denen drei gwrgtogu waren. Ogtetgfk wird fast eine vgtvwtg, wenn ich nicht vg tyrgkt ugwog. Du wirst von dem Tage sprechen, da du gotktcu zu vjytgug das heißt ng lgwt gw ygwad ygwu xgttggu. Versuche rgyftgfk.


Pus. Dank. 2 Brf. gschr. A. S. traurig denke ich d. i. J.


Mag. Tr. Tr. Bedr. n. gtrn. Vewf. n.


N.E.B.wünscht Wiedersehen. Sehr bedauert, nicht getroffen zu haben.


Plötzlich sehe ich nicht klar ... Mein Blut drängt zum Herzen, stockt. Das Blatt gleitet zu Boden, und ich selbst, an die Lehne meines Stuhles zurückgesunken, fühle mich schwach, verliere fast die Besinnung.

Mich aufraffend, aber noch sehr schwach und verwirrt, hebe ich das Blatt auf: fest haften meine Augen auf den Zeilen, deren Inhalt mich so erschüttert hat. Da sind sie:

R. – Hurra! Morgen abend (Sonnabend); diesem scheußlichen Landaufenthalt glücklich entronnen. Werde um zehn im lieben Nest sein. Aber kommen Sie mir, wenn Sie entschlossen sind, artig zu sein. Suze.


Warum war ich sogleich überzeugt, daß R. Raoul, mein Mann, sei – und daß Suze, Susanne Delareaux bedeutet?

Vernünftiger Weise war's nicht anzunehmen. Ich wußte nichts davon, daß Madame Delaveaux von Paris abwesend war. Hatte ich doch zu Raoul, der von der heutigen Gesellschaft sprach, mit einem Versuch zu scherzen gesagt: – Du wirst auf diesem Fest die schöne Susanne sehen ... Und er hat in seinen schwarzen Bart hineingelächelt, ohne sich zu verteidigen. Wußte er nichts von ihrer Abwesenheit, oder machte er sich über mich lustig? Ich weiß es nicht. Aber daß diese kleine Zuschrift von Madame Delaveaux an Raoul gerichtet ist, weiß ich. Auf geheimnisvolle, unwiderlegbare Weise bin ich dessen gewiß. Und nichts spricht dagegen.

Wort für Wort las ich die schrecklichen Zeilen noch einmal; jedes Wort wird lebendig, wird Fühlhorn, der ganze Satz zu einer Art Tintenschnecke, der diese Fühlhörner angehören. Wie schamlos ist dieser Hurraschrei, da es sich doch darum handelt, seinem Manne zu entwischen, ihm wer weiß was vorzuschwindeln, um der schrecklichsten Sünde nachzulaufen ... Ich werde im lieben Nest sein ... Ich nehme mich zusammen und muß doch weinen. Das Nest! Das liebe Nest! Es ist doch wahr, es ist geschehen, was ich so sehr gefürchtet habe! Es giebt einen Ort in Paris, wo der Mann, dem ich mich ganz gegeben habe, durch die Ehe, – o! so ganz und gar, – ein Heim für seine Zärtlichkeit besitzt, und es ist nicht das Haus, in dem ich bin, in dem unser Kind ist!

Die letzten Worte, trotz ihres abstoßend vertraulichen Tones, lassen mir ein wenig Hoffnung: Kommen Sie nur, wenn Sie entschlossen sind, artig zu sein ... Was will sie nur von ihm, diese schlechte Frau? Sie liebt ihn nicht, sicher nicht! ... Niemals hätte eine Frau, die liebt, diesen Satz geschrieben!

... Da kommt Miß aus dem Theater. Ich will sie in ihr Zimmer schlafen schicken und mir für diese Nacht ein Lager neben Réné aufschlagen lassen. – Raoul heute noch sehen, nein ... Ich kann es nicht. Hier, bei meinem Sohn, werde ich vielleicht die Kraft haben, nicht zu verzweifeln.

O mein lieber kleiner Tröster!

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III.
In Ängsten

27. Mai.

Trauriger, trauriger Anfang eines traurigen Tages.

Es regnet. Und der Regen, so sehr herbeigesehnt während der letzten Wochen glühender Hitze, paßt zu meiner Trostlosigkeit. Alles kommt zugleich über mich. Bébé, sehr unruhig und fiebernd, hat eine schlechte Nacht gehabt; heute morgen geht es kaum besser, er liegt in unruhigem Schlummer ... Ungeduldig erwarte ich den Doktor Robin. Mein Gott, ist diese neue Prüfung zu all' den andern nicht zu viel? Denn jetzt zweifle ich nicht mehr. Als ich Raoul heute morgen sah, fragte ich ihn, indem ich mich zur Ruhe zwang:

»War Madame Delaveaux auf diesem Fest?«

Er zögerte einen Augenblick und antwortete:

»Ich glaube nicht. Nein, sie war sicher nicht dort.«

Ich fuhr fort:

»Hat sie Paris schon verlassen?«

Er machte eine ungeduldige Bewegung.

»Aber, meine Liebe, ich weiß es nicht. Bin ich Madame Delaveauxs Hüter? Übrigens bitte ich dich, nicht mehr von dieser Person zu sprechen, die du, ich weiß nicht warum, nicht leiden kannst. Sie hat sich dir gegenüber immer ausgezeichnet benommen.«

So viel Groll häufte sich in mir, daß ich garnicht mehr mit ihm sprechen wollte. So sagte ich ihm auch nichts von meiner Besorgnis um Bébé. Gut, mag er sich außer dem Hause amüsieren! Ich will allein die Last meiner Unruhe tragen. Sein Sohn gehört ihm nicht mehr. Ich nehme ihn von ihm zurück.

Gegen zehn Uhr dachte ich an all diese traurigen Dinge, an Bébés Wiege den Doktor erwartend, als Kathe mit einem Karton von Leuchars kam.

»Der Commis wartet«, sagte das Mädchen; »er ist nicht sicher, ob es für die gnädige Frau sei.«

Auf dem Karton las ich:

Frau von Boistelle.
13, rue Vézelay.

Nun wohne ich ja doch Faubourg Saint-Honoré. Dann gebe ich auch meine Adresse auf: Gräfin Boistelle. Offenbar war es ein Irrtum. Ich ließ den Commis kommen:

»Ich habe nichts bei Ihnen bestellt«, sagte ich. »Nehmen Sie's wieder mit; ich weiß nicht, was es ist.«

»Verzeihen Frau Gräfin«, sagte der Commis, »wir glaubten selbst, daß es ein Irrtum sei, denn wir haben ja die Adresse der Frau Gräfin. Aber der Herr Graf haben es selbst bestellt, und da wir rue Vézelay niemanden gefunden haben ...«

In diesem Augenblick muß ich wohl sehr bleich geworden sein, denn der Mensch schwieg plötzlich ... Er hatte begriffen ... Ich hatte noch die Kraft um ihm zu sagen:

»Es ist gut. Nehmen Sie's zurück.« Und ich floh in mein Zimmer und weinte.

So hat der Zufall mir alle Geheimnisse meines Mannes ausgeliefert. Ich weiß, daß Madame Delaveaux ihm heute abend ein Rendezvous giebt. Raoul hat sich nicht einmal die Mühe gegeben, in diesem Hause, das er gemietet hat, mich zu schonen, seinen Namen zu verschweigen, und seine Mitschuldige läßt sich dort Gräfin Boistelle nennen. Die Fäden der Intrigue habe ich in Händen ... Was thue ich mit ihnen?

Habe ich nicht die Pflicht, meinen Mann an einem Verbrechen zu hindern? Es widerstand mir, ihm nachzuspüren, um ihn auf seiner Schuld zu ertappen. Aber jetzt, wer hindert mich, ihn zu warnen, ihn dieser Frau streitig zu machen?

Wenn Raoul heut zum Frühstück kommt, kann ich ihm sagen: »Ich weiß alles«, und ihm die Umstände erklären, die mir gegen meinen Willen alles verraten haben.

Ja – aber er wird leugnen. Im Umgang mit diesen Geschöpfen hat er lügen gelernt: und ich, ich verstehe ohnehin so schlecht, mit ihm zu streiten! ... All das wird zu einer Scene führen. Er wird die Thüren werfen, wird fortgehn, wird abends im Klub speisen und nach dem Essen in die rue Vézelay fahren.

Besser ists, ich schweige, bin heute abend vor ihm in der rue Vézelay und erwarte ihn vor der Thür. Er wird nicht leugnen können und – ich kenne ihn ja – zwischen seine Frau und seine Geliebte gestellt, wird er keinen Augenblick zögern. Aber furchtbar ist dies Warten unten in der Straße, diese Begegnung!

Thut nichts, es muß sein.

Am selben Tage, zwei Uhr.

Der Doktor ist gekommen. Er hat mich nicht beruhigt. Bébé gehts gar nicht gut. Das Fieber hat zugenommen. Ich höre alle Augenblicke seine liebe weinerliche Stimme: »Mama ... kalt ...« Er klappert mit den Zähnen, und wenn ich seine armen kleinen Glieder anrühre, finde ich sie in Schweiß.

Ich fragte den Doktor:

»Ists ernst? sagen Sie mir die Wahrheit. Ich will sie wissen.«

Er schüttelte den Kopf, machte ein zweifelndes Gesicht:

»Ernst ... Mein Gott, ich weiß es nicht ... Für den Augenblick fiebert er, das ist alles. Das kann vergehen, wie's gekommen ist.«

»Und wenn es nicht vorüber geht?

»Hm – dann, dann wirds eine kleine Kinderkrankheit werden.«

»Die Masern?«

»Masern, Scharlach ...«

»Nicht die Pocken am Ende?«

»Pocken! Das ists, was ich fürchte ...«

Fieberhaft habe ich heute morgen die Zeitungen durchflogen: die Epidemie nimmt ab, fordert aber noch viele Opfer. Armen Frauen aus dem Volke, deren einzige Freude ihr Bébé war, Müttern, nicht schlechter als ich, hat der liebe Gott diese einzige Freude genommen – und mich soll er verschonen?

– Wenn nur wenigstens nicht die Pocken!

Der Doktor hat nur das gesagt, was ich mir selbst schon zur Beruhigung gesagt habe: Das Kind sei kräftig, seine Krankheit habe bis jetzt keinen drohenden Charakter, nicht die geringste Röte zeige sich weder im Gesicht noch am Körper, nichts ... Ach! alles, was man mir sagt, was ich mir selbst sage, überzeugt mich nicht. Beim Frühstück haben Raoul und ich nur wenig mit einander gesprochen. Dennoch bemerkte ich bei meinem Mann eine vorsichtige absichtliche Zuvorkommenheit, einen Versuch, Verzeihung zu erlangen für seine schlechte Laune von heute morgen oder für den Verrat von heute abend.

Er fragte mich:

»Bébé gehts besser?«

»Nein«, antwortete ich. »Im Gegenteil, die Nacht war nicht gut. Ich bin sehr besorgt.«

Thränen stiegen mir in die Augen, ebenso sehr vor Entkräftung, wie vor Kummer. Raoul erhob sich, er wollte mich küssen. Da dachte ich an diese Frau, deren Wangen und Lippen er auch berührt; ich sträubte mich instinktiv. Er streifte nur mein Haar.

Als er sich wieder setzte, bemerkte ich, daß er sehr bleich war; gleich darauf zerbrach er den Fuß seines Glases. Unser Frühstück ging schweigend zu Ende. In dem Augenblicke, da Raoul seine Cigarre anzündete, ging ich wieder hinauf zu Bébé.

Erbarme dich meiner, o Gott, und hilf mir! Gieb mir das Vertrauen und den Mut einer wirklich christlichen Frau unter den Prüfungen, die du mir auferlegst. Ich bin so wenig. Ich fühle so wenig Kraft in mir, diesem Ansturm der Angst zu wiederstehn! Muß es denn sein, daß ich, um die Frau und die Mutter nach deinem Herzen zu werden, in meinem Kinde und meinem Manne zu gleicher Zeit heimgesucht werde? ...

Feige bin ich im Angesicht dieser doppelten Prüfung. Mein Gott, vergieb mir! Ich kann dich nur bitten, mir die Seele von der einen wie von der andern zu befreien. Ich habe nicht die Kraft zu ertragen, daß Raoul oder Réné mir genommen werden ...

Tödte lieber mich selbst; niemandem bin ich etwas. So biete ich dir für die Treue meines Mannes und die Gesundheit meines Kindes mein Leben.

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IV.
All's Well ...

Talloiras, Juni 18 ...

Wie friedevoll, erhaben und lächelnd ist alles, was mich umgiebt! Um unser Schweizerhäuschen herum, das in der Nachmittagssonne schläft, die blauen und weißen Berge ... Vor mir der große bleifarbne See ... Paris liegt weit zurück!

Paris ist weit, und weit auch die jüngste Vergangenheit, die Stunden, in denen ich so entsetzlich gelitten habe, so entsetzlich, daß ich zu sterben wünschte; aus der Tiefe meines Herzens habe ich Gott angefleht, mich zu sich zu nehmen, da es über meine Kräfte ging. Und nun ist das alles zu Ende, vorüber. Das Leben beginnt noch einmal in Vereinigung, in Pracht und Glanz, und dieser Umschlag ist so rasch gekommen, ich kann kaum daran glauben, – ich wage kaum, wieder aufzuleben.

Die letzten Zeilen, die ich in meinem Tagebuch finde, sind Verzweiflung: »Niemandem bin ich etwas, so biete ich dir, o Gott, für die Treue meines Mannes und die Gesundheit meines Kindes mein Leben.«

Ich schrieb dies am Mittag, in Bébé's Zimmer, an seinem kleinen Bett. Die Miß las, der Doktor sollte um fünf Uhr wiederkommen, und ich erwartete sein Kommen mit Ungeduld, obgleich ich im voraus seine Diagnose kannte: »Nichts neues: warten wir ab.«

Es gab wirklich nichts neues. Bébé's Haut war noch immer unversehrt, feucht von Schweiß. Das Kind stöhnte in unruhigem Schlummer. Sobald man ihn berührte, um seine Betttücher zu ordnen, schrie er; er hatte eine Art Nervenkrisis.

Gegen vier Uhr wurde geklopft. Josef war es, der Kammerdiener meines Mannes. O, ich verabscheue diese bläulich bleiche Gesichtsfarbe, diese undurchdringlichen Augen, diesen Mund mit den fast unsichtbaren Lippen, diese tückische feindselige Larve.

»Was wollen Sie, Josef?«

»Der Herr Graf lassen Frau Gräfin fragen, ob es Herrn Vicomte besser geht.«

(Der Herr Vicomte ist Réné. Mein angebeteter Vicomte!)

»Der Herr ist doch nicht ausgegangen.«

»Nein, Frau Gräfin: Der Herr Graf sind nach dem Frühstück in seinem Kabinett geblieben. Er bittet die Frau Gräfin, ihn zu benachrichtigen, wenn der Doktor zum Herrn Vicomte kommt.«

»Gut, Josef! Miß wird den Herrn benachrichtigen.«

So ist mein Mann nicht ausgegangen. Bébés Zustand beunruhigt ihn; er wollte beim Besuch des Doktors zugegen sein. Wird man es glauben; als Zudringlichkeit empfand ich diese Besorgnis. So viel Groll hatte sich in mir angesammelt, daß ich Raouls Zärtlichkeit für meinen Sohn nicht mehr dulden wollte. Allein sollte er mich lassen bei meinem lieben kleinen Kranken und zu jenem Geschöpf gehn! Häßlicher Leidensstolz, nicht wahr? Aber ich litt so sehr!

Ein wenig nach fünf Uhr kam der Doktor. Durch Miß benachrichtigt, erschien der Graf sogleich, und zwar so verzweifelt, so verschieden von dem energischen, eigenwilligen, ein wenig gewaltthätigen Manne, der er gewöhnlich ist, daß ich etwas Mitleid empfand. Augenscheinlich litt er. Ein Kampf begann in ihm zwischen jenem echten Edelmut, um deswillen alle ihn lieben und jenem schlechten Wunsche, jenem unwürdigen Verlangen seiner Verliebtheit.

»Nichts neues: Man muß abwarten.«

Diese Worte, die ich vorausgesehen hatte, sagte der Arzt, indem er den zerzausten Kopf Réné's aufs Kissen zurücklegte. Réné flüsterte:

»Bébé Kopf, Dotter, Bébé Kopf.«

Und er schlug sich mit den Händchen auf die Stirn, um zu zeigen, wo er Schmerzen habe.

»Man muß warten ... und auf alles gefaßt sein. Die Krisis entwickelt sich. Heute abend, spätestens diese Nacht, wird sich offenbar etwas zeigen. Das Kind trägt den Keim einer Krankheit in sich, sonst wäre das Fieber nicht so hartnäckig. Haben Sie einen guten Arzt in der Nähe?«

»Warum?«

»Für diese Nacht, für den schlimmsten Fall.«

»Ein Arzt wohnt Place Beaurau; der Doktor Guil.«

»Ein sehr intelligenter junger Mann; ich kenne ihn. Ich werde ihm ein Wort schreiben, Sie ihm an's Herz legen. Lassen Sie ihn, wenn etwas vorfällt, kommen, gleich zu welcher Stunde.«

Nachdem der Arzt fort war, blieben Raoul und ich noch einige Zeit allein. Ich that, als bemerkte ich seine Anwesenheit nicht, ging im Zimmer hin und her ohne ihn anzusehen oder mit ihm zu sprechen. Endlich sagte er in einem Ton, der durchaus nicht aufrichtig klang:

»Ich werde heute abend zu Hause speisen, Eva.«

Und ich las in seinem Gewissen wie in einem offenen Buch. Er dachte: »Wirklich, schlecht wärs von mir, diese arme Eva in ihrer Angst allein zu lassen. Schließen wir einen Vergleich. Gestehen wir ihr eins jener Diners zu zweien zu, in die sie so vernarrt ist. Dann, nachdem die häusliche Pflicht erfüllt, kann ich in die rue Vézelay gehen.«

Noch am Abend vorher hätte mich der Vorschlag, zu Hause mit Raoul zu speisen, »als Verliebte« wie wir einst sagten, vor Freude aufspringen lassen und mich wieder ganz in die Macht meines Mannes gegeben. Aber meine Angst, dann die Gewißheit, hatten mich verändert. Ich antwortete kühl:

»Ganz wie Du willst, mein Freund. Ich aber bleibe hier. Übrigens habe ich auch keinen Appetit.«

Wenn er bis jetzt gezweifelt hatte, ob ich um seinen Verrat wußte, hörte sein Zweifel im Moment auf. Er wurde bleich, preßte die Lippen aufeinander. Ich verstand, daß er zögerte: »Soll ich gestehn, sie um Verzeihung bitten? ...« Aber der schlechte Einfluß war wieder einmal der stärkere. Er begnügte sich zu sagen:

»Gut – wie Du willst.«

Ich hatte mich vor Bébés Bett gestellt; ich verbarg ihn Raoul mit meinem Kleide. Er wagte nicht näher zu treten und nach kurzem Zögern ging er.

Aufs neue begannen die langen Stunden, so schwer von Angst, an der Seite des wimmernden Kindes. Alle Augenblicke erhob ich mich und beugte mich über ihn; ich beobachtete sein Gesicht und seine Glieder. Immer röter und fieberheißer wurde die Haut: aber immer noch kein Ausschlag ... Gegen acht Uhr erwachte Bébé plötzlich, verlangte nach seinen Spielsachen: Ich erklärte ihm, daß er Arme und Brust nicht entblößen dürfe, also nicht spielen könne. Er willigte ein, mich für ihn spielen zu lassen. Den Tod in der Seele, riß ich an den Fäden des Polichinells, zog ich die Lokomotive auf ... Gegen neun Uhr schlief er wieder ein, sehr schwer. Und da ich ihn ruhig sah, fing auch ich an, zu schlummern.

Ein leichtes Geräusch weckte mich. Über Rénés Bett gebeugt und ihn beim Scheine eines Lichtes sorgfältig beobachtend, sah ich – den Grafen, meinen Mann. Er war zum Ausgehn gekleidet, Lackschuhe, schwarze Beinkleider, Faltenhemd; nur hatte er über seine weiße Weste eine Hausjacke aus blauem weichem Wollenstoff gezogen, Ich warf einen Blick auf die Pendüle: sie zeigte neun Uhr zwanzig Minuten.

»Er geht aus«, dachte ich. »In einer halben Stunde wird er in den Armen jener Frau sein ...«

Einen Augenblick dachte ich an meinen Plan, ihn dort vor der Thür seiner Geliebten zu erwarten ... Aber nur einen Augenblick.

»Nein ... mein Platz ist nicht dort ... mein Platz ist hier.«

Und ich brachte Gott aufrichtig und völlig das Opfer meines Stolzes, meiner Zärtlichkeit als liebende Frau, damit mein Kind um diesen Preis gerettet werde.

Plötzlich rief Raoul:

»Eva!«

Ich erhob mich ... Es handelte sich um Bébé, dessen war ich sicher. In einer Sekunde war all mein Groll verflogen.

»Was, was ist?«

»Sieh doch!«

Er zeigte mir, beim Schein der Lampe, mit dem Finger linsengroße mattrosa Flecken, die das Gesicht und die Arme des Kindes zu marmorieren begannen. Wir hoben das Betttuch, untersuchten die übrigen Körperteile und fanden überall Flecken.

Ich war außer mir vor Erregung.

»Mein Gott! Mein Gott!« stammelte ich ... »Aber was ist das? Das sind doch nicht die Pocken, Raoul?« Und, alles vergessend, nahm ich die Hände meines Mannes und drückte sie.

»Bleib hier, Eva«, sagte er, »ich gehe den Doktor holen.«

O! wie viel Zeit verging bis er wiederkam. Diese Minuten, da Miß und ich, ich glaube beide gleich verwirrt, durchs Zimmer irrten, an die Fenster uns lehnten, um auf das Rollen des Wagens zu horchen! Für einen Augenblick ging ich ins Nebenzimmer, in die Nursery, kniete nieder, bat Gott, mir mein unchristliches Hadern am Nachmittag zu verzeihen. Ich gelobte, wenn Bébé wieder gesund würde, den Verrat meines Mannes zu ertragen und als ergebne Gattin den Herd des Ungetreuen zu bewachen.

Endlich kam der Graf zurück, sehr erregt; mit ihm erschien der Doktor Guil, ein langer junger Mann mit bleichem Gesicht, mit mächtger schon kahler Stirn, der sogleich Réné zu untersuchen begann. Raoul und ich sahen zu, warteten und unwillkürlich, scheint mir, wie bei Kindern, die Angst haben, des Nachts allein zu gehen, hatten sich unsere Arme ineinander geschlungen.

Fünf Minuten vergingen; ja, fünf Minuten, ein Jahrhundert! ehe Guil sich entschloß zu sprechen.

»Nun, Doktor?« fragte der Graf.

»Nun! ich glaube, daß es nichts ernstes ist. Ich glaube, weiß es aber noch nicht ganz sicher; die Art des Ausschlags ist noch nicht zu erkennen.«

»Aber wenigstens«, sagte ich leise, »sinds nicht die Pocken?«

»O sicher nicht; es sind nicht die Pocken.«

Er sagte es ganz einfach, dieser Doktor, daß »es nicht die Pocken seien.« Und er schien nicht zu ahnen, daß er mir damit das Atmen, das Leben wiedergab ... Kraftlos sank ich Raoul in die Arme. Aber wie glücklich ich war! ... Jetzt hatte ich wieder volles Vertrauen ... ich fühlte mich geheimnisvoll erhört. Es war keine Gefahr mehr. Ich hörte die Worte Hautausschlag ... Windpocken ... Dann hatte ich einen Weinkrampf und verlor die Besinnung ... Nun mußte ich gepflegt, zu Bett gebracht werden.

In dieser Jahreszeit sind die Nächte kurz. Der Morgen graute schon, als ich wieder zu mir kam. Sogleich fragte ich Raoul (ohne mich lange zu wundern, ihn an meinem Bett zu sehn):

»Und Réné?«

»Réné gehts gut«, sagte er, sich über mich beugend. »Ganz bestimmt sinds die Windpocken. Jetzt sind auch die kleinen Pickel sichtbar. Dein Sohn sieht sehr häßlich aus, ist aber außer Gefahr. Miß und Kathe sind bei ihm. Und wie geht es dir?«

»Mir? sehr gut.«

Ich wollte mich erheben; war aber so schwach, so zerschlagen, daß ich aufs Kissen zurückfiel.

»Arme Kleine!« sagte Raoul, meine Hand nehmend.

Dann folgte ein Schweigen und ich dachte:

»Da Raoul hier ist, ist er von dort zurückgekehrt ... aus der rue Vézelay ... oder er ist gar nicht hingegangen.«

Ich konnte mich nicht enthalten zu fragen:

»Wann bist du nach Hause gekommen?«

»Aber ... mit dem Doktor zusammen ... seit du im Bett bist, bin ich bei dir geblieben.«

Ganz nahe war sein Gesicht dem meinen. Ich wagte zu flüstern:

»Also?«

Er verstand mich. Er antwortete mit leiser Stimme:

»Also ... liebe ich dich allein ... und du mußt mir verzeihn.«

Niemals, seit unsrer Verlobung, haben wir einen Kuß wie diesen geküßt! Und nun?

Drei Wochen sind vergangen. Letzten Montag hat man Bébé transportieren können. Wir sind in Talloires in unserm Schweizerhäuschen wie alle Jahre. Man hat mir ein blaues Briefchen gezeigt, noch in Paris gekommen, am Morgen nach der schrecklichen Nacht, darin heißt es:

»Ich habe gestern zwei Stunden in einem entsetzlichen Zimmer gewartet. Ich liebe keine schlecht erzogenen Leute. Guten Abend, mein Herr.

Suze.«

Und es scheint, daß dies Guten Abend ein Abschied ist.

Was Fräulein von Giverny betrifft, so ists noch drolliger: Sie heiratet!

Herr Bébé ist schöner denn je. Seine Pickel haben keine Narben hinterlassen, ausgenommen ein kleines dreieckiges Loch auf der rechten Schläfe, das er, scheint es, immer behalten wird.

Das wird ihn nicht hindern, ein hübscher Junge zu sein, hat mir Doktor Robin gesagt, und Eroberungen zu machen wie sein Vater! – Wie sein Vater! Gebe Gott, daß er nicht so viele macht!

Für den Augenblick träumt mein Eroberer noch nicht von Damen.

Seine Wonne ist ein lebender Hase, den sein Vater ihm geschenkt hat; zu gleicher Zeit kokettiert er mit dem kleinen Esel, der unsern Dienstboten dazu dient, jeden Morgen die Einkäufe, die sie in Annecy machen, nach Hause zu schaffen. Dieser Esel und dieser Hase füllen all seine Gedanken aus, und ich konnte nicht verhindern, daß er nun jeden Abend so betet:

»Gut Sesus ... laß ... diene ... goß ... Gieb Sundheit Tata, Mama ... Gieb Sundheit dem Asen, dem Esel ... Gamé ... Miß ... Ame!«

... Herzblatt, süßes! ...

buchschmuck


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