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Sturm

In gewaltigen Schlägen klatschte es gegen die Fenster des kleinen Zimmers und pfiff durch alle Ritzen mit eiskaltem Atem. Halb Schnee, halb Regen, wirbelte es stürmend draußen im grauen Wintertag, polsterte die Scheiben mit weißen, feuchten Rändern und tropfte innen von Zeit zu Zeit klingend in den Fensterbecher.

Der ruhelos im Zimmer Wandernde zuckte bei jedem Sturmschlag, bei jedem Tropfenklang zusammen und ärgerte sich im nächsten Augenblick über die eigne Empfindlichkeit. Sonst hatte er's kaum gehört; ja, oft war's ihm ein Vergnügen gewesen, auf den Sturm zu lauschen und sich des sicheren Untergebrachtseins in der kleinen Stube zu freuen. Erst seit ihn der Mangel mürbe, seit ihn Ungewißheit und Hunger nervös gemacht, traf ihn jedes jähe Geräusch wie ein schmerzhafter Hieb. Das riß im ganzen Körper, zuckte im Kopf und brannte in den Augen.

Zuweilen unterbrach der Wandernde seinen Gang und lehnte sich selbstvergessen an den kleinen, weißen Kachelofen, der nicht größer war als er selbst. Als er noch die Mittel besaß, ihn heizen zu lassen, hatte er oft dort gestanden und sich behaglich gewärmt. Jetzt brauchte er ihn nur mit der Hand zu berühren, und der Ofen stieß ihn ab wie eine eisige Wand. Zudem gurgelte und heulte der Sturm in dem schwarzen Schlund, so daß es dem Erregten war, als höre er Stimmen von Menschen, die ein wilder Strudel verschlang.

Auf und ab, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Bald stieß er hier, bald dort an eins der wenigen Möbel in der engen Stube. Er merkte es nicht. Wirbelnd, wie draußen der Schnee, kreisten in seinem Hirn brennende, jagende Gedanken. Sie überstürzten, verwirrten, balgten sich, stießen sich hin und her, wogten schwer auf und ab, als wollten sie die Schädeldecke sprengen – aber keine lichte Idee stieg aus dem wogenden Chaos, kein helfender, rettender Entschluß. Nur das eine hob sich immer wieder herauf und stand klar und kalt vor seinen Augen: Es ist aus! Es gibt keinen Weg mehr! Keinen. Und dahinter die Frage: Was nun?

Was nun …? Er preßte die glühende Stirn an die triefende Fensterscheibe. Ein zitterndes Frösteln lief ihm über den ganzen Körper in stoßweisen Schauern.

Draußen raste der Sturm. Im Fensterbecher klang's.

Das erinnerte ihn an seinen Heimatort. An die Kirchturmglocken. Die schlugen leise an, wenn ein starker Orkan den Turm ins Wanken brachte. Das war dort oben gewesen, in dem kleinen Dorf am Meer. Und das Wasser stieg und stieg. An den ersten Häusern leckte es schon. Dann strömten die Leute in die kleine Kirche und warfen sich auf die Knie. Und auf der Kanzel stand der alte, greise Pastor und hob beschwörend die Arme: »Wenn die Not am größten …«

Der Sinnende lachte jäh auf. Während sie beteten, wurde das halbe Dorf hinweggespült von der brandenden Flut – auch eine Wiege mit einem Säugling …

»Ist Ihnen etwas, Herr Zamber?«

Er wandte sich vom Fenster, mußte sich erst klarwerden. In der geöffneten Tür der Stube stand seine Wirtin mit bangem, fragendem Gesicht. Aus der gegenüberliegenden Küche drang mit einem warmen Hauch der Duft der frisch geplätteten Wäsche.

»Was fehlt Ihnen?«

»Mir ist kalt«, murmelte er. »Plätten Sie?«

»Ja. Lassen Sie doch Ihre Tür hier offen. Dann kriegen Sie auch noch Wärme ab. Mir ist's sowieso zuviel da drüben.« Ein mitleidiger Blick, ein Kopfschütteln. »Werden Sie bloß nicht noch krank! Woll'n Sie 'n Schluck Kaffee? Kommen Sie.«

In ihm würgte etwas. Er wollte nein sagen. Aber er brachte es nicht über die Lippen. Er drängte die aufsteigende Scham hinunter und folgte zögernd der Frau. »Oh«, sagte er aufatmend, »wie warm es hier ist!« Ein Stuhl war nicht frei, überall lag Wäsche. So setzte er sich auf den Kohlenkasten, dicht an den Feuerherd, der ihm fast den Rücken verbrannte, die Kaffeetasse in der bebenden Hand. »Ich sollt' es nicht annehmen, Frau Heiners.«

»Nanu!«

»Nein. Sie sind ja selber arm.«

»Das weiß Gott!« Sie nickte heftig.

»Jetzt bin ich Ihnen schon drei Monate die Miete schuldig. Ohne das andre.« Er brütete vor sich hin. »Das kann ich ja niemals bezahlen!« schrie er plötzlich. »Frau Heiners, ich bin ja der reine Betrüger an Ihnen!«

»Nu, lassen Sie man, ja? Betrüger!« Sie lächelte und sah ihn ein wenig amüsiert an. »So hab' ich mir 'n Betrüger vorgestellt.«

»Es ist doch wahr!«

»Wird schon mal wieder anders werden mit Ihnen, Herr Zamber. Sind ja noch so jung.« Sie seufzte, als glaubte sie selber nicht recht an ihre Prophezeiung. Dann hielt sie einen Augenblick mit Plätten inne und sah vor sich hin ins Leere. Dabei sagte sie leise, wie verloren: »Ich bin 'ne alte Frau. Und der Hauswirt sitzt einem Tag für Tag im Nacken. Dabei bin ich bloß anderthalb Monat im Rückstand.«

»Sehn Sie! Das geht nicht! Sie brauchen einen Mieter, der zahlt!« Er schnellte hoch. »Ich verschwinde heute, Frau Heiners!«

»Wo woll'n Sie denn hin?« Ein mitleidiger Blick. »Und wozu? Ob die Bude leer steht oder ob Sie drin sind, das ist doch auch egal. Meine Tafel hängt schon vier Wochen an der Haustür, aber es kommt ja keiner.«

»Wenn aber einer kommt, dann …«, er sagte es mehr für sich in kaltem Schreck.

»Ja, dann …« Es klang fast wie ein Weinen. »Ich kann doch nicht anders, Herr Zamber. Ich muß doch auch sehn, wie ich durchkomme.«

»Selbstverständlich. Halten Sie mich doch nicht für – unverschämt«, wollte er sagen, aber das letzte Wort flüsterte er nur, mit gesenktem Kopf die drei Schritte zur kleinen Stube hinübergehend. Dann mußte er hin und her laufen wie vordem; von der Küchentür über den engen Korridor nach dem Fenster und der Stube zurück. Erfüllt mit fiebernder Unruhe, horchte er. Horchte, ob kein fremder Tritt die Treppe heraufklang, ob die Glocke nicht anschlug und jemand plötzlich hereintreten würde und fragen, ob …

Erschreckt fuhr er zusammen und hielt in seinem Gange am Fenster inne. Eine kräftige, ungeduldige Hand hatte den Klingelzug gerührt. Da mußte einer sein, der es eilig hatte.

Frau Heiners öffnete, während Zamber atemlos, alle Sinne gespannt, den Kopf nach der Stubentür vorgestreckt, des Kommenden wartete.

»Hier ist 'ne kleine Stube zu vermieten, was?«

Es dauerte ein Weilchen, ehe Frau Heiners antwortete. Und dann klang's halblaut voll Unschlüssigkeit: »Ja, das heißt, eigentlich ist sie noch besetzt.«

»Eigentlich? Was heißt eigentlich. Entweder ist sie frei oder nicht.«

»Sie ist frei!« Zamber war in drei Sätzen an der Flurtür. »Sie können sofort einziehen. Ich gehe noch heute.« In seinen Ohren brauste es wie der Sturm im Ofen. Er sah starr auf den Eintretenden, der sich erst den feuchten Schnee von dem schäbigen Mantel schüttelte und das Naß aus dem Schnurrbart strich: »Ein Hundewetter!« Dann rieb er sich lächelnd die Hände: »Ah, hier ist's mollig! Wundervoll! Heut' hab' ich Glück, wie's scheint. Nee, wahrhaftig! Vor 'ner Stunde Arbeit gefunden – und jetzt so 'ne Schlummerstätte! Kinder, das ist ja wie im Himmel hier! Also, Frau – Frau –«

»Heiners …«

»Frau Heiners, hier geh' ich nicht weg! Da können Sie machen, was Sie wollen.« Er warf den Überzieher ab: »Da bleib' ich!« Er wärmte sich die Hände am Herde.

»Man nicht so hastig«, wandte Frau Heiners ein. »Erst müssen wir doch …«

»Ach so!« Der Angekommene wandte sich schnell und mit fast ängstlichen Augen zu ihr: »Richtig, die Miete! Die ist gewiß nicht billig, was?«

»Zwanzig Mark mit Kaffee.«

»Bon!« Er zog ein altes Portemonnaie. »Ich hab' nämlich gleich 'nen kleinen Vorschuß genommen, müssen Sie wissen. Hier, das als Anzahlung. Sonnabend kriegen Sie den Rest. Na, woll'n Sie nicht?«

Frau Heiners streckte die Hand nicht aus. Ihr Blick glitt zwischen den beiden Männern hin und her und blieb ängstlich auf Zamber haften. Der stand bewegungslos, das Auge starr auf die Hand des andern gerichtet. Dann sagte er mit trockner, heiserer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien: »Warum nehmen Sie nicht?«

»Ich bin der gnädigen Frau wohl 'n bißchen zu ramponiert?« Der neue Mieter sah ironisch an seiner abgetragenen Kleidung nieder. »Auf 'n Ball kann ich nicht damit, das ist richtig. Aber warten Sie man bloß drei oder vier Wochen, und ich bin wieder herrlich bei Pelle. Da kennt mich keiner wieder.« Er reckte die Arme. »Von morgen an wird gearbeitet! Und meine Schuld soll's nicht sein, wenn ich noch mal auf Stiefeln ohne Sohlen herumtanzen muß! Meine Schuld soll's nicht sein, wenn ich noch mal da in dem Dings logieren muß, in dem …«, er unterbrach sich mit einer heftigen Handbewegung, »weg damit! Geht keinem was an!«

»Wo kommen Sie denn her?« fragte Frau Heiners, nur, um die Entscheidung hinauszuschieben.

»Wie?« Der andere riß die Augen auf. »Wo ich herkomm'? Das ist's ja eben, was ich nicht sagen wollte! – Aber, zum Donnerwetter, warum soll ich's denn nicht sagen?! – Na, na«, er winkte beruhigend der Frau zu, die ihn ängstlich anstarrte. »Aus 'm Zuchthaus nicht. Aus 'm Asyl – hahaha! Ein feines Logis sage ich Ihnen. Und billig, billig!«

»Aus dem – Asyl?« Zamber fragte. Es blitzte in ihm wie eine Hoffnung auf. »Im Asyl haben Sie gewohnt?«

»Gewohnt! Na ja, was man so wohnen nennt. Nachts 'ne Bleibe und 'n Dach überm Kopf!«

»Ein Dach überm Kopf!« Zamber wiederholte es mechanisch und blickte nach dem Fenster, an das der Schnee klatschte. »Ein Dach überm Kopf! - Und am Tage? Wo bleibt man den Tag über?«

»Den Tag über?« Der andre lachte höhnisch. »Bahnhof, Wärmehalle, Trab durch die Straßen! Dabei hier mal angeklopft und da. Arbeit! Arbeit? Bedaure. Bedaure!« Er knirschte mit den Zähnen. »Es war die höchste Zeit. Sonst –!« Die Faust ballte sich.

»Sonst?« fragte Zamber atemlos.

»Sonst –«, der andere trat nahe zu ihm heran und schüttelte den erhobenen Arm, »mit der Faust hier hätt' ich ins erste beste Schaufenster geschlagen!«

»Mein Je!« schrie die Frau.

»Haben Sie keine Angst«, lachte der neue Mieter. »Vor mir ist jede Fliege sicher. Aber auf irgendeine Art muß der Mensch doch leben, was?« Den letzten Satz schrie er wieder. »Und wenn's nicht anders ist, auf Staatskosten!«

»Auf Staatskosten?« fragte Zamber.

»Natürlich, Freundchen! Solange, wie man ruhig und ehrlich ist – na ja, da ist nichts zu hoffen. Aber 'n kleiner Einbruch oder sonst was – und du bist versorgt. Kriegst 'n hübsches Haus, kleine niedliche Fenster mit Gardinen, eiserne zwar. Bedienung, Bewachung, Ehrenposten. Diesmal bin ich noch drum 'rumgekommen. Aber das nächste Mal, wenn's absolut nicht mehr geht, dann …« Er schüttelte wieder die Faust. »Also, Frau Heiners, wie ist's denn jetzt mit uns? 's wird schon dunkel, und ich hab' Sehnsucht nach 'm gescheiten Bettzipfel. Kann ich bleiben?«

»Ja, ja.« Zamber antwortete an Stelle der noch immer ratlosen Wirtin und griff nach seinem Hut. »Da sind auch die Schlüssel.« Er förderte sie mit zitternder Hand aus der Tasche.

»Was machen denn aber Sie?« Schluchzend fragte es die Frau Heiners.

»Oh, ich«, er sagte es mit einem verlorenen Lächeln, »ich finde schon eine – Unterkunft. Es gibt ja – so viele Häuser hier.«

»Was? Sind Sie auch ohne Arbeit?« Der neue Mieter erkundigte sich.

»Ja. Ich finde keine. Nirgends. Bin auch zu schwach. Ein – klappriges Gestell, nicht? Sagte mir neulich einer. Herausfüttern muß ich mich erst wieder, verstehen Sie?«

»Sie sind krank, Mann! Donnerwetter, ja, wir können Sie doch nicht so laufen lassen – überhaupt bei dem Wetter! Hören Sie bloß mal, wie der Wind im Schornstein poltert!«

»Sturm.« Zamber hob die magere Faust. »Genauso ist's in meinem Schädel.«

»Sie müssen dableiben.« Der neue Mieter ergriff ihn bei der Hand. »Das wird sich doch irgendwie machen lassen; was, Frau Heiners? Wenigstens die eine Nacht noch.«

Frau Heiners wies ratlos auf die kleinen Räume. »Da geht's nicht. Da schlaf ich. Und in der Stube ist auch gerade man für einen Platz. Oder ich müßte vielleicht auf 'm Korridor 'n Lager zurechtmachen?«

»Nein.« Zamber schüttelte den Kopf. »Es ist genug, Frau Heiners. Morgen wär's dieselbe Geschichte. Einmal muß ich gehen. Dann lieber gleich. Meine Sachen behalten Sie nur als Pfand. Wenn ich noch mal in meinem Leben Geld in die Finger kriegen sollte, denk' ich zuerst an Sie, das können Sie glauben.« Er reichte ihr mit einem dankbaren Blick die Hand, gab sie auch dem Dritten und riß sich mit einem Ruck los. Zur Flurtür hinaus. Dann wie mit Sturmschritten die Treppe hinab. Als könnte ihn jemand zurückhalten.

Oben stand der neue Mieter schweigend am Herde und wärmte sich. Dabei blickte er zuweilen hinüber zu seiner Wirtin, die schon wieder am Plättbrett stand und das heiße Eisen hin und her führte. Dabei schluckte sie mitunter ganz merkwürdig und gebrauchte häufig das Taschentuch.

»Verdammt!« murmelte er für sich. »Das könnt' nu heut' so 'n lustiger Abend sein …« – – –

Als Zamber die schwere Haustür aufriß, schlug ihm der brandende Sturm klatschend eine Ladung Schnee und Regen ins Gesicht. Er empfand es kaum und wischte nur mit der Hand über die Augen.

Wie eine Wohltat war's ihm hier draußen; wie ein willkommener Angriff kam der Sturm über ihn und stachelte die Kräfte auf, sich zu wehren. Das dämpfte die brennenden Gedanken und lenkte die stürmenden Empfindungen ab. Er rannte blindlings vorwärts, ohne an das Wohin zu denken. Hart streifte er an den Passanten vorbei; sie blickten ihm mißbilligend oder verwundert nach. Er sah sie nicht. Er fühlte nur die Lust der Bewegung, die sich durch das Wetter kämpfte, fühlte die Spannung und das Wachsen seines Widerstandes. Straße um Straße hinauf. Auf Hut und Schultern legte sich der Schnee in dichten Ballen; tiefer und tiefer sog sich die Nässe in Joppe und Beinkleid. Der Straßenbrei zog sich bei einem Schritt in die klaffenden Stiefel und spritzte beim nächsten wieder hinaus. Zamber bemerkte es nicht.

Belebter die Straßen; häufiger die Anrempelungen. Schon schimpfte der eine und der andre hinter ihm her. Er hörte keinen Laut. Er stürmte über die Straßenkreuzungen, wo Wagen auf Wagen folgte; streifte die dampfenden Nüstern der Droschkenpferde und eilte kaum zwei Schritt vor den heransausenden Autos und den Elektrischen vorbei, so daß die Leute aufschrien und sich abwandten in dem Glauben, einen zermalmten Körper auf den Schienen zu erblicken. Zamber wußte es nicht und kam heil hinüber.

Und plötzlich, bei einer neuen Straßenbiegung, lag's wie eine Welt voll Licht vor ihm. Wie eine lange, unendliche Reihe verschleierter Monde schwebten die elektrischen Bogenlampen über der Straße. Und aus gewaltigen, massenhaften Schaufenstern strömte die Helle auf die Trottoirs und beleuchtete eilende Ströme von Menschen, über denen es wogte und wimmelte von Regendächern. Er streifte weiche Pelzmäntel und hörte seidene Röcke knistern. In Gummigaloschen patschte es vor und hinter ihm dahin.

Zamber wollte in seinem alten Tempo weiter. Das gelang ihm nicht. Die Menge zwang ihn, langsamer zu gehen, zwang ihn, auszuweichen. Das brachte ihn zum Erwachen, zu einer noch unklaren Besinnung.

Er blickte sie an, die an ihm vorbeihasteten.

Wohin gingen sie alle?

Er wußte keine Antwort, und es kam ihm sinnlos vor, dies Hinundherströmen der Massen. Die da eben, mit einer langen Pelzboa um den schlanken Hals, ins Auto stieg, wo wollte sie hin? Sie rief's dem Chauffeur zu: »Opernhaus!« Ach so, das war dort, wo sie die schöne Musik machten. Er hatte mal oben, ganz oben auf dem letzten Platz gesessen.

Aber die anderen? Einige bogen ab in die Lokale oder traten in ein Geschäft.

Nun hörte er, wie dicht neben ihm sich zwei verabschiedeten: »Gute Nacht!«

Und urplötzlich kam ihm die Antwort: Sie gehen nach Hause! All die vielen, die es so eilig hatten, gingen nach Hause. Dort stand ein warmer Ofen, ein Bett und wohl auch ein gedeckter Tisch. – ›Und ich? Wohin gehe ich?‹

Erschrecken kam über ihn. In Klarheit sah er seine Lage, sein zweckloses Umherstreifen. Er fühlte, wie ihm das Hemd am Leibe klebte. War's der eigene Schweiß – war's die durchgedrungene Nässe des Schnees? Es brannte ihm auf dem Rücken. Dann lief ein fieberndes Frösteln vom Genick herab bis zu den nassen Füßen. Und so fort im Wechsel. Hunger und Durst meldeten sich, bohrten und zwickten im Magen.

Ein Blick seitwärts – das war wie eine Fata Morgana. Ein heller, freundlich geschmückter Laden, vollgepfropft mit Eßwaren aller Art, mit Delikatessen, Früchten und Wein …

Er wühlte in den Taschen. Nein. Kein Pfennig.

Er trat näher an das Fenster heran und begriff nicht, wie es kam, daß er hungernd hier draußen stehen mußte, während dort hinter den Scheiben der Überfluß wartete.

Weiter schlich er. Und sah Haus bei Haus Berge von Vorräten, von warmen Kleidungsstücken, von Pelzen und Schuhen.

Sein Auge richtete sich auf die oberen Etagen der Häuser und ließ den Blick die Straße entlanggehen bis zum äußersten Ende. Und im Geiste sah er so Hunderte von Straßen, Tausende von Wohnungen. Für ihn war kein Platz. Nirgends.

Er musterte seine beschmutzte, schäbige Kleidung. Für ihn gab es keinen warmen Rock, keinen Pelz.

Wieder stach der Hunger. Auf ihn wartete kein Teller.

Zamber blieb stehen und nahm den Hut ab. Die Stirn brannte unter der großen Frage, die sich glühend, verzweifelnd hinter ihr herumwälzte.

War er wahnsinnig? Oder war es die Welt? Ein Gesicht zog ihn an. Aus den Spiegeln, die die Auslage eines Konfitürenladens einrahmten. Er trat näher. Ein seltsames mageres Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und schmalen bläulichen Lippen. Mit rotgeränderten, glühenden Augen, in die schwarze, nasse Haarsträhnen hineinhingen.

Er erschrak, wie die Augen sich forschend weiteten. Das war ja sein eigenes Gesicht!

Er betrachtete es bebend und doch voller Neugier. Einst war sein Anblick ein andrer gewesen, er wußte es ganz genau. So also jetzt. So sah einer aus, der kein Brot, keine Kleidung, kein Zuhause hatte. – Kein Zuhause!

Das war das Wichtigste. Wo blieb er in der Nacht? Ihn fror, ihn hungerte …

Was hatte der andere gesagt? Auf Staatskosten? Man brauchte nur mit der Faust …?

Zamber dachte den Gedanken nicht zu Ende. Die rechte Faust beschrieb einen gewaltigen Bogen – ein sausender Schlag …

Klingen und Klirren. Ein gewaltiges Loch klaffte in der riesigen Spiegelscheibe. Strahlenförmige Risse durchzogen sie nach allen Seiten.

Passanten sammelten sich. Der Ladenbesitzer und seine Gehilfen kamen herausgestürmt. Ein großer, entrüsteter Menschenhauf lief zusammen.

Unter Püffen, Stößen und beschimpfenden Redensarten schob man den Attentäter dem heraneilenden Schutzmann zu. Der brachte ihn zur Wache.

Eine Zelle nahm ihn auf. Er fiel hin, schrie und tobte. Ein Arzt wurde gerufen. Der verband ihm die blutende Hand und ließ ihn nach der Gefangenenstation eines Krankenhauses bringen.

Mitten in der Nacht erwachte Zamber, in Schweiß gebadet. Eine Krankenschwester trat an sein Bett mit der leisen, freundlichen Frage: »Wünschen Sie etwas?«

»Hunger! Durst!«

»Gleich.« Sie entfernte sich mit freundlichem Nicken. Er sah ihr verwundert nach, wußte nicht, was mit ihm vorgegangen.

Ein behagliches Gefühl des Geborgenseins kam über ihn. Hier war es schön. Gleich würde er essen und trinken und sich dann wieder zurücklegen in das warme, reinliche Bett.

Und horchen auf den heulenden Sturm, der an den Eisenstangen des Fensters rüttelte und knirschend den feuchten Schnee an die zitternden Scheiben warf.


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