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Der Träumer

Vornübergebeugt, in dunklem Rock und Zylinder, an den Händen schwarze Handschuhe, so schob Martin Auhl, die langen Arme haltlos schwingen lassend, stumpf und gedankenlos dahin. Er konnte es noch immer nicht fassen, daß er seine alte Mutter nun für immer verloren hatte, trotzdem der kleine weißhaarige Kantor Pagel fortgesetzt tröstend auf ihn einredete, seitdem sie mit einem Teil des Gefolges den Friedhof verlassen hatten.

»Sieh mal, mein Jung', sie war doch in den Siebzigern und hat in ihrem Leben so viel durchgemacht, daß du ihr die Ruhe wohl gönnen kannst. Mit zwei Männern sich herumzuschlagen, das ist keine Kleinigkeit; da kann eine Frau schon müde werden. Ihr erster hat getrunken, der zweite gesoffen. Der eine hat die Wiesen ins Gasthaus getragen, und der andre hat gemeint, wo die Wiesen sind, sollen auch die Felder sein. Das Vieh haben sie so nebenher mitgenommen, und jetzt ist kein Kuhschwanz mehr da. Na, das weißt du ja. Gott habe deinen Alten selig, aber ich möchte nicht an seiner Stelle sein, wenn dein Mudding ihm nun im Himmel die Rechnung aufmacht und Petrus sich die Ärmel aufkrempelt. Aber ich glaube, sie tut's nicht mal. Nein. Sie war zu gut, viel zu gut für diese Welt, wo nur die Lumpen sich so recht wohl fühlen können. Und wenn sie nun selig ist, dann wird sie ganz gewiß weiter nichts tun, als alle himmlischen Mächte bitten, für dich, für ihr Martining, zu sorgen. Ja, auch gegen dich war sie viel zu gut – nein, nimm mir's nicht übel –, es wird schwerhalten, daß du allein gehen lernst … Siehst du, da purzelst du schon beinahe in den Graben …«

Der kleine Kantor ergriff den jungen Mann am Arm, zog ihn auf den Fußsteig zurück und sah mitleidig hinauf in das rote und runde Gesicht, über das die Tränen wie große, dicke Erbsen kollerten. Zuweilen fuhr der schwarze Rockärmel an die Augen, aber man hörte keinen Ton aus dem Munde Martins, kein Seufzen und Schluchzen.

Von der See her, über Dünen und Deich, strich ein scharfer, kalter Wind in das Dorf Römmelshagen und führte vereinzelte Schneeflocken mit sich, die sich auf die Kleider und Hüte der Leidtragenden hefteten, sich in Haar und Bart verfingen, dort auftauten und dann wie helle Perlen hängenblieben. Bei jedem heftigen Windstoße griffen die Männer an die Hüte, und Martin Auhls rauher Zylinder befand sich immerfort in Gefahr, davongerissen zu werden, denn es war ein Erbstück und ursprünglich für einen weniger umfangreichen Kopf bestimmt. Außer dem Kantor sprach nur selten einer ein Wort; alle hatten genug damit zu tun, die zahlreichen Pfützen zu umgehen, die vom Straßendamm auf den Fußsteig übergetreten und nur mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren, und jene Schlitterbahnen, die die Dorfjugend von Römmelshagen angelegt und mit Ausdauer und Holzpantoffeln blank poliert hatte. Wer von dem Gefolge an seinem Hause oder seiner Straße vorüberkam, verabschiedete sich von den übrigen durch ein kurzes Kopfnicken. So schmolz die Gesellschaft immer mehr zusammen, bis endlich nur noch der Kantor und Klaus Langhorn, ein alter Fischer, Martin Auhl in seine Wohnung begleiteten. Als aber auch Klaus sich davonmachen wollte, sagte der Kantor: »Lauf du nicht auch noch weg, Klaus. Hilf mir lieber, den Jungen nach Hause zu bringen. Wir bleiben noch 'ne Weile bei dir, Martin, damit du nicht gleich zu einsam bist.«

Langhorn zögerte: »Ick wull man bloß 'ne Tasse Kaffee drinken, Kanter.«

»Das wollen wir alle. Im Auhlhaus werden sich schon noch ein paar Bohnen und Wasser finden, nicht wahr, Martin?«

Martin hörte nicht. Er war ihnen zwei Schritte vorauf und strebte nun gegen den Wind. Der schwarze Rock straffte sich auf dem fetten Rücken, und in den weiten Beinkleidern fing sich der Wind und zeigte die rohen, braunen Schäfte der langen Stiefel.

»Wat dot is dot und kummt nich wedder«, sagte Klaus Langhorn, als sie Martin eingeholt hatten. »Du mußt dor nich mehr an denken.«

»Laß ihn.« Der Kantor hob den Arm, als wolle er weitere Tröstungen abwehren. »Er war schon in der Schule so. Wo ein andrer ein Glas voll Tränen vergießt, wird es bei ihm immer ein Eimer voll.«

»Wat ein in sick hätt, dat hätt ein in sick.« Klaus nickte bedächtig.

Der Kantor lächelte. »Wenn du wat seggst, Klaus Langhorn, denn so seggst du wat.«

»Ick bün 'n olen Praktiker, Kanter.«

Vor der Heckenpforte des Grundstücks, aus dem die alte Mutter Auhl heute hinausgetragen worden war, blieb Martin stehen und rang sich einige Worte ab: »Sie kommen wohl noch 'n bischen mit 'rein, Herr Kantor? Sie auch, Herr Langhorn.«

»Ja, mein Jünging; wir haben die aufdringliche Absicht, bei dir Kaffee zu trinken.«

»Dat is kold hüt.« Klaus entschuldigte sich.

Martin errötete. »Ich weiß wirklich nicht, ob noch etwas da ist.«

»Na«, sagte der Kantor. »Wenn nicht, dann nicht. Aber hoffentlich hast du einen warmen Ofen?«

»Ich glaube nicht. Ich habe noch gar nicht daran gedacht.«

»Schöne Wirtschaft. Dann zeig uns mal gleich, wo wir Holz und Torf finden.«

Martin führte sie am Hause vorbei in den Stall, der im hinteren Teile des Gartens lag. Dort beluden sie sich mit Feuerung und waren im Begriff, ins Haus zu treten, als eine Mädchenstimme rief: »Ick hew all inbött.«

»Klein-Miezing!« riefen alle drei auf einmal, und selbst Martin lächelte.

Ein Mädchenkopf sah freundlich über die Hecke des Nachbargrundstücks und nickte ihnen zu.

»Du bist ein Engel, Miezing!« Der Kantor warf seinen Torf hin.

»Ich hab' man bloß noch keine Flünken, Herr Pagel.« Sie lachte und lief davon.

»Dor hett sei recht«, sagte Klaus Langhorn, »Engels ohne Flünken giwt dat nich.«

»Doch, Klaus.« Der Kantor folgte Martin. »Es gibt auch Engel ohne Flügel: Frauen, die uns die Erde zum Paradiese und das Leben zur Seligkeit machen.«

Der alte Fischer stellte sich an den Ofen: »Solange sei söbentein Johr sünd, mag dat angahn, Pagel. Du büß nicht verheirat'! Aber wenn se mündig sünd, kriegt's 'n Mul, dat gläuw mi man.«

Der Kantor antwortete nicht, sondern wies mit triumphierender Gebärde auf den Tisch. Da stand wohlgeordnet ein ganzes Kaffeegeschirr, ein Teller mit Butter, ein Glas mit Honig, und in der Mitte des Tisches lag ein langes, frisches Schwarzbrot nebst dem dazugehörenden großen Messer.

»Jä.« Klaus kam näher. »Dat makt sick nich schlecht.«

»Und ich wette, daß Klein-Miezing uns auch Kaffee gekocht hat!« Der Kantor langte in die tiefe Ofenröhre und holte einen großen braunen Topf heraus. »Da hast du ja gleich eine famose Wirtschafterin gekriegt, Martin.«

Martin sah verdutzt auf den Tisch: »Das kann ich wohl gar nicht bezahlen.«

Der Kantor lachte und füllte die Tassen. »Dann verklagt dich Klein-Miezing, und du wirst verdonnert, sie zu heiraten.«

Langhorn strich sich ein dickes Butterbrot: »Denn verköb leiber dien Hus und betahl. Dat is ümmer noch billiger.«

»Na, mein lieber Klaus!« Der Kantor bewegte den Zuckerlöffel in der Luft und rührte dann energisch in seiner Tasse. »Wenn ich mal eine Bilanz ziehen wollte, dann würde sich vermutlich mit erschreckender Deutlichkeit herausstellen, daß die frauenlose Wirtschaft erst recht kein einträgliches Geschäft ist!«

Klaus ließ einen dicken Faden Honig auf sein Brot laufen: »Alles mit 'n Ünnerscheid. Dat is, wie dat mit de Immen is: De flietig sünd, drägt wat 'ran, aber de Fulen fret' dat weg, wat de annern 'ranhalt.«

»Schön.« Der Kantor nickte. »Auf dieses Kompromiß können wir uns einigen. Denn diesmal hast du es wirklich getroffen, Klaus Langhorn.«

Martin Auhl saß noch immer schweigend am Tisch, mit verlorenen Blicken in das offene Feuer des Ofens starrend. Er dachte an seine Mutter und wie sie sonst um diese Tageszeit hier mit ihm gesessen und ihm die besten Bissen zugeschoben hatte. Er meinte, sie müsse plötzlich erscheinen, ihm die Tasse füllen und sagen: »Trink, Martining!«

Vor andern war's ihm oft unlieb gewesen, wenn sie ihn in allem wie einen kleinen Jungen behandelte. Aber nun, in diesem Augenblick, da ihn das Grauen vor der kommenden Einsamkeit durchfröstelte, hätte er's gern gehört: »Trink, Martining!«

Niemand sagte es. Aber vielleicht hatte der Kantor seine Empfindungen erraten; denn er reichte ihm eine Brotschnitte: »Iß, Jünging, und trink!« Er schob ihm eine volle Tasse hin. »Die Welt ist doppelt trübe, wenn der Magen knurrt.«

Zögernd folgte Martin dem Geheiß. Er nippte nur und kaute träge. Aber allmählich verwandelte er sich, und je deutlicher vor seinen Augen Kaffeetopf und Honigglas wurden, desto mehr verblaßte das Bild der Mutter und trat zurück vor dem Triebe, sich zu sättigen. Seit drei Tagen hatte er wenig zu sich genommen; nun gerieten der Kantor und Klaus in immer größeres Erstaunen vor seinem Appetit, der sich rückhaltlos befriedigte. Die Butter- und Honigschnitten verschwanden wie Fliegen im Rachen eines Hechtes, und der Inhalt von einem halben Dutzend Tassen lief schlank hinunter wie Regen in einer Dachrinne.

»Wenn du immer so futterst, mein Sohn«, der Kantor lachte, »dann wirst du genug zu tun haben, um deinen Schrank auf dem laufenden zu erhalten. Hast du dir schon überlegt, wie du das anfangen willst? Hat deine Mutter etwas hinterlassen?«

»Ich weiß nicht, Herr Kantor.« Martin kaute. »In den letzten drei Tagen habe ich an gar nichts gedacht. Aber ich will mal nachsehen.«

Er begab sich in eine nebenanliegende Kammer und schloß dort die große Truhe der Mutter auf.

Indessen sagte Klaus Langhorn: »Wat hei dort find't, Kanter, dat ward ok woll nich mehr sien, als 'ne Kat op ehr'n Steert wegdrägen kann.«

Martin kam mit einer alten gestrickten Geldbörse und mit einem »Haussegen«, einem halbfertig gestickten Wandspruch, zurück. Den Inhalt der Börse schüttete er auf den Tisch. Der Kantor zählte das Geld.

»Na, mein Sohn, wenn du alle Beerdigungskosten berappt hast, kannst du dir vielleicht noch 'n Dutzend Zigarren kaufen, aber mehr nicht.«

»Denn bliew man bie dien Fischhandel und bi de Rökeri«, sagte Klaus.

Martin sah den Kantor an: »Das möchte ich nicht.«

»Das hat bis jetzt dein Mudding gemacht, nicht wahr?«

»Geholfen habe ich ihr ja.«

»Aber ohne Aufregung, wie? Dich hat man doch selten mit dem Bücklingskorb gesehen. Was hast du getan, mein Jung'?«

»Achter de Bäuker seten«, sagte Klaus mit einem Anflug von Zorn. »Gedichten hätt hei makt! Plattdütsche noch datau!«

»Ich habe auch gelernt.«

»Gelernt?« Der Kantor war aufgestanden und ging hin und her. »Was?«

»Allerlei.«

»Allerlei!« Pagel reckte die Arme in die Luft. »Was willst du damit? Hast du nie daran gedacht, daß du dich einmal allein ernähren mußt?« Martin senkte den roten Kopf und sagte leise: »Mudding sorgte ja für alles.«

»Ja!« Der Kantor nickte kräftig: »Mudding sorgte! Und nun sitzen wir da mit ›allerlei‹ Kenntnissen und können sie nicht verwerten … Also, das hilft dir nicht. Der Fischhandel ist ein ebenso ehrenwertes Geschäft wie jedes andre, und dir bleibt nichts weiter übrig, als ihn fortzuführen.«

»Ich muß es wohl …«

»Was hast du da noch?« Der Kantor ergriff den »Haussegen« und las die Stickerei und vorgezeichnete Schrift:

»Willst du Gesundheit, Glück und Freuden,
mußt du die vollen Flaschen meiden.
Dies Haus sie brachten auf den Hund.
Trink Buttermilch! Die ist gesund.«

»Dat is 'ne grote Wohrheit!« Klaus nickte zustimmend. »Aff und an so 'n Lütten oder 'n stiefen Grog, dor segg 'k nix tau. Aber sünsten bün ick ok for Boddermelk!«

»Ja.« Der Kantor machte sich zum Fortgang fertig. »Mit diesem Spruch wollen wir dich jetzt allein lassen. Wenn du ihn befolgst, hat dir deine Mutter ein Erbteil hinterlassen, das einige Tausend Taler und noch mehr wert ist.«

Und Klaus sagte an der Tür: »Wenn du rökerte Aal häst, nehm ick di 'n Pund af. Und wenn du gräune Fisch brukst, kann 'k di woll mitunner 'n poor in't Hus bringen.«

Sie drückten Martin die Hände und gingen.

Die Dämmerung kroch in das Zimmer. Nur die Glut des Ofens warf einen warmen, glühenden Schimmer in die graue Stube.

Martin begann zu wandern. Die alten Bauernmöbel des Zimmers nahmen phantastische Gestalt an, und ihre Schatten dehnten und reckten sich an den Wänden. Da war ein alter eichener Sekretär mit Säulen und einem geschnitzten Aufbau. Was in seinen verstaubten Fächern schlummerte, war Vergangenheit: Rechnungen und Briefe aus der Zeit des Vaters, Kräuter und seltene Sämereien. Denn der alte Auhl hatte neben seiner Landwirtschaft eine kleine Gärtnerei betrieben. Mehr aus Liebhaberei, wie ihm denn überhaupt die geduldige, furchenumwühlende Arbeit des Bauers ein Greuel gewesen. Er züchtete seltene Hühnerrassen und brachte einen guten Teil seines Lebens mit dem Versuch hin, die mannigfachen Katzenarten um eine himmelblauhaarige zu vermehren. Und wenn in Römmelshagen an der nordischen Wasserkante statt der Linden und Kastanien noch nicht Palmen die Straßen säumten, so war es ganz gewiß nicht die Schuld des alten Auhl; denn der hatte sich redlich bemüht, den Baum der heißen Zone an ein weniger weichliches Klima zu gewöhnen. Alles mit negativem Erfolge. Nur die Hühner, die als die dümmsten Geschöpfe verschrien sind, brachten ihm eine silberne Medaille auf der Provinzial-Geflügelausstellung. Der alte Auhl suchte Tröstung im Alkohol, und Frau Auhl, die schon mit einem ersten Mann Pech gehabt hatte, sah den Landbesitz ihrer Väter zusammenschmelzen wie Eis in der Frühlingssonne. Da wurde Martin geboren, und noch einmal schien der alte Auhl sich emporzuraffen. Er wollte etwas ganz Besonderes aus dem Jungen machen. »Ein Edelgewächs«, sagte er. Nahm sich auch eine Kindergärtnerin. Mehrere mit der Zeit; denn sie gingen bald wieder, weil Frau Auhl alle mütterlichen Pflichten und Rechte für sich allein beanspruchte. Jahrelang tobte im Auhlhause der Krieg um das Kind. Die Mutter siegte und hielt den kleinen Martin um so fester. All ihre Sorge und Liebe vereinigte sich auf ihn. Lehrer sollte er werden. Er wär's auch geworden. Aber als er ein Jahr auf dem Seminar zugebracht hatte, starb der Vater. Die Gläubiger kamen. Und Frau Auhl rettete außer ihrem Haus und dem dazugehörigen Garten nur ihr nacktes Leben. Sie versuchte es trotzdem, Martin das weitere Studium zu ermöglichen. Es gelang ihr nicht. Er kam freudig nach Hause und wurde mit Tränen empfangen. Mutter Auhl begann einen Fischhandel und eine kleine Räucherei, und Martin half. Ein wenig. Meist saß er oben in seinem Kämmerlein und las. Oder schrieb ein plattdeutsches Gedicht. Oder führte die Ziege im Garten spazieren. Lag auch wohl in der Sonne am Strande und grübelte. Was und warum? Martin wußte es nicht. Mudding sorgte ja für alles und bestärkte ihn in seiner Lust, zu studieren, zu phantasieren und tatlos umherzuschweifen …

Wie er jetzt in der dunklen Stube mit schweren Schritten auf und ab ging, erschien sie ihm wieder. Bald saß sie am Ofen und strickte, bald am Fenster mit einer großen Hornbrille auf der Nase, die Zeitung lesend. Oder sie legte ihre harte, abgearbeitete Hand auf seine Schulter und fragte, indem sie ihm liebevoll in die Augen blickte: »Na, Martining, ist dir auch gut?«

Und während er sie leibhaftig vor sich zu sehen glaubte, erschien eine große, mit Draht umflochtene Stallaterne im Rahmen der Tür, und eine knarrende Altweiberstimme fragte: »Hast du dat Veih all besorgt?« Martin erschrak und mußte sich erst sammeln, ehe er Frau Schluhse erkannte, Klein-Miezings Mutter, die hier als Nachbarin seit drei Tagen nach dem Rechten sah.

»Das Vieh? Ach, das hab' ich vergessen, Oll-Marieken.«

»Vergeten?! Na … an so 'n Dag wie hüt kann dat passeer'n. Vun morgen an mußt du dien Hus und Hoff allein versehn.« Und kam noch einmal zurück: »Gah man slapen, Martining. Gaud Nacht.«

»Gut' Nacht.«

Gähnend, mit schweren, müden Schritten stieg er zum Boden empor, wo in einer kleinen Kammer sein Bett stand. Es war geordnet wie immer. Aber es fiel ihm nicht auf, trotzdem tote Mütter keine Betten mehr aufzuschütteln pflegen.

Als Martin am folgenden Morgen erwachte, trieb ein scharfer Ost wirbelnde Schneeschwaden an das Fenster. Er spürte den feinen, scharfen Zug, wickelte sich deshalb noch einmal fest in das Deckbett und sah nach alter Gewohnheit behaglich zur Kammerdecke empor. An den rauhen, ungehobelten Brettern schaukelten Würste, und an einem Querbalken baumelte, von einem Leinenbeutel eingehüllt, ein großer Schinken. An den Wänden hing trockenes Bohnengesträuch, dem im Frühjahr die Saatbohnen entnommen werden; auch Majoran, Dill und andere Küchengewürze waren an diesem trockenen und luftigen Orte aufgehängt und erfüllten die Kammer mit würzigem Duft. Am Fenster stand ein kleiner Tisch mit Schreibmaterial, darüber war ein breites, mehretagiges Bücherbrett angebracht, das dick mit Bänden vollgestopft war. In der dunkelsten Ecke, von einer dicken Staubschicht bedeckt, lag, wie im Sarge in ihrem schwarzen Futteral, eine Violine, die wohl völlig vergessen war.

Hier und da klebten kleine Zettel an den Wänden, unterbrochen von den Gewürzbündeln, und auf diesen Zetteln standen die Sprüche und Verse, die Martin sich ausgedacht und aufgeschrieben hatte. Er konnte sich so im Vorbeigehen daran erfreuen, und Mutter Auhl hatte sie wohl hundertmal mit Inbrunst studiert.

Martin versuchte jetzt, sich den einen und andern ins Gedächtnis zurückzurufen. Laute Stimmen auf dem Hofe störten ihn; er sprang aus dem Bett und erkannte Oll-Marieken nebst ihrer Tochter Klein-Miezing, die sich bemühten, durch den reichlich gefallenen Schnee einen Weg zu bahnen, der in einer Lücke der Hecke mündete und jenseits derselben eine Fortsetzung zum Hause der Frau Schluhse erfuhr. Martin erschrak. Denn nun erst fiel ihm ein, was gestern für ein Tag gewesen: daß er seine Mutter begraben hatte und nun allein in diesem Hause sei. Das lähmte ihn und ließ ihn zitternd auf den Bettrand niedersitzen, bis die Kälte ihn aufschreckte und er hinter einem Vorhang seine Alltagskleider gefunden hatte. Schnell zog er sie an und ging nach unten. Dort brannte schon wieder der Ofen, und auch der gedeckte Tisch sah aus wie am Tage vorher.

Draußen klapperten Holzpantoffel. Klein-Miezing ließ sie an der Tür stehen und kam auf Strümpfen herein. Aus einer dicken Hülle von Kopftüchern blickte ihr frisches, rotes Gesicht mit dunklen, glänzenden Augen: »Morgen, Martin. Hast gut geschlafen?« Sie reichte ihm die Hand.

»Danke. Was Ihr Euch für Mühe mit mir macht, Marie!«

Sie lachte: »Du bist doch jetzt 'n armer Waisenjung'.«

»Ja. Ist es nicht schrecklich, Marie?«

»Es mag dir wohl schwer ankommen. Aber schrecklich ist es nicht. Wenn du ein Krüppel wärst, Martin. Aber du bist doch groß und stark und beinah 'n bischen zu fett.«

Er errötete: »Mudding sagte immer, der Mensch muß was zum Zusetzen haben, wenn er mal krank wird.«

Klein-Miezing lachte wieder: »Ja, dein liebes Mudding hat alles gemästet, was ihr in den Weg kam. Nicht bloß das Schwein, das ist ja dazu da. Auch die Ziege hat einen Speckbauch, und deine Hühner sehen aus wie Schmalzgänse. Eier legen sie gewiß nicht.«

»Mudding selbst war doch man schlank.«

»Ja, die hat es sich abgespart. Bloß daß ihr Söhning und ihr Vieh es gut haben sollten.«

Martin sah verlegen in seine Tasse. »Eben weil sie so gut war … und weil … sie mich liebhatte … und … Klein-Miezing … das ist nun ganz vorbei  … und ich bin allein … und hab' doch keinen Menschen mehr …«

»So schlimm ist es nicht, Martin. Mein Mudding und ich sind doch da.«

»Ja … Ihr … gut seid ihr, das ist gewiß.« Er sah plötzlich auf: »Aber hast du mich auch gern, Miezing?«

Sie trat erschrocken und glutrot einen Schritt zurück: »Wie … wie meinst du das, Martin?«

Er sah sie erstaunt an: »Wie ich das meine? … Ob du mir manchmal ein bißchen gut sein willst … so, wie Mudding zum Beispiel …«

Klein-Miezing atmete schwer und sagte leise: »Ich kann doch nicht dein Mudding sein … Ich … ich bin doch viel zu jung dazu.«

Er rührte verlegen in seiner Tasse: »Ich meine doch das auch nicht so. Ich meine das doch … anders … ganz anders.«

»Wie denn, Martin?«

Er zog die Stirne kraus und suchte nach der richtigen Antwort. »Bloß, daß ich nicht so verlassen bin … und ich weiß … daß mich ein Mensch liebhat …«

Klein-Miezing wußte nicht, was sie sagen sollte, und flüsterte nur: »Gern hab' ich dich, Martin.«

Und dann schwiegen beide, verlegen und rot. Denn es wurde wieder das Geklapper von Holzpantoffeln hörbar, und gleich darauf trat Miezings Mutter auf dicken, schwarzen Socken eilig in die Stube: »Wo bliwst du, Mieke?« … Sie sah forschend von einem zur andern: »Na, wat is denn hier? … Ach so? Geiht dat all los …?!« Sie packte Marie am Arm und schob sie zur Tür hinaus: »Gah mal gau an dien Arbeit! Aber fix, ganz fix! Di will ick dat wiesen, an' freuhen Morgen hier ümher tau poussiern! Kiek mal de lütte Deern an! … Und du!« Sie wandte sich zu Martin, der sein Gesicht tief über die Tasse senkte. »Und du, du büß mi ok de richtige!« Sie lachte ärgerlich. »Süht ut, als wenn hei nich bis drei teilen kann – und denn so! Aber de Heimlichen, dat sünd de slimmsten! Nee, mien Söhn, so steiht de Kau dwars in 'n Stall! Dat will ick di gliek seggen –«, mit erhobener Stimme: »De Poussiererei und so wat lied't ick nich! Kannst du denn 'ne Fru ernähren, wat, du arme Bessenbinner?«

»Von Frau und so hab' ich gar nichts gesagt.«

»Nich? Na, wat denn? Segg mi dat doch mal!«

»Das … das verstehen Sie doch nicht, Frau Schluhse.«

»Dat verstah ick nich?« Sie lachte grell auf. »Ach, du Döskopp! So klauk als du bün ick ok noch, wenn 'k ok keine plattdütschen Gedichten mak … Öberhaupt: Diene dämlichen Gedichten … dat is Speck vor de dummen Müs … Mieke hätt' gestern dien Kamer in Ordnung bröcht und hätt' sick warraftig utwennig liert, wat du dor ankliesterst häst. Hahaha!« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Dat is Kinnerei, versteihst mi. Kiek leiwer nah dien Hus und Hoff; denn dat is jetzt dien Sak'. Und Mieking kummt mi nich mehr hier herin, dat kann 'k di vertellen! Adjüs!«

Die kleine Frau trippelte eilig auf ihren Socken hinaus, dann klapperten die Holzpantoffel, und Martin sah durchs Fenster, wie sie auf dem heute gefegten Steige durch die Heckenlücke schnell in ihren Garten und in ihr Haus ging.

Martin stand unschlüssig in der Stube und prüfte sein Gewissen, da Frau Schluhse ihm offenbar böse war. Aber er fand keinen Selbstvorwurf; denn es war doch wohl keine Sünde, sich um Liebe zu bemühen. Oder doch? Martin seufzte. Er hatte bis jetzt nichts mit dieser Frage zu tun gehabt, weil ihm die Liebe der Mutter genügte. Und die brauchte er nicht zu erbitten.

Allmählich besann er sich darauf, daß es Zeit sei, sein Tagewerk zu beginnen. Aber wie? Er wanderte unschlüssig durch das Haus, ging in den Stall, spielte einige Minuten mit der Ziege, stand dann auf dem Hof im Schnee und sah sich nach allen Seiten um. Ja, richtig, da war ja noch das Räucherhäuschen. Er trat hinein und sah, daß dort noch mehrere Fische in ihren Rahmen über der Feuerstelle hingen; sie waren erst halb geräuchert, denn als Frau Auhl sich in den Lehnstuhl gesetzt hatte, um zu sterben, ging das Feuer aus, und Martin war bis heute noch nicht wieder hier hereingekommen. Er freute sich, eine Aufgabe gefunden zu haben, entnahm einer bereitstehenden Kiste dünngespaltetes Erlenholz, entzündete es und legte Sägespäne an. Sie begannen zu glimmen und schickten graublaue Rauchschwaden nach oben. Martin fand, daß dies ein interessantes Schauspiel sei, dem man schon ein Viertelstündchen zusehen könne. Aber mit der Zeit wurde es langweilig. Deshalb verließ er die Räucherkammer, schlenderte über den Hof, ging durch den Garten und stellte sich an die Heckentür. Er blickte die schneebedeckte Straße einige Male hinauf und hinab und kehrte ins Haus zurück.

Er trat in die Stube, wärmte sich die erkalteten Finger am Ofen, setzte sich hin, erhob sich wieder und ging in die Küche. Dort blickte er zwecklos umher und schloß dann die Zimmer jenseits des Hausflurs auf: eine große Stube und eine Schlafkammer. Es war ziemlich dunkel darin, denn die geschlossenen Fensterladen erlaubten dem Tag nur, durch einen kleinen herzförmigen Einschnitt hineinzusehen. Der Lichtschein spiegelte sich matt in den blankpolierten Möbeln, die aus einem modernen Abzahlungsgeschäft stammten und nur für die Sommergäste angeschafft waren, an die diese Seite des Hauses seit dem Tode des alten Auhl in jedem Jahre vermietet wurde. Nur ein einziges Stück aus der guten Vergangenheit der Familie stand hier: ein großes Tafelklavier, das den Ruhm und Vorzug dieses Hauses ausmachte. Martin hob den Deckel, drückte auf einige Tasten und verschloß es wieder. Ihn fröstelte. Also wieder in die andre Stube, an den Ofen. Aber dort zu stehen war langweilig. So stieg er in seine Schlafkammer hinauf, las einige seiner Verse, kramte in den Büchern und ging wieder nach unten. Ihm war zumute, als müsse er etwas suchen, das doch in diesem Hause nicht zu finden war: Gesellschaft.

Nach wiederholten Wanderungen im ganzen Hause zog er sich die Schaftstiefel an, setzte sich eine Mütze auf und ging ins Wirtshaus. Aber auch dort war es totenstill; nur die Wirtin kam eilig aus der Küche, begrüßte ihn, brachte ihm Bier und Schnaps und ließ ihn allein. Er studierte eine Zeitung, ohne recht auf den Sinn des Gelesenen zu achten, trank noch eine »Lage« und entfernte sich. Leere Gassen. Ruhevolle Stille. Sollte er zum Kantor gehen? Aber der saß jetzt vor seinen Buben und Mädel und geigte und sang mit ihnen.

Martin streifte durch den Dünenwald bis dorthin, wo tief unter ihm der Strand lag. Niedrige Eisdünen zogen sich am Ufer entlang, und der gelbe Sand war bedeckt mit Schneeinseln, die nun von einem scharfen Landwinde immer mehr ausgereckt wurden, bis ihre Spitzen die Eisdünen berührten und wirbelnd in das Wasser stäubten, den Tropfen entgegen, die aus der leichten Brandung emporspritzten und den Eiswall verstärkten. Martin schaute dem Spiel ein Weilchen zu und beobachtete einige Krähen, die auf dem Strande spazierten und an den Muscheln herumhackten. Fünfzig Meter vom Lande fischten ein paar buntgefiederte Wildenten. Einige Möwen strichen mit langen Flügelschlägen über das Wasser und verloren sich im grauen Dunst. Der Horizont schien nahe herangerückt. Schattenhaft tauchten einige kleine Fischerfahrzeuge auf. Hinter ihnen sprühten Funken empor. Gleich darauf sah er einen großen Dampfer aus der Dämmerung emporschatten. Aus dem Schornstein quollen dicke schwarzgelbe Dampfwolken. Er verfolgte das Schiff mit den Augen, lange, bis es seinen Kurs veränderte und wieder in dem dichten Nebel verschwand. Nur ein breiter und dunkler Rauchstreifen hing wie festgebannt in der Luft. Martin atmete auf und kehrte langsam und vor sich hingrübelnd nach Hause zurück. Er stieg die Treppe hinauf, setzte sich an den Tisch und schrieb auf einen Zettel:

Wo mag dat Schip hengahn?
Wiet in de Welt.
In Sturm und Ozean,
da is sien Feld
Ick stah hier op'n Lann'.
Wo is mien Stüermann?
Wo mag mien lütte Kahn,
oh, Mudding, segg:
Wohen mag hei woll gahn …?

Allmählich gewöhnte sich Martin daran, mit dem Henkelkorb am Arm im Orte herumzulaufen und seine geräucherten Fische anzubieten. Er patschte gleichgültig durch die vom Tauwetter überschwemmten Straßen und spürte die nassen Socken und Schuhe nicht. Er hörte auch nicht, was die Leute sagten, oder, wenn er es hörte, so achtete er nicht darauf. Er trat in die Häuser, grüßte, deckte seinen Korb auf und wartete auf den Entschluß der anderen, ohne seine Ware irgendwie zu empfehlen. Er sagte mechanisch den Preis, wenn er gefragt wurde – und wer etwas kaufte, nahm es einfach aus dem Korbe und drückte Martin das Geld in die Hand. Er nickte, griff an die Mütze, murmelte einen Gruß und entfernte sich.

Frau Auhl war nur zu Leuten gegangen, von denen sie voraussetzen durfte, daß sie zahlungsfähig waren und ihren Delikatessen eine gewisse Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Martin Auhl stolperte in alle Küchen ohne Unterschied, wurde verwundert empfangen und mußte immer wieder hören: »Jä, mien leiwe Martin! Wi hewt kein Geld, di wat aftoköpen!«

Eine ratlose Geste war Martins Antwort und die Entschuldigung: »Verschenken kann ich sie nicht.« – »Nee, nee. Dat glöwt wi girn.« Nachdenklich entfernte er sich. Standen aber Kinder um seinen Korb herum, hoben sie neugierig den Deckel und blickten lüsternen Auges hinein, dann sagte Martin lächelnd: »Na, man tau. Nehmt euch einen.« Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Und er lachte, wenn ein halbes Dutzend kleiner Hände hineinfuhr. Manche der Zahlungsunfähigen merkten sich das und sorgten dafür, daß die Kleinen sich vollzählig versammelten, wenn Martin kam. Der achtjährige Erich, ein Sohn des alkoholfreudigen Schuhmachermeisters Bartels, fragte dreist: »Kann ick för Vadding ok einen nehmen?«

Martin lachte, was Erich als Zustimmung auffaßte.

»Und – und …«, das kam schon etwas zaghafter heraus, »för Mudding ok?«

Da guckte Martin ihn groß und ernst an, reichte ihm zwei Fische und sagte: »Da ist auch noch einer für deine Großmutter.«

Aber er ging nicht wieder hin.

Seine zahlungsfähigen Kunden machten allerlei Ausstellungen. Die Frau des Kaufmanns Bielefeld sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Auhl, aber was ist das eigentlich mit Ihren Fischen, manchmal sind sie steinhart, manchmal butterweich. Zuweilen haben sie eine Farbe wie stark beschäftigte Schornsteinfeger, und ein andermal sehen sie aus wie bleichsüchtige Zitronen. Woran liegt das?«

Martin stand ganz perplex da. Er stotterte: »Mir ist das noch nicht aufgefallen.«

»Es ist aber so. Es muß doch am Räuchern liegen. Von Ihrer Frau Mutter bekam ich immer gleichmäßig schöne Ware.«

»Vielleicht – vielleicht …«, er suchte nach einer Ausflucht, »daß die Fische verschieden empfänglich für den Rauch sind?«

Da lachte Frau Bielefeld so laut und lange, daß Martin bestürzt und mit rotem Kopf seinen Korb nahm und schleunigst die Hoftür zu gewinnen suchte.

In der Folge machte er einen Bogen um dieses Haus.

Als die Sonne des Vorfrühlings die Wege trocknete, wanderte Martin mit seinem Henkelkorbe am Arm in die Dörfer der Umgegend. Die Äcker waren noch feucht, und selten sah er einen Menschen auf den Feldern. Selten auch begegnete er einem auf der Straße. Zuweilen kam ein Bauernwagen, und er durfte mit aufsitzen. Das war ihm lieb, wenn sein Korb gefüllt war und er ihn von dem rechten auf den linken Arm, von der linken Achsel auf die rechte wechseln mußte. Oft genug brachte er ihn halbvoll wieder heim; mit todmüdem Körper und dem Vorsatz, irgend etwas andres zu ergreifen, sank Martin dann ins Bett.

Er feierte dann wohl auch einen Tag oder zwei und überlegte, was er beginnen könne, aber es fiel ihm nichts Mögliches ein, das seinen Neigungen entsprochen hätte. Er grübelte oft darüber nach, was wohl sein eigentlicher Beruf sein möge. Denn der Kantor hatte einmal gesagt: »Jeder Mensch ist für einen Beruf besonders geeignet. Du auch. Du mußt dir nur Mühe geben, herauszufinden, welcher es ist.« Er fand es nicht heraus.

Am Waldrande, hoch oben auf den Dünen, eine halbe Stunde von Römmelshagen entfernt, stand ein Gasthaus dicht an der Straße, von dem man einen freien Ausblick auf das Meer genoß. Wenn Martin in den weiter entlegenen Dörfern etwas Geld eingenommen hatte, dann kehrte er hier auf dem Rückwege ein. Er setzte sich ans Fenster, trank und sah hinaus nach Westen, wo die Sonne in die See tauchte. Er beobachtete die Schiffe, die langsam auf dem Meer entlangglitten, und blickte nach den Vögeln, die vom Süden kamen und in Pfeilordnung und breiten Schwärmen über das Meer strebten. Er beneidete sie, weil sie frei, beweglich und unabhängig von all den kleinen menschlichen Dingen waren. Er folgte ihnen im Geiste nach dem Lande der Mitternachtssonne – und trank mechanisch ein Glas nach dem anderen aus, bis es auch hier Nacht wurde und er sich nach Hause trollen mußte. In seiner Kammer angekommen, setzte er sich an den Tisch und schrieb Verse nieder. Aber am folgenden Morgen kamen sie ihm vor wie ein verwirrtes Gestammel, dessen Sinn er nur mit Mühe enträtseln konnte. Dann zerriß er das Papier und ließ die Fetzen aus dem Fenster fliegen. –

Eines Abends bei Dunkelwerden kam er heiter mit leerem Korbe nach Hause. Ein feiner, lauer Frühlingsregen ging nieder. Martin hatte die Mütze in den Korb gelegt und ließ sich den Kopf beregnen. Das nasse Haar hing ihm in die Stirn und klebte im Genick. An den Wangen rannen die Tropfen nieder. Behaglich vor sich hinlächelnd, war er durch die Heckenpforte getreten und wollte ins Haus, als ihn jemand leise anrief.

Er stellte den Korb nieder und ging zur Hecke des Nachbargrundstückes. Dort, in der Lücke versteckt, einen Leinensack als Regenschutz über Kopf und Schultern geschlagen, stand Marie. »Du, Klein-Miezing?«

»Pst, nicht so laut. Mudding ist in der Küche. Sie denkt, ich bin in der Stube und stricke … O Gott, Martin, wie geht es dir denn?«

»Ganz gut. Heut' bin ich alles losgeworden.«

»Hast du auch Mittag gekriegt?«

»Jj – nein, warte mal … heute nicht. Aber ich hatte Speck und Brot bei mir.«

»O Gott, Martin, ich denk', du verhungerst rein!«

Er lachte: »Da sorg dich man nicht.«

»Ja, du siehst ganz spack aus … und was ist denn mit deinem Gesicht. Hast du geweint?«

»Ich hab' mich beregnen lassen. Das ist fein, du.«

»Du bist 'n ganz narrischen Menschen, Martin. Jawohl, das bist du. Und verschlampen tust du immer mehr und hältst gar nicht auf Ordnung.«

»Ich leb' ja nur für mich allein, Marie. Kein Mensch kümmert sich um mich. Was soll ich mich um die andern kümmern.«

»Um dich selbst sollst du dich kümmern. Und es ist auch nicht wahr, daß sich kein andrer … nein, wirklich, Martin, wenn Mudding man nicht so wäre …«

»Ja, reden kannst du ja –«

»Martin.« – »Na?«

»Ich bin heut' oben in deiner Kammer gewesen und hab' mir alle Sprüche abgeschrieben. Bist du mir böse?«

»N-ein. Wenn sie dir gefallen.«

»Die Verse schon. Aber sonst – o Gott, Martin, wie sah es dort aus! Du hast ja wohl nicht ausgefegt, seit dein Mudding tot ist. Und ein Staub – o Gott nein! Und das Bett – das unterste war zuoberst gekehrt. Auf dem Deckbett schläfst du wohl und deckst dich mit dem Unterbett zu. Hast du es nie gemacht?«

»N-ein. Ich schlafe auch so. Miezing.«

»Es war auch kein Wasser oben. Wäschst du dich nicht.«

»Doch. Am Brunnen.«

»Mit Seife?«

»Sonntags – sonntags mach' ich das für die ganze Woche ab.«

»Martin, du wirst noch 'nen richtigen Vagabunden!« Sie betrachtete ihn kritisch von oben bis unten. »Deine Hose hat Franzen wie unsre Tischdecke. Und wieviel Knöpfe fehlen an deiner Jacke?« Sie betrachtete diese aufmerksam. »O Gott, Martin, kein einziger ist dran …! Wenn du morgen weggehst, laß sie zu Haus, ja?«

»Soll ich in Hemdsärmeln gehn, Marie?«

»Hast du bloß eine Jacke?«

»Und den schwarzen Sonntagsrock.«

Marie sah sich scheu um und flüsterte: »Leg sie nachher dort unter den Strauch, ja?«

»Willst du für mich flicken, Marie?« Entschieden: »Nein, das leid' ich nicht.«

»Ich mag dich nicht so sehen, Martin.« Und als er mit seiner Zustimmung zögerte: »Ich will es nicht umsonst tun.« Pause. »Martin!« – »Na.«

»Hast du schon wieder neue Verse gemacht?«

»Jj – nein – das heißt, ich hab' sie weggeschmissen.«

»Warum?«

»Es war nichts.«

»Das denkst du bloß … Martin, ich mach' deine Jacke, und du sollst mir dafür ein Gedicht machen. Aber eins, das nur für mich ist. Für keinen andern Menschen! Willst du?«

»Ich will dir Räucherfische geben.«

»Nein. Die mag ich nicht. Ich will einen Vers.«

Er überlegte und sagte zögernd: »Du erwartest dann etwas Wunderhübsches … und schließlich – ja – gefällt es dir nicht.«

»Doch. Es gefällt mir ganz gewiß!«

»Aber ich weiß nicht, wann.«

»Warte nur, bis dir etwas recht Schönes in den Sinn kommt.« Sie horchte nach dem Haus. »Mudding geht in die Stube. Vergiß die Jacke nicht, Martin!« –

Als er in seine Kammer trat und die Lampe anzündete, meinte er zuerst, in einem fremden Raum zu sein. Sie erschien ihm freundlicher und heller. Und so wohnlich wie zu Lebzeiten seiner Mutter. Hier hatte Klein-Miezing gewirkt. Er wollte es ihr nie vergessen. Und als er in das hochaufgeschüttelte Bett gesunken war und die Federn sich warm um seinen müden Körper schmiegten, sagte er noch einmal ganz laut: »Nie!«

Martin verspürte ihre heimlich ordnende Hand noch öfter. Aber vierzehn Tage später schien Marie ihn vergessen zu haben, denn er fand seine Kammer abends stets in demselben Zustand vor, wie er sie verlassen. Er schlich öfters zur Hecke in der Hoffnung, seine Freundin zu treffen; aber er sah sie nie. Einmal erblickte er drüben im Halbdunkel des Abends eine weibliche Gestalt, und er stürzte flink zur Hecke.

»Klein-Miezing! Klein-Miezing!«

Die Gestalt kam näher! »Naa!?«

»Oll-Marieken!!«

Er trat erschrocken zurück.

»Ja!« Sie lachte höhnisch. »Dat bün ick. Wullt du wat von mien Dochter?«

»Ich – ich – ich wollte bloß mal fragen, wie es ihr geht.«

»Dat kann 'k di ok seggen: gaud geiht ehr dat. Sei is tau Besäuk bi mien Brauder in Lübeck. Bit sei wedder kummt, mußt du dien Kamer all allein maken. Und nachher ok, gläuw ick.«

»Sie haben sie fortgeschickt?«

»Dat hew ick, mien Jung'! – Gu'n Abend ok!« Sie nickte ihm spöttisch zu und ließ ihn mit verblüfftem Gesicht an der Hecke stehen. – Martin ging ins Wirtshaus und hielt sich von nun an Getreidekümmel im Hause.

Die Frühlingsstürme brausten über Römmelshagen dahin, und das Meer rauschte tagelang, nächtelang an die Dünen. Es unterspülte die hohen, tonigen Ufer, und Stück für Stück brach herunter. An einer Stelle hatte das Wasser eine tiefe Höhle gegraben. Martin entdeckte sie, schleppte ein paar alte Säcke hinein und saß stundenlang dort; er blickte aufs Meer hinaus, das Welle auf Welle mit weißen Schaumköpfen zu ihm heransandte, trank Schnaps und träumte.

Er lief wie vorher mit seinem Henkelkorbe am Arm durch die Dörfer und bot seine Fische an. Aber er bekam ein hageres, von wilden Bartstoppeln verdunkeltes Gesicht, und sein Rücken neigte sich immer mehr nach vorn. In seine Augen kam ein trüber Glanz, und die Leute sagten: »Hei ward wie sien Vadder.«

Der Kantor wußte es längst und sann auf Hilfe.

Er horchte hier herum und da, sprach mit einigen tonangebenden Leuten in der Gemeinde – und eines Tages eilte er voll freudiger Aufregung zum Auhlhause.

Martin war nicht daheim.

Pagel entsann sich der Höhle, die nach dem Gerede der Römmelshagener Martins Lieblingsaufenthalt wäre. Er ging zum Strande hinab und auf ihm entlang bis dorthin, wo das hohe Ufer sich steil in das Wasser hinabsenkte. Er mußte über Steingeröll klettern und riß sich an dornigen Büschen die Hände blutig, ehe er unter die vorspringende Ufernase gelangte, die die Höhle überdeckte.

Martin lag im Halbschlummer auf den Säcken. Ein Geräusch ließ ihn sich aufrichten.

Der kleine weißhaarige Kantor stand keuchend und schwitzend am Eingange.

»Martin! Junge, Junge, was machst du hier!«

»Sie, Kantor? Was wollen Sie hier?«

Pagels Blick fiel auf eine halbgefüllte Flasche. Er hob sie auf und schleuderte sie ins Wasser. »Zunächst das.«

Martin sah ihn zornig, mit dunkelrotem Gesicht an.

»Und … und«, seine Stimme zitterte, »was wollen Sie sonst noch? Mir 'ne Moralpredigt halten, wie?«

»Nein.« Der Kantor setzte sich auf einen großen Stein. »Trotzdem du sie verdient hättest. Wenn ich dich jetzt manchmal durch die Straßen schlumpen sehe – so schmutzig, verkommen und manchmal angetrunken –, dann bedaure ich, nicht mehr dein Schulmeister zu sein.«

»Sie hätten ja Ihren Stock mitbringen können.« Es klang wie eine Drohung.

Der Alte sah ihn mit seinen klaren Augen ruhig an. »Ich weiß, daß du mir an Körperkraft über bist, Martin. Ich könnte dir sagen, daß du trotzdem nur ein elender Schwächling bist. Aber deshalb kam ich nicht. Wir sind beide darin einig, daß dir der richtige Beruf fehlt. Du hast immer eine gute Hand geschrieben. Nun, der Gemeindevorsteher will eine Hilfskraft haben. Ich schlug dich vor. Man hat sich dagegen gewehrt. Ich habe mich für dich verbürgt. Kurz und gut: wenn du willst, kannst du Gemeindeschreiber werden. Sechzig Mark monatlich.«

Martin lachte: »Das ist für einen Jungen!«

Der Kantor sah ihn scharf an: »Ja. Es ist wenig für einen Erwachsenen. Aber du bist noch nicht erwachsen. Geistig wenigstens nicht. Arbeite dich ein, lege erst mal den Grund zu einer geordneten Tätigkeit, und dann wirst du an mir einen Fürsprecher haben.«

Martin atmete schwer und sah lange grübelnd aufs Meer hinaus.

Der Kantor wartete ruhig.

»Ich bin furchtbar häßlich zu Ihnen gewesen, Herr Kantor.«

»Das bist du.«

»Dabei sind Sie der einzige Mensch im Ort, der sich um mich kümmert.«

»Du nimmst die Stelle, nicht wahr?«

»So wie ich aussehe?«

»Daran habe ich schon gedacht. Komm heute nachmittag zu mir. Wir wollen meinen Kleidervorrat durchstöbern.«

»Sie sind ja viel kleiner als ich.«

»Das schon. Aber im Kreuz bis du magerer geworden, und meine Hosen sind stets zu lang. Es soll auch nur der erste Notbehelf sein!«

»… Verzeihen Sie mir, Herr Kantor.«

Einige Wochen später saß Martin im Gemeindebüro am Pult, dem Vorsteher gegenüber. Die erste Begrüßung zwischen den beiden Männern war nicht sehr herzlich gewesen, denn im Grunde hatte die Gemeindeväterschaft sich nur deshalb für Martin entschieden, weil sie befürchtete, er werde sonst bald der Armenkasse zur Last fallen. Aber mit jedem Tage erhellten die Mienen des Vorstehers sich mehr, und bald schlug er einen kameradschaftlichen Ton an; denn es zeigte sich, daß der junge Mann die ihm aufgetragenen Arbeiten spielend erledigte, so daß es dem Vater des Dorfes möglich wurde, seine Frühschoppen ausgiebiger und mit bedeutend größerer Gemütsruhe als bisher zu sich zu nehmen.

Weniger behaglich fühlte Martin sich. Er rutschte nun während sieben Stunden des Tages auf seinem Stuhl umher. Des Kantors Beinkleider saßen ihm wie ein Trikot und reichten nur bis zur halben Höhe des Unterschenkels, weshalb Martin sie in den Stiefelschäften trug. Der Rock preßte ihm wie eine Zwangsjacke die Schultern zusammen. Sein Hals hatte in den letzten Monaten eine schlankere Fassung gewonnen, aber die abgelegten »Vatermörder« des Kantors schnürten ihm doch die Kehle zu. Er suchte sie immer wieder mit den Tintenfingern zu lockern, und das bekam den weißen Kragen nicht gut: sie büßten ihre Unschuldsfarbe ein.

Wenn er am Nachmittag von seinem Dienst nach Hause kam, warf er schleunigst die »Uniform« ab und schlüpfte in die alten Kleider, die nach Rauch und Fischen dufteten. Dann arbeitete er noch ein wenig im Garten oder saß studierend in seiner Kammer und gestand sich, daß es die angenehmste Seite seiner Stellung sei, zeitig Feierabend zu haben.

Klein-Miezing hatte auch von seiner Berufsveränderung erfahren, denn sie schrieb ihm folgenden Brief:

 

Lieber Martin!

Oh, wie freue ich mich, daß Du nun ganz unter die Schreiber gegangen bist. Nein, mit der Räucherei, das war auch wirklich nichts für Dich. Daß Mudding mich weggeschickt hat, weißt Du wohl. Aber ich denke doch an Dich! Fege Dir nur ja mitunter die Stube aus; Staub ist so ungesund. Bald komme ich zurück. Wenn erst unsere Badegäste dort sind, braucht mich Mudding ja. Und dann sehen wir uns wieder. Weißt Du auch, warum ich schreibe? Du hast mir ein Gedicht versprochen – damals, Du weißt doch, für die Jacke. Wann kriege ich es? Schicke es hierher, aber bald!

Mit herzlichen Grüßen

Marie Schluhse.

 

Martin saß auf seinem Stuhl im Büro, allein, und las den Brief immer wieder. Freudige Empfindungen wallten in ihm auf, weil sie an ihn dachte. Und das »doch« war sogar zweimal unterstrichen. Ja, er wollte ihr zum Dank ein paar frohe, hoffnungsvolle Verse senden. Leise, ganz leise, wie eine Glocke aus der Ferne, sollte ein Versprechen hineinklingen.

Aber durfte man etwas versprechen, wenn man nicht wußte, ob es jemals zu halten sei? Ach, seine Aussichten waren mehr als schlecht. Denn was konnte so ein Dorfschreiber werden? Es gab jetzt schon genug Leute im Orte, die der Meinung waren, daß er für nichts und wieder nichts aus ihren Töpfen mitesse. Mochte der Kantor sich später auch wieder um ihn bemühen, mochte der Vorsteher ihn auch loben im allerbesten Fall schraubten sie sein Gehalt ein paar Mark hinauf. Und Oll-Marieken war nicht die Frau, die ihre Tochter einem Hungerleider überließ.

Je tiefer sich Martins Geist in die Zukunft bohrte, desto hoffnungsloser erschien sie ihm. Grau, sonnenlos, ohne Weg und Licht. Im Grunde war alles beim alten, nur daß die Hosen nicht an den Knöcheln, sondern zuerst an einer anderen Stelle rissen.

Draußen ging ein warmer Mairegen nieder, und in den Blechrinnen gluckste und sang es. Martin kaute am Federhalter und horchte. Monoton, in ununterbrochener Regelmäßigkeit, sangen die Tropfen in die Rinne, sammelten sich und schossen in dünnem Strahl heraus in das daruntergestellte Waschfaß. So entfielen die Sekunden seines Lebens in die große schwarze Tonne, die man Vergangenheit nennt.

Ach, Klein-Miezing, was willst du von mir? Was kannst du von so einem armen Stuhlquetscher erwarten? …

Twischen di und mi
steiht eine hoge Heck,
und de bringt wi nie
vun ehren olen Fleck.
Ward de Heck och gräun,
mag de Heck ok bläuhn –
du steihst dor – und ick stah hier.

Lach mi nich so an
mit dien jung' Gesicht,
denn dien Mudding, Kind,
süh, de lied't dat nicht.
Kummst du doch tau mi,
riet de Durnen di –
bliew du dor – und ick bliew hier …

In Römmelshagen blühten die Linden. Ihr Duft mischte sich mit den Wohlgerüchen, die aus den Blumengärten emporschwebten, und mit den Parfüms der Stadtdamen, die an die See gekommen waren, um in Salzluft und Salzwasser neue Jugend zu gewinnen.

In alle Häuser strömten die fremden Gäste. Oll-Marieken stopfte ihre ganze Wohnung voll und zog mit Klein-Miezing, die nun zurückgekommen war, in eine Gerümpelkammer auf dem Boden.

Bei Martin hatte sich ebenfalls ein Sommergast eingefunden: eine ernste, blasse Dame, die sich, noch im Reisemantel, sofort an das alte Klavier setzte und ein paar Akkorde anschlug.

Dann sagte sie: »Ich bleibe. Und besorge mir alles selbst. Sie haben keinerlei Umstände mit mir, Herr Auhl.«

Er murmelte etwas und ließ sie allein.

Sie blieb allein, hielt keinerlei Bekanntschaft, lag an den ersten Tagen meist im Liegestuhl, den sie sich im Garten aufgestellt, und ließ sich von der Sonne rösten. Wenn Martin grüßend vorbeiging, nickte sie freundlich.

Klein-Miezing beobachtete es mit traurigem Gesicht. Sie selbst konnte ihm nicht mehr freundlich zunicken, seitdem sie seine Verse erhalten, die er ihr ohne ein weiteres Wort zugeschickt hatte, so daß sie wie ein Abschiedsbrief wirkten.

Aber sie mußte hinüberblicken, wann und wo es ihr möglich war, mußte ihn sehen und auch das Fräulein, das so träumerisch und müde in irgendeine unbekannte Ferne schaute. –

Es war ein Sonntagnachmittag. Das fremde Fräulein saß bei offenen Fenstern am Klavier und spielte.

Martin befand sich in seinem Stübchen. Klein-Miezing beobachtete ihn von ihrer Dachkammer aus und sah, wie er in einem Buche las, wie er aufmerksam auf das Spiel wurde, das Buch fortlegte, sich in seinem Stuhl zurücklehnte und andächtig den Tönen lauschte.

Es waren fremde Melodien, die bisher wohl nie in Römmelshagen erklungen waren.

Martin hatte sich erhoben und ging unruhig in der Kammer auf und ab. Einmal neigte er sich weit hinaus aus dem Fenster, und Marie sah, daß sein Gesicht von Erregung gespannt schien. Er strich immer wieder das Haar aus der Stirn, warf den Kopf zurück und wanderte. Dann blieb er jählings stehen.

Das Spiel ging über in die Melodie des Goetheschen Liedes: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn …«

Nun sang sie gar. Ein weicher, voller Sopran.

Was mochte in Martin vorgehen? Marie sah, wie seine Augen größer und größer zu werden schienen, wie sein ganzes Antlitz flammte und sein Aussehen sich völlig veränderte. Mit einem jähen Ruck wandte er sich ab vom Fenster, verschwand im Hintergrund der Kammer und kehrte mit der Geige zurück, die jahrelang in Staub und Dunkel gelegen hatte.

Und nun geigte er. Ein Haarschopf fiel ihm in die Stirn, seine Wangen glühten, und Marie meinte zu sehen, daß ihm die Lippen wie im Fieber bebten.

Getragen und sanft und doch wie glühende Wellen wogten die Töne zu ihr hinüber.

Sie trafen wie brennende Pfeile Klein-Miezings Herz. Sie mußte sich vornüber auf ihr Bett werfen und laut schluchzen …

 

Wie wunderbar schön war diese Welt. Selbst vom Römmelshagener Gemeindeamt aus angesehen. Wenn Martin Auhl jetzt daran dachte, wie öde, nüchtern und hoffnungslos ihm früher das Dasein erschienen war, so verstand er sich nicht mehr. Und was hätte er nun gar an Römmelshagen aussetzen sollen? Römmelshagen war der Mittelpunkt der Welt, und es gab ganz gewiß kein schöneres Stück Erde. Denn es war von einem Ende bis zum andern mit Musik erfüllt. Mit köstlich tröstender, berauschender Musik, die vom Morgen bis Abend und vom Abend bis Morgen klang, bald lauter, bald leiser, aber unaufhörlich. Sie kam aus den Bäumen und Hecken, aus den strohgedeckten Fischerhütten und blumigen Gärten; sie dröhnte bei nächtlichem Nordost wie Orgelklang von der rauschenden See herüber und hing sich als ein langes, harmonisches Echo an den gellenden Pfiff einer Eisenbahnlokomotive. Sie lief wesenlos durch die Luft, hüpfte die Straße entlang und sang aus den heiteren Augen junger Mädchen wie aus den verwitterten, lächelnden Mienen alter bärtiger Fischer. Ja, selbst die bierheisere Stimme des Gemeindevaters erging sich in lieblichen Sinfonien, und wenn die eiligen Federn auf den Römmelshagener Amtsbriefbogen kratzten wie ungeduldige Katzenpfoten an der Tür es war Musik, Musik, Musik …

Mit erhobenem Haupt, mit frischen, lachenden Augen ging Martin morgens aus dem Haus, schritt elastisch die Straße entlang, landete fröhlich im Büro, tat wie im Rausch und rein mechanisch seine Arbeit und wanderte am Nachmittag mit heiter summenden Lippen wieder heim.

Denn nun konzertierten sie Abend für Abend miteinander, Grete Helius und er. Und sprachen von Musik und musikalischen Dingen. Das heißt: Grete sprach, und Martin hörte zu. Sie wußte so viel zu sagen.

Er verstand nicht alles. Denn sie öffnete ihm eine fremde Welt: die Welt der Künstler und Künstlerinnen, die um Brot und Ruhm kämpfen, die Welt der großen Begeisterung und kleinen Einkünfte, das Reich des Schönen und Schmerzhaften, des vereinzelten Aufstiegs und des massenhaften vergeblichen Ringens – sie führte ihn in das hohe, berauschende, weltvergessende Glück des Künstlertums und in sein niedriges, hungerndes Elend. – Nie hatte er so das Paradies und die Hölle des Daseins nebeneinander gesehen.

Sie sprach nicht von sich. Aber er fühlte: So konnte nur jemand sprechen, der es am eigenen Leibe, an eigener Seele erfahren. Wie tief mußte sie an Menschen und Dingen gelitten haben. Und er begriff ihre Blässe und Müdigkeit in den ersten Tagen.

Nun freilich bräunten sich Gesicht, Hals und Hände unter der Sonne. Ein leises Rot legte sich wie ein Hauch auf ihre Wangen, und aus jedem Bad in der See kehrte sie frischer, elastischer zurück. Der träumerische Ausdruck ihrer Augen wich einem hellen, lebhaften Glanz, und frei und leicht ward jede Bewegung, jedes Wort.

Mitunter hörte er ihrer Stimme zu wie einer fernen Musik. Schwieg sie, so schrak er wie aus einem Traum empor.

»Sie passen nicht auf, Herr Auhl.«

»Doch.« Er wurde rot.

»Ehrlich!«

»Ich weiß nicht – zugehört habe ich – ja, ganz gewiß – aber mehr wie einem Konzert …«

Sie lachte und erhob sich: »Marschieren wir heute wieder?«

»Gern, wenn Sie wollen.«

Sie gingen am Meer entlang, besuchten die Dörfer der Umgegend in stundenweitem Umkreise und kamen auch einmal in die Höhle, aus der der Kantor ihn herausgeholt hatte.

»Ein wunderschöner Platz«, sagte Grete Helius.

»Ja, da hab' ich viel gelegen.« Er stieß mit dem Fuß die alten, vermorschten Säcke heraus.

»Sie? Das müssen Sie mir erzählen.«

Er weigerte sich, aber auf ihr wiederholtes Verlangen stotterte er es doch hinaus; sein Reden kam allmählich in ungebrochenen Fluß, und so erfuhr sie alles, was er von sich berichten konnte.

Wie eine Beichte war's – und auch ein Bericht von Glück und Schmerzen.

Seit dieser Stunde blickte sie ihn oft prüfend und aufmerksam an …

Die köstlichsten Stunden des Tages kamen am Abend, wenn das Meer nächtliche Frische aushauchte und der letzte Schimmer des Sonnenlichtes langsam verdämmerte.

Grete Helius saß am Klavier. Martin stand mit der Geige im Arm daneben. So musizierten sie. Es war ihm nicht immer leicht, in den Geist der fremden Stücke einzudringen, aber sie erklärte ihm ruhig und sachlich alle Schwierigkeiten und tat es immer wieder, bis beide zu leidlich harmonischem Spiel zusammenklangen.

Ein Eifer, wie er ihn nie und in keiner Sache gekannt, durchpulste ihn und ließ ihn alles andre vergessen. Was innerlich schwer auf ihm gelastet hatte, was tief und unbewußt in ihm verschlossen gewesen, rang sich nun an das Licht und gab ihm das leichtbeschwingte Gefühl innerer Freiheit und Fröhlichkeit – die glückliche Stimmung eines Menschen, der dunklen Empfindungen einen Weg gebahnt und die verständnisvolle Mitwirkung eines Freundes gefunden hat.

War der Abend vorüber und Martin wieder in seiner Kammer, so marschierte er noch lange wie ein Bär hinter dem Gitter auf und ab, alles noch einmal durchlebend, was ihm der Tag gebracht.

Er wälzte sich im Bett umher und kämpfte gegen die klingenden, brausenden, rauschenden Töne, die den Raum erfüllten, bis sie in immer weitere Ferne zu rücken schienen und ihn in Traum und Schlummer geleiteten.

So verging Woche um Woche. Martin Auhl hörte, fühlte und dachte nichts anderes mehr als Musik. Sie klang als Ton in seinen Ohren, sie stand verkörpert vor seinem inneren und äußeren Auge – als Grete Helius. Wie ein heimliches Lied wuchs in ihm ein Gedanke auf, den er sich kaum gestehen mochte, den auszusprechen er nicht den Mut fand. Nur in seinen begeistertsten Stunden wagte er innerlich daran zu rühren. Oft schreckte er bange zurück. Musik – Musik …

 

»Die schönen Tage von Römmelshagen sind nun bald vorüber.« Grete Helius ließ die Finger auf den Tasten ruhen und sah vor sich hin.

Martin erschrak. Sie bemerkte es nicht und wandte sich zu ihm: »Spätestens in acht Tagen muß ich reisen.«

Er blickte sie bestürzt an. Dann sagte er leise: »Können Sie nicht noch ein wenig länger bleiben?«

»Nein. Ich habe bald mein erstes Konzert, und einige Zeit brauche ich zur Vorbereitung.« Sie stand auf und reckte die Arme: »Ich fühle mich ja so kräftig und arbeitsfroh wie nie! Sonne, See und Ziegenmilch – Sie haben wohl gar nicht bemerkt, wie ich hinter den Töpfen her war? – Ach, Sie sind ein so guter Mensch, Herr Auhl … ja«, sie wurde ernst, »auch das hat zu meiner Erholung beigetragen. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar.«

Er stand verlegen vor ihr: »Ich … ich möchte Sie wohl gern einmal in einem Konzert hören.«

»Waren Sie nie in Berlin?«

»Nein. Aber vielleicht …« Er dachte nach.

»Vielleicht kommen Sie einmal? Oh, das wäre prächtig! Ich würde mich herzlich freuen und verspreche Ihnen schon jetzt einen guten Platz.«

Er sah zu Boden, wurde glutrot und stieß leise, atemlos heraus: »Gibt es … in Berlin – Leute, die einen prüfen würden?«

Sie trat erstaunt einen Schritt zurück: »Sie möchten Künstler werden?«

Er sah ihr lange in die Augen.

Sie ging zum Fenster, blickte eine Weile hinaus und kam zurück: »Tun Sie das nicht, Herr Auhl.«

»Sie – Sie meinen, es wird nichts?«

»Wollen Sie eine ganz offene Antwort?«

Er nickte.

»Nun: Ich glaube – wissen kann man in diesen Dingen nichts –, daß Sie schweren, sehr schweren Enttäuschungen entgegengingen. Sie müßten fast von vorn anfangen; dazu sind Sie schon etwas alt. Sie würden jahrelang ohne nennenswerte Einnahmen leben müssen und hohe Unterrichtshonorare zahlen. Können Sie das?«

Er verneinte stumm.

»Nur wenn Sie eine Energie besitzen, die sich durch nichts, aber auch nichts niederdrücken läßt, dann … Aber haben Sie die?«

Er atmete tief auf: »… Ich bleibe also Dorfschreiber.«

Sie versuchte zu scherzen: »Und werden mal Bürgermeister von Römmelshagen.«

»… Gute Nacht, Fräulein.«

»Gute Nacht, Herr Auhl. Vielleicht ist das Leben eines Dorfschreibers wirklich angenehmer als das eines armen Künstlers.«

Er antwortete nicht.

In der folgenden Nacht suchte Grete Helius vergeblich den Schlaf; sie mußte auf die unermüdlich wandernden Schritte hören, die durch die Zimmerdecke klangen.

 

Der letzte Tag war gekommen.

»Ich will Abschied vom Meer nehmen«, sagte Grete.

Er nickte stumm und nahm seinen Hut.

Es war ein heißer Tag; die Menschen lagen wie tote Seehunde im weißen Ufersande.

Das Wasser blitzte, ein unendlicher Spiegel. Die kleinen, zitternden Wellen, die ein kaum spürbarer Hauch zum Strande trieb, funkelten glitzernd auf und rollten mit silbernem Glänzen in den Sand. Boote trieben auf dem Wasser, Segel schimmerten, und schwarzer Dampferrauch zog hoch hinauf in die fleckenlose Bläue des Himmels.

»Wie schön ist alles!«

»Ja.« Er sagte es ohne innere Anteilnahme.

»Warum freuen Sie sich nicht? Woran denken Sie?«

»Ob Sie noch einmal hierherkommen werden?«

»Kaum. Ich liebe es, in jedem Jahre eine andre Gegend aufzusuchen.«

»Darf … darf ich Ihnen mal schreiben?«

»Gewiß … Das heißt, vielleicht ist es besser, Sie tun es nicht.«

»Warum?« Er sah sie nun ganz wach und gespannt an.

Es ging etwas wie Unsicherheit über ihr Gesicht. »Dort ist ja Ihre berühmte Höhle. Ich denke, da wird Kühle sein.«

Sie kletterten hinein. Grete setzte sich auf den großen Stein, auf dem einst der Kantor gesessen. Martin lehnte sich ihr gegenüber an die Wand. »Warum?« fragte er noch einmal.

Sie sah nachdenklich an ihm vorbei, wandte ihm dann voll ihr Gesicht zu und sagte ruhig: »Weil ich Sie gern habe.«

Er errötete und stotterte bestürzt: »Aber – das das – ist doch kein Grund …«

»Doch. Für mich ja.« Ihre Stirn zog sich kraus. »Wir wollen nicht mehr davon sprechen.« Heftig: »Es ist so dumm …«

Er starrte sie verständnislos an. »Was ist …?«

»Es ist unklug, sich selbst Störungen und Hindernisse zu schaffen. Neue, aussichtslose Kämpfe.«

»Aussichtslose …«

»Ich bin zehn Jahre älter als Sie, Herr Auhl. Ich weiß, wie das Leben mit unsereinem umspringen kann … Nein, nein, nur nicht wieder vom Wege abkommen.«

»Sie denken nur an sich.«

»In erster Linie ja. Aber auch an Sie. Ich will Sie nicht aus Ihren ruhigen Verhältnissen herausreißen, um es Sie später bedauern zu sehen.«

»Ich würde es nie bedauern, solange ich in Ihrer Nähe wäre.«

»Lieber Herr Auhl. Das Leben ist so fürchterlich brutal und schon mit viel, viel Stärkeren als Sie fertig geworden.« Sie erzwang ein Lächeln: »Was Sie bis jetzt gehört haben, war Piano und Geige. Aber wenn das Schicksal den Brummbaß streicht und auf uns Pauke schlägt, dann sieht sich alles mit andern Augen an … In einigen Wochen wird Ihnen unsre Begegnung eine schöne Episode sein, nichts weiter.«

»Ich habe Sie sehr lieb, Fräulein Helius.«

»Es scheint so – leider, leider – Aber vielleicht hat Sie auch nur die Musik betört? – Hoffen wir's!« Sie erhob sich schnell und reichte ihm die Hand. »Lassen Sie uns als gute Freunde, die gern aneinander denken, scheiden. Es war ein herrlicher Sommer, und ich werde ihn nie vergessen. Nie!«

Sie verließen die Höhle und wandten sich nach dem Dorfe zurück. Die Abenddämmerung stieg aus dem Wasser und legte sich, ein feiner, durchsichtiger Nebel, vor die Sonne, die als dunkelrote Scheibe dicht über dem Meer in den Wolken stak und einen goldhellen Streifen über die See zu den beiden Wandernden warf.

Martin schien kleiner geworden zu sein, gebückter, sein Schritt schwerfällig wie einst.

Am Horizont, quer durch den Goldstreifen, glitt langsam ein Viermaster. Er hatte des flauen Windes wegen alle Segel gesetzt und war nun über und über mit weißem Tuch bedeckt. Nur ein Stück Rumpf und die Mastspitzen sahen daraus hervor.

»Wo mag dat Schip hengahn …«, sang Grete leise.

Martin sah erstaunt auf.

Sie lächelte. »Ja, ich habe die Strophe gefunden; sie lag in Ihrem Geigenkasten. Sind die Verse von Ihnen?«

»Ja.« Er fügte eine geringschätzige Geste hinzu.

»Mir gefällt es gut …« Sie sah in die Sonne. »Vielleicht, weil ich auch nicht weiß, wohin mein Schiff geht … Doch wer weiß das?«

Und während sie weiterschritten, summte sie wieder, aber es schien, als suche sie erst die Melodie.

Als Martin aufmerksam wurde, begegneten sich ihre Blicke. Zwei Sekunden sahen sie sich an. Dann verstummte sie. Und nun schien es, als ob auch sie an Elastizität verlöre und etwas Schweres unabwälzbar auf ihr laste. Sie sah hinüber nach dem weißen Viermaster, der langsam im Nebel verschwand, holte tief Atem und richtete sich gewaltsam auf wie jemand, der seine ganze Willensenergie gegen eine innere Schwäche aufbietet. – Sie kamen schweigend im Auhlhause an.

Martin fütterte sein Vieh und melkte die Ziege; die hilfreichen Nachbarinnen ließen sich ja in seinem Hause nicht mehr blicken. Er brachte die schäumende Milch in einer weißen Karaffe ins Fremdenzimmer.

Grete dankte ihm durch einen langen, freundlichen Blick.

Er kehrte sich an der Tür noch einmal um: »Musizieren wir?«

Sie saß am offenen Fenster, den Kopf in die Hand gestützt: »Ich habe etwas Kopfschmerzen.«

»Nein, dann lassen wir's natürlich.«

»Vielleicht – wenn mir besser wird – rufe ich Sie, ja?«

Sie schien ihm so völlig verändert, daß er unwillkürlich einen Augenblick stehenblieb, um sie forschend zu betrachten.

»Nein …« Sie winkte.

Er ging in seine Kammer hinauf und setzte sich auch an das Fenster, um ihr so nahe als möglich zu sein. Er konnte nichts andres denken als: ›Morgen bist du wieder allein. Ganz allein. Und du wirst sie nie wiedersehen, nie.‹

Der Abend breitete seine Schatten im Zimmer aus; kühl wehte der Duft von den Gartenbeeten herein. Der Nebel kam vom Wasser, schien im Garten stillzustehen und sich zu sammeln. Er ballte sich immer mehr zusammen und mischte sich mit der Dunkelheit. Drüben, am Giebel des Nachbarhauses wurde ein Fenster hell. Ein Schatten zeichnete sich ab. ›Klein-Miezing‹, dachte Martin – wie an etwas unendlich weit Entferntes. Das Fenster erlosch, von Nebel und Nacht verschluckt. So erlosch alles, was einmal hell gewesen war. Lichte Freude, singende Tage, zärtliche Augen …

Martin stand auf. Er wollte hinuntergehen und der Freundin irgend etwas Gutes und Liebes sagen. War sie nicht auch allein wie er? Litt sie nicht auch? Oder täuschte er sich? Er ließ den Türgriff los und stand zweifelnd in der Kammer. Plötzlich horchte er.

Unten wurden die Tasten angeschlagen. Weich und leise zuerst, wie prüfend. Aber allmählich tönte es lauter und lauter, rauschte empor zu stürmischen Akkorden und sank nach und nach wieder herab zu leisem Geflüster.

Martin stand wie gebannt bei diesem Vorspiel; sein Herz zitterte, und seine Hände bebten.

Nun sang Grete zum Spiel. Klar und voll tönte es aus dem Fenster da unten, schwebte in Dunkel und Nebel hinein, stieg auf und flüchtete in Martins Ohr:

»Wo mag dat Schip hengahn?
Wiet in de Welt.
In Sturm und Ozean,
da is sien Feld.
Ick stah hier op'n Lann'.
Wo is mien Stüermann?
Wo mag mien lütte Kahn,
oh, Mudding, segg,
oh, Mudding, segg,
wohen mag hei,
wohen mag hei woll gahn? …«

Als das Lied geendet, ward es unten still, ganz still.

Martin riß die Tür auf und stürmte hinunter. Das Fremdenzimmer war verschlossen. Er warf sich mit seiner ganzen Schwere auf die Klinke und riß mit beiden Fäusten daran. Sie brach ab und fiel klingend zu Boden. Er stürzte gegen die Tür.

»Fräulein Helius – Grete …« Ganz atemlos.

Sie antwortete nicht. Er hämmerte mit den Fäusten an die Tür. »Grete – Grete –«

Ein Schluchzen, das von drinnen kam, ließ ihm die Arme sinken.

»Nein, Martin … Dies soll mein Abschied von dir sein. Geh, geh!«

Und nun weinte sie so laut, daß er wie irrsinnig im Flur hin und her lief und endlich aus dem Hause stürmte.

Er rannte in den Dünenwald, stieß gegen die Bäume und hörte ein wirres Durcheinander um sich brausen. Nur eins tönte immer wieder heraus, der grollende, zornvolle, rauschende Akkord: »In Sturm und Ozean …« Er fiel über Baumwurzeln und riß sich die Hände blutig, er jagte die Dünen hinab zum Strande und geriet in das seichte Wasser. Er taumelte zurück in den Sand, warf sich zu Boden und meinte, nun müsse die See sich turmhoch erheben, über ihn fortstürmen und das Land verschlingen …

Aber das Meer rann mit halblautem, singendem Plätschern an den Strand. In taktmäßigem Auf und Ab, in unbekümmertem, gleichgültigem Atmen. Grau und dicht stand der Nebel über dem Wasser und verschluckte das Leuchtfeuer, das drüben auf der felsigen Insel brannte. Dumpfe Schläge klangen in die Nacht: Schüsse aus der Signalkanone, die die wegsuchenden Schiffer warnten.

 

Klaus Langhorn wollte in aller Frühe auf den Flundernfang und kam in Ölhut und Korkweste die Düne herunter. Sehr gemächlich, jeden Schritt sozusagen überlegend. Klaus hatte stets Zeit und verlachte die »Spinnenbeine«, die aus einem Tag glaubten zwei machen zu können und doch nur zwei Schritte für einen machten. Außerdem trug er Wasserstiefel, die den Siebenmeilenstiefeln des Märchens ähnelten – im Format, nicht in der Schnelligkeit.

»Süh«, sagte Klaus, »dor liggt ja woll ein.«

Er scheute einen kleinen Abstecher von seinem geraden Wege nicht, um zu dem Daliegenden zu gelangen, der das Gesicht der Erde zukehrte.

»Dreih di mal üm. Du kriegst Sand in de Näs. Vun de Sort Snufftobak kann ein nicht alltoveel verdrägen.« Er wälzte den Schnarchenden herum. »Jä, wat is dat? Martining? Den Deubel ok, Minsch, wat häst du för Geschäfte hier?«

Martin richtete sich halb auf, mit verstörten Blicken: »Klaus Langhorn?«

»So bün ick döfft, und dat is mien christlichen Namen.«

»Ist sie schon fort?«

»Sie? Wat is dat för 'ne Sie? Dien Badgast? Hm, hm. De Lüd klöhnt allerhand dumm Tüg vun Ju. Und Klein-Miezing hätt' ja woll jetzt ümmer rotweente Oogen. Na, mi geiht dat nix an. Ick mag de Klavierspeelern woll lieden. Uns Deerns sünd ok nich ümmer de besten, wenn's ok mit Holttüffeln op de Welt kamt. Jä, du makst ken klauk Gesicht, mien Jung'.« Er zog eine Flasche aus seinem Futterbeutel. »Da, drink mal 'n lütten.«

Martin nahm ihm den Kornbranntwein aus der Hand, trank, setzte ab, trank wieder und so zum dritten und vierten Male.

»So hew ik dat nich meint«, sagte Klaus. »Nee. Aber drink man ut. Soveel seh ick ja: mit Boddermelk is hier nix to maken.«

»Ist der erste Zug schon fort?«

»De Iserbahn?« Klaus Langhorn zog ein dickes Messinggehäuse aus der Tasche, schüttelte es und studierte das Zifferblatt genau. »De is ja woll fief. Denn ward dat also ungefähr halw söß sien. Dreivettel söß geiht de irste Zug. Jeden Dag op de Minut. Nee, segg mi bloß, Martining, wi makt de Lüt dat? Op de Minut Dag för Dag!« Er schüttelte den Kopf. »Dor kann 'k mi gor nich naug öber wunnern … Wullt du all gahn? Na, denn grüß man dien Klavierspeelersch vun mi und segg ehr, ick harr seggt: De Römmelshagener Tungen wören solten, aber de Römmelshagener Jungen wören säut … Adies ok.«

Klaus Langhorn grinste und stiefelte zu seinem Boot hinunter.

Martin kletterte die Düne hinauf und lehnte sich an einen Baum. Ihm war taumelig, schwach und elend zumute.

Der Pfiff einer Lokomotive schreckte ihn auf. Er begann zu laufen. Dann fiel ihm ein, daß er den Zug ja doch nicht mehr erreichen könne. Nun schlich er dahin. Eine schwache Hoffnung blitzte in ihm auf: Vielleicht wartete sie auf ihn. Wieder beschleunigte er seine Schritte.

Als er in das Dorf kam, hatte er die Empfindung, an einem ganz fremden Ort zu sein. Alles schien ihm verändert: die Häuser, die Bäume und die wenigen Menschen, die ihm in dieser Frühe begegneten und ihm scheu und verwundert nachblickten …

Im Auhlhause herrschte Stille. Die Fenster des Fremdenzimmers standen weit offen; die Tür war nur angelehnt.

Er trat vorsichtig ein und sah sich um. Grete Helius war fort.

Auf dem Tisch lag ein Notenblatt mit der Aufschrift: »Wo mag dat Schip hengahn …« Darunter in kleiner Schrift: »Meinem lieben Martin.«

Er ging ins Schlafzimmer. Es sah aus, als sei es nie bewohnt gewesen. Auch dort hatte sie das Fenster geöffnet. Ein frischer Luftzug strömte durch beide Zimmer. Vorn leuchtete schon die Sonne hinein. Martin suchte nach irgendeinem Gegenstand von der Abgereisten, aber sein Blick fiel nur immer wieder auf das Notenblatt als das einzige, das sie zurückgelassen. Er irrte in Haus und Hof umher, warf dem Vieh mechanisch etwas vor, nahm in der Stube gedankenlos eine Mütze vom Nagel und verließ das Haus.

Er ging zum Bahnhof. Sie konnte sich ja verspätet haben. Nein. Er betrat den Wartesaal und ließ sich zu trinken geben.

Dort saß er vom Morgen bis zum Abend und ging nur hinaus, wenn Züge einliefen. Vergeblich, sie kam mit keinem zurück.

Als der letzte Zug abgefertigt war, wollte der Wirt das Lokal schließen. Martin behauptete, noch trinken zu müssen. Darauf beharrte er eigensinnig. Dann möge er sich etwas mit nach Hause nehmen. Oder er wolle es ihm mit dem Hausdiener hinschicken. Ja. Das ja. Aber nicht zuwenig. Auf eine einladende Handbewegung des Wirts suchte er sich selbst die Flaschen heraus – wahllos, Schnaps, Liköre, Wein. Es wurde ein Henkelkorb voll. Martin folgte dem Hausdiener in unsicheren Kurven, ließ die Flaschen oben in seiner Kammer absetzen, gab einen Taler Trinkgeld und schickte den Boten fort. Er verspürte Hunger und holte sich alles Eßbare von unten herauf. Dann aß er und schlug einer Flasche den Hals an der Tischkante ab. Darauf fiel ihm das Notenblatt ein, das Grete zurückgelassen. Er stieg noch einmal hinunter und brachte es samt der Geige herauf. Er begann zu spielen, aber die Noten tanzten ihm vor den Augen; der Violinbogen fuhr öfter in die leere Luft oder erzeugte nur ein paar schrille, quietschende Töne, die wie Schmerzensschreie in den dunklen Garten hinausklangen. Endlich entfiel der Bogen seinen Händen; er warf die Geige hinterher, sank aufs Bett, begann wütend zu schluchzen und fiel in einen tiefen Schlaf. –

Martin erwachte erst am Abend des folgenden Tages.

Der Kantor trat in seine Kammer: »Man hört sehr merkwürdige Dinge von dir, Martin.«

Er blickte ihn blöde und verschlafen an. Erst allmählich ermunterte er sich unter den vorwurfsvollen Blicken des Alten.

»Du hast zwei Tage deinen Dienst versäumt.«

»Was liegt daran?«

»Was daran liegt? Wenn du morgen nicht hingehst, wirst du entlassen.«

»Mir recht. Ich will nicht mehr arbeiten, Kantor.«

Pagel setzte sich auf den Bettrand und ergriff Martins Hand: »Was fehlt dir, Martining? Bist du krank? Soll ich den Arzt holen?«

»Der hat hier nichts zu tun.«

»Also: Was ist dir passiert? Hängt es mit dem Fräulein zusammen, das hier gewohnt hat?« Martin schwieg.

Der Kantor wartete. Aber es gelang ihm nicht, irgend etwas aus ihm herauszubringen. Endlich stand er unmutig auf: »Na, erhole dich nur erst mal von deinen verrückten Orgien!« Sein Blick streifte die Scherben und Flaschen. Er hob Geige und Bogen auf und legte sie in den Kasten. »Und wenn du wieder vernünftig bist, komm einmal zu mir. Wir wollen dann über deinen Kummer sprechen. Bei Tageslicht besehen, machen die schlimmsten Dinge sich weniger schlimm.«

Er ging. Vor der Haustür angekommen, fiel ihm die Unruhe im Stall auf. Die Ziege meckerte kläglich und unaufhörlich, und das Schwein stieß mit wildem Grunzen die hungrige Schnauze an den leeren Futtertrog.

»Ja, natürlich, euch hat er vergessen.«

Der Kantor überlegte einen Augenblick und ging dann hinüber zum Nachbargrundstück, aber die Heckenlücke war mit Pfählen und Querstangen verrammelt.

»Ach so.« Pagel schüttelte ärgerlich den Kopf und sah vorwurfsvoll zu Martins Fenster empor. »Mit denen hast du es auch verdorben. Na, es hilft nicht. Versuchen wir's wenigstens.«

Er turnte über das Hindernis hinweg.

Oll-Marieken saß mit ihrer Tochter in der Vorderstube, beide mit einer Handarbeit.

»Ich komme mit einer Bitte, Frau Schluhse.«

»Na?« Sie hatte eine Brille auf der Nase und guckte nun forschend darüber hinweg.

»Martin Auhl ist krank.« Er beobachtete Marie und sah, wie sie erschreckt aufblickte.

»Dat geiht mi nix an!« sagte Oll-Marieken.

»Mudding …« Bittend kam's vom andern Fenster her.

»Du wees man still! Du hast mit Martin Auhl gor nix tau dauhn.«

»Das Vieh schreit nach Futter«, bemerkte der Kantor.

»Mien Veih is dat nich.«

»Mudding! Wir können doch nicht das Vieh verhungern lassen!« – Oll-Marieken brummte vor sich hin und strickte, so daß die Stricknadeln klapperten.

»Bravo, Klein-Miezing!« Der Kantor zog sie an der Hand zu sich heran und sah ihr in die Augen. »Erbarme dich seines Viehes.« Er streichelte ihr die Wangen und das Haar und sagte leise: »Du lachst ja nicht mehr, Miezing.«

Er sah, wie ihr die Tränen aufstiegen, und drehte sie schnell mit dem Gesicht zur Tür: »Geh, Klein-Miezing. Mudding erlaubt's.«

Oll-Marieken stand gleich auf den Füßen: »Ick gah mit. Dat Vieh – mientwegen, Kanter. Aber för den swerenotschen Minschen rög ick nich eene Hand.«

Martin blieb im Bett, aß wenig und trank viel und kümmerte sich um nichts, was außerhalb seiner Kammer vorging.

Zuweilen sang und spielte er. Aufgerichtet im Bett sitzend, übte er Gretes Komposition. Am Tage oder auch mitten in der Nacht.

Der Kantor kam noch einmal. Auch Klaus Langhorn fand sich ein. Aber sie richteten beide nicht das geringste aus. Klaus empfahl sich mit den Worten: »Na, wat ein will, dat will ein. Und worüm sall hei't nich willen? Wenn diene Buddels leddig sünd und dien Schinken und diene Wust beide End' verluren hewt, steihst all allein op. Adies, mien gaude Jung.«

Im Dorfe wurde erzählt, Martin habe den Verstand verloren. Den Gemeindevorsteher betrübte es sehr; denn nun kriegte er eine Hilfskraft, die selbst noch sehr der Hilfe bedurfte und ihn zur Abkürzung seiner Frühschoppen zwang. Marie war zuerst am meisten erschrocken. Aber wenn sie nachts erwachte und die klaren, innigen Geigentöne herüberwehten, meinte sie, so könne unmöglich ein Verrückter spielen. Sie lag mit offenen Augen und atemlos im Bett, erfüllt von dem Gefühl, daß es ihre Empfindungen seien, die dort in Musik ausgesprochen wurden. Wie weit war sie Martin in den letzten Monaten entrückt! Sie vermied ihn auf allen Wegen. Nun war's ihr, als sei sie ihm wieder nähergekommen. Als erhebe sich eine Brücke zwischen ihnen, eine Brücke aus Tönen, die in lichten, luftigen, klingenden Bogen hinüberführte über Hecke und Garten.

Wenn sie sich am Morgen erhob, erhoben sich mit und in ihr immer wieder bange, sorgende Gedanken, die unablässig um den einen Punkt kreisten: Wie sie ihm wohl helfen könne. Am liebsten wäre sie einfach zu ihm gegangen. Aber Oll-Marieken war auch nicht auf den Kopf gefallen und behielt jeden ihrer Schritte im Auge. So vergingen zwei Wochen. Klein-Miezings innere Not war aufs höchste gestiegen. Schon sah sie im Geiste Martin einsam sterben.

Ein Sonntag kam, und Frau Schluhse ordnete einen gemeinsamen Kirchgang an. Als sie aus der Pforte schritten, blieb Marie mit ihrem Kleide an einem Nagel hängen und riß es von oben bis unten auf.

»Ungeschickte Deern!« Oll-Marieken vergaß, daß sie ein Gesangbuch in der Hand hielt, und ließ eine Schimpfkanonade los, die Klein-Miezing geduldig ertrug. »Treck di 'n anner Kleid an und kumm mi nah. Aber gau.« Oll-Marieken wackelte davon.

Marie lief in ihre Kammer, ganz heiß und rot ob der gelungenen List. Sie kleidete sich um, suchte im Hintergrund des Gartens eine dünne Stelle in der Hecke und bahnte sich mit dem Beil einen Weg …

Martin lag mit offenen Augen im Bett, gelb und hager das von schwarzen Bartstoppeln überwucherte Gesicht. Ein Haarschopf hing ihm wild in die Stirn, und sein Blick ging suchend und unruhig im Zimmer umher. Er hatte die Treppe knarren hören.

Klein-Miezing erschrak so sehr vor seinem wüsten Aussehen, daß sie einen Augenblick gebannt an der Tür stehenblieb.

»Was willst du, Klein-Miezing?«

Sie hielt mit Mühe die Tränen zurück und flüsterte: »Wie geht es dir, Martin. Bist du bald wieder gesund?«

»Ich bin nicht krank, Marie.«

»Du ruinierst dich mit dem Trinken.«

»Was liegt daran. Tut das einem weh?«

Sie schluckte in sich hinein – »Dem Kantor gewiß.«

»Pah. Der wird sich trösten.«

»Und mir … Ja, Martin, du weißt es: mir auch!«

»Dir?« Seine Augen weiteten sich. »Dir?«

»Und denke daran, was sie sagen würde.«

»Meinst du Grete Helius?« Er sagte es ganz ruhig. »Pah, die hat es ja so gewollt.«

»Nein, ganz gewiß nicht.«

»Kennst du sie so genau?«

»Nein. Aber sie hat dich sicherlich liebgehabt.«

»Pah. Wenn du einen liebhast, läufst du ihm weg?« Marie wurde rot.

Er dachte einen Augenblick nach und sagte: »Wie kommst du überhaupt darauf? Hast du jemals mit ihr gesprochen?«

»Nein. Aber ich sah sie fortgehen – den Morgen, als …«

Er unterbrach sie eilig: »Als sie abreiste? Was tat sie?«

»Sie stand lange an der Pforte und sah die Straße hinauf und hinab. Und als du nicht kamst, guckte sie dein Haus und deinen Garten wohl ein paar Minuten immerzu an, als wenn sie es nie vergessen wollte.«

Martin blickte zur Decke auf: »Vielleicht war es wegen der Ziegenmilch.«

»Schäm dich, Martin!«

»Nein, warum? Sie hatte ihre Arbeit lieber als mich, soviel steht fest … Und das ist es auch nicht allein, Marie. Aber sie meinte, ich solle nur Dorfschreiber bleiben. Und überhaupt: erst hat sie mich aufgeweckt aus meiner Schlafmützigkeit, und dann geht sie und sagt: ›So, nun schlafe wieder!‹ Kann einer das?«

»Sie hat die Musik in dir aufgeweckt? Ja, das habe ich gesehen – damals – an dem ersten Sonntag! – Oh, was spielst du jetzt schön, Martin!«

»Gefällt dir das Lied?«

»Es ist herrlich.«

»Das hat sie komponiert … Und du glaubst, daß ich es gut spiele?«

»Wunderschön. Kein Mensch kann es besser spielen.«

»Was nützt es mir? Zum Künstler tauge ich nicht, sagt sie. Und es mag wohl wahr sein … Also, siehst du, was soll ich noch? Ich bin ein überflüssiger Mensch.«

Marie überlegte eine Weile und sagte dann: »Von der Kunst verstehe ich nichts. Aber so viel weiß ich, daß es dir in Römmelshagen und in der ganzen Umgegend nicht ein einziger gleichtut.«

Er lachte höhnisch: »Ach, du willst, ich soll Dorfmusikant werden?«

»Auf den Namen kommt es nicht an. Hast du nicht selbst oft gesagt, es sei zum Ausreißen, was sie uns hier in die Ohren tuten und fiedeln? – Ist es eine Schande, wenn du es besser machst? – Vielleicht könntest du mit der Zeit eine kleine Kapelle zusammenbringen … Arbeit gäbe es genug.«

»Daran habe ich wirklich noch nicht gedacht, Marie.« Er sah sinnend nach oben.

»Ja, und denke doch mal, Martin!« Sie erregte sich immer mehr an ihrem Einfall. »Wenn du dann im Sommer hier Badekonzerte geben könntest!«

In Martins Augen leuchtete es auf. »Es müßte sich wunderbar anhören, wenn wir dann am Strande spielen: ›Wo mag dat Schip hengahn.‹«

»Die Leute klatschen sich die Hände kaputt, Martin!« Ihr ganzes Gesicht glühte, und sie sah ihn erwartungsvoll an.

Auch in sein Gesicht war ein rosiger Hauch gedrungen. Er grübelte eine Weile. Dann schien es, als erlösche das neue Feuer in ihm. »Es wird nichts, Marie.«

»Warum nicht?«

»Es ist so viel dabei zu bedenken. Zum Beispiel: Wo kriege ich gute Gehilfen und Schüler her?«

»Du mußt sie suchen.«

»Nein, nein … Es gelingt mir nicht!«

»Rühre dich nur, Martin!«

Und wie um ihm ein Beispiel zu geben, begann sie in der Kammer aufzuräumen. Es zwang sie etwas, die Arme zu regen. Und fast hatte sie Lust, zu singen und zu jauchzen.

»Was tust du, Marie?«

»Ich trage die Flaschen hinaus. Der Wein kommt in den Keller und der Schnaps auf den Dung.«

»Nein, laß das hier, hörst du! – Marie!« Es klang zornig.

Sie achtete nicht auf ihn und lief mit einer Schürze voll Flaschen die Treppe hinunter. Als sie wieder heraufkam, hielt sie etwas verborgen auf dem Rücken und trat vor ihn hin, ruhig in seine zornigen Augen sehend.

Ihm zitterten die Lippen: »Ich lasse mich nicht mehr als Jung' behandeln! Bring die Flaschen wieder herauf!«

»Nein, das tu' ich nicht, Martin! Ich darf es nicht.«

»So?« Er lachte höhnisch. »Wer verbietet es dir denn? Der Kantor?«

»Die das hier für dich hinterlassen hat.« Marie heftete an die Wand seinem Gesicht gegenüber den »Haussegen«:

Willst du Gesundheit, Glück und Freuden,
mußt du die vollen Flaschen meiden.
Dies Haus sie brachten auf den Hund.
Trink Buttermilch! Die ist gesund.

»Willst du noch, Martin, daß ich die Flaschen heraufhole?«

Er kehrte sein Gesicht zur Wand …

Bis zum Mittag des folgenden Tages blieb Martin im Bett, den Kopf voll heißer Gedanken. Zweifel und Pläne kreuzten sich wild in seinem Hirn; wenn der Kleinmut die Zuversicht überwunden hatte, gab es eine kleine Pause. Aber dann sah er sich wieder auf dem Podium, den Taktstock schwingend, die Pläne erholten sich, rangen mit den Zweifeln und warfen sie nieder. Und so tobte die Schlacht hin und her, den ganzen Sonntag und die folgende Nacht hindurch, doch am Montagvormittag erhielten die Zweifel den Gnadenstoß.

Martin sprang aus dem Bett …

Als er am frühen Nachmittag auf die Straße trat, um den Kantor zu besuchen, meinte er, aus einem langen und schweren Traum erwacht zu sein. Die Melodien, die einst aus ganz Römmelshagen auf ihn eingeströmt waren, seinen Fuß beschleunigt und seine Augen leuchten gemacht hatten, waren verklungen, trotzdem die Bäume noch grünten, die Gärten noch dufteten und Wind und See weniger schwiegen als ehemals. Die Menschen sahen ihn erstaunt an – wie damals und doch anders. Er hörte hinter seinem Rücken sagen: »Nanu, is Martin Auhl wedder tau Verstand kamen?«

War er zu Verstand gekommen? Er fragte es sich selbst.

Der Kantor erhob sich mit der langen, qualmenden Pfeife aus seiner Mittagsruhe und meinte ebenfalls: »Na, mein Jünging, hat die Vernunft gesiegt?«

»Meine nicht, Herr Kantor.«

»Wessen denn?«

»Klein-Miezings.«

»Ja, das hätte ich mir natürlich denken können.«

Und als Martin ihre Anregung vorgebracht hatte, bohrte Pagel ihm das Mundstück der Pfeife auf die Brust: »Da hast du es nun, du dreimal gedoppelter Schafskopf. Und so ein prachtvolles, gescheites Mädel verscherzt du dir!«

»Sie meinen also …«

»Recht hat sie, natürlich! Du warst schon als Junge mein bester Geigenspieler. Nur, so leicht wie Miezing es sich denkt, wird es nicht gehen. Aber wenn du mit Lust und Liebe darangehst …«

»Nur den Anfang, Herr Pagel, den Anfang. Wie fangen wir's an?«

»Wir? Natürlich wir. Ich gehöre mit zu deiner Kapelle und schlage die Trommel. Die Reklametrommel natürlich. Aber der Teufel soll dich holen, wenn du es wieder so machst wie als Dorfschreiber.«

»Ganz gewiß nicht.«

»Schön. Ich ernenne mich also zu deinem Impresario und schanze dir sämtliche Kindtaufen, Hochzeiten, Beerdi …, nein, die nicht. Noch nicht. Wenn du eine Kapelle hast, dann ja. Dann sollst du auch die Musikleichen haben. Oh, du wirst dich famos machen vor dem schwarzen Wagen. Du bist der geborene Leichenwagen-Kapellmeister. Dein ganzes Gesicht ist darauf zugeschnitten, deine ganze Verfassung. Dir fehlt nur ein neuer Zylinderhut. Vielleicht finde ich noch einen alten, den man aufbügeln kann.«

»Sie haben ja einen viel größeren Kopf als ich.« Martin lachte.

»Dir ist nichts recht zu machen. Meine Jacken sind dir zu klein, meine Hüte zu groß. – Übrigens wirst du dir dann selbst eine Behauptung kaufen können.«

So schwatzte der Alte in glücklicher Aufregung, und sie sprachen alles von Anfang bis Ende dreimal durch.

Die Ersparnisse des Kantors, sein stets bereiter Rat und seine unermüdliche Empfehlung des neuen Unternehmens halfen über die ersten Schwierigkeiten hinweg. Als der Winter zu Ende ging, hatte sich schon ein Quartett zusammengefunden, das auf Teilung spielte und in Römmelshagen und Umgebung viel begehrt wurde.

Der folgende Sommer brachte einen kleinen Rückgang der Geschäfte. Martin überließ sie ganz seinen Kollegen und trat für einige Monate in die Kapelle einer größeren Provinzialstadt ein. Im Winter kam er zurück und brachte zwei Mann mit. Mit zwei Lehrlingen war es nun ein Doppelquartett, das die winterlichen Festlichkeiten verschönte und an einigen freien Sonntagen Konzerte veranstaltete. Mit nachfolgendem »Tanzkränzchen«; denn sonst wären die Römmelshagener nicht gekommen.

Klein-Miezing kam auch jetzt nicht, obgleich er gerade sie erwartete, sie, die ihm neue Hoffnung gegeben, ihm den Weg gewiesen und also ein Recht auf freudige Teilnahme an seinen Erfolgen hatte. Wenn er den Taktstock führte oder als Erster Geiger auf dem Podium stand, erschien sie zuweilen vor seinem geistigen Auge und blickte ihn, wie er meinte, vorwurfsvoll an. Dann sprach seine Musik zu ihr, und es war ihm, als müsse die Harmonie der Töne über Zeit und Raum zu ihr dringen und den lebendigen Kontakt der Seelen schaffen. Vielleicht war dieser Kontakt schon da und wurde nur gehemmt von einer kalten, disharmonischen Kraft.

Ja, Oll-Marieken schien unversöhnlich. Die Lücke in der Hecke, die Klein-Miezing an jenem Sonntagmorgen mit dem Beil geschaffen, wurde wieder geschlossen. Frau Schluhse rammte eigenhändig Pfähle ein und zog Stacheldraht. Klaus Langhorn kam vorbei, schmökte seine Pfeife und sah zu. Dann sagte er in seiner bedächtigen Weise: »Jä – ick weet nich, Oll-Marieken. Wat ne richtige Leiw is, de geiht dörch den dicksten Tun (Zaun).«

»Hew ick di fragt?«

»Ne, fragt häst mi nich. Aber ick hew antwort' Du deist mi leed, dat du di so veel Arbeid umsünst makst.«

»Teuw man aw!«

»Ja, ick müch blot geern mal wedder Hochtied fiern.« Klaus grinste und ging, verfolgt von höhnischem Lachen.

Fremdheit und Kälte wohnten in ihrem eigenen Haus. Klein-Miezing lehnte sich auf. Mit feindseligen Worten zuweilen oder mit trotzigem Schweigen. Frau Schluhse aber überwachte ihre Schritte und schreckte auch vor Handgreiflichkeiten nicht zurück. Dennoch gab es Augenblicke, wo ihre Allgegenwart versagte und die jungen Leute über Hecke und Stacheldraht hinweg einige Worte wechseln konnten.

»Warum kommst du nie in ein Konzert, Klein-Miezing?«

»Ich darf nicht, Martin.«

»Bist du mir böse?«

»Warum sollte ich dir böse sein?«

»Weil ich dir nicht helfe.«

»Wie wolltest du mir helfen?«

»Ich … ja, ich glaube, ich müßte dich entführen.«

Über ihr ernstes Gesicht ging ein Lächeln. »Wohin willst du mich entführen, Martin?«

»Nach – nach Amerika zum Beispiel.«

Da lachte Klein-Miezing hellauf.

Dieses Lachen hörte Frau Schluhse. Sie schoß wie ein Habicht, der auf eine Taube stößt, hinter dem Hause hervor, packte ihre Tochter am Arm und transportierte sie mit unbeugsamer Energie und keineswegs sanftmütigen Worten ins Haus, nachdem ein »versopener Fiedelfritze« und »hungriger Lungenpuster« über die Hecke geflogen waren.

Martin schüttelte es leicht ab. Seine Träume wurden nicht mehr in der Flasche geboren, und zu hungern brauchte er auch nicht

Kantor Pagel stand hinter ihm. Nicht nur bildlich, sondern oft buchstäblich, namentlich bei den Proben der Kapelle. Er riß dem Dirigenten zuweilen den Taktstock aus der Hand, das weiße Haar flog, und die Arme bewegten sich wie wild gewordene Mühlenflügel. »Temperament, Martin, Temperament!« Oder er griff zur Geige und führte den Bogen mit energischen Strichen.

Martin lernte. Und er lernte vor allem das eine, daß man nie aufhören dürfe, zu lernen.

Im zweiten Sommer, als das Doppelquartett einen Winter und einen Frühling der gemeinsamen Arbeit hinter sich hatte, wurde es als »Badekapelle des Seebades Römmelshagen« engagiert. »Dirigent: Herr Kapellmeister Martin Auhl.« Prospekte und Inserate verkündeten es. Von den schweren Kämpfen innerhalb des Gemeinderates, der nur eben zur Hälfte musikfreudig war, verkündeten sie nichts. Gutsbesitzer Brinkmann hatte außerdem daran Anstoß genommen, daß der Kapellmeister früher Flundern verkauft habe. Er sagte, daß an diesen Platz eine gesellschaftsfähige Persönlichkeit gehöre. Kantor Pagel erwiderte ihm, dies sei schief gesehen. Es gehöre ein guter Musiker dahin. Und er fragte die Fischer, ob sie, die sie täglich mit schuppenbeklebten Händen am Strande hantierten, ob sie einen ihresgleichen auf dem Podium als Schande empfänden. Worauf Klaus Langhorn hochdeutsch sprach und sagte: »Mich wunnert bloß, daß Herr Brinkmann noch Fische essen tut.« Der Gutsbesitzer meinte, er sei mißverstanden worden. »Ja«, replizierte Klaus Langhorn trocken, »wir haben das auch als Mist verstanden.«

Am Tage vor dem Eröffnungskonzert hatte Klein-Miezing Geburtstag. Die Morgennebel balgten sich mit den ersten Sonnenstrahlen, als das Mädchen erwachte und sich doch noch wie im Traume befangen vorkam. Unwirklich erschien ihr die zarte, gedämpfte Musik, die sich unter ihrem Fenster erhoben hatte. Erst allmählich begriff sie den Zusammenhang mit dem besonderen Tage. Sie erhob sich und lugte durch die Gardine. Ja, da stand wahrhaftig die ganze Badekapelle von Römmelshagen und blies und fiedelte mit tiefster Andacht. Martin führte den Taktstock und reichte ihr, ohne sich zu unterbrechen, einen Blumenstrauß hinauf. Und in dem Strauß stak ein Brief; jetzt konnte sie ihn nicht lesen. Sie mußte am offenen Fenster stehen und lächeln. Lächeln mit glührotem Gesicht wie die Sonne hinter den Morgennebeln. Mußte in der Rechten den Strauß und mit der Linken das flüchtig übergeworfene Gewand zusammenhalten. Und daneben noch irgendwie das blonde Haar zurückstreichen, das immer wieder über den gebräunten Hals und die heißen Wangen wuselte. Sagen konnte sie nichts, nur stammeln: »Oh, Martin, was tust du!« Und lächeln, glückselig lächeln.

Und während der feierliche »Tag des Herrn« auf den ersten siegreichen Sonnenstrahlen in das Dorf ritt, begleitet von dem Gesang der Drosseln, Finken und andern erwachten Schnäbeln, öffneten sich neugierige Türen und Fenster in den Fischerhütten. Und auch in Oll-Mariekens Haus wurde noch ein Fenster aufgerissen, und eine Stimme rief: »Wöllt ji verdeubelten Lungenpusters maken, dat ji vun mien Grundstück kamt!«

Da verschwand das Lächeln von Klein-Miezings Gesicht, und gleich darauf verschwand sie selbst vom Fenster – und das, was alle angenommen hatten, daß Frau Schluhse mit dem Besenstiel erscheinen würde, das geschah zu aller Erstaunen nicht.

Während sie draußen fiedelten und bliesen, stand Klein-Miezing barfüßig mit offenem Haar vor ihrer Mutter und sagte voll Zorn: »Mudding, heut' bin ich einundzwanzig Jahre alt!«

»Dat weet ick, Kind. Ick bün ja dorbi west.«

»Wenn du heute Martin was antust, lauf ich weg!«

»Wat deist du?«

»Weglopen do ick di!« Miezing sprach nachdrücklich platt.

»Du büß woll narrsch worn.«

»Und jetzt kriegen die Musiker Kaffee und Kuchen von mir.«

»In mien Hus nich!«

»Willst du mich blamieren? Sollen die Leute sagen: De ol Schluhs is 'n Giezknaken?«

Oll-Marieken war mit ihrem grauen Zopf beschäftigt. »Wo wullt du denn henlopen?«

»Nach Amerika. Oder Australien. Oder ich geh' man eben nebenan und frage Martin, ob er nich 'ne Wirtschafterin braucht.«

Frau Schluhse verwirrte ihren Zopf. Sie hielt mit beiden Händen das Haar fest und blickte ihre Tochter mit offenem Munde an.

»So. Und nun decke ich in der Laube.«

Oll-Marieken sah noch eine ganze Weile starr nach der Tür, die ihre Tochter eben hinter sich geschlossen hatte.

Und als die Musiker bei Kaffee und Kuchen in der Laube saßen, schauten auch sie zuweilen nach der Tür, nämlich nach der Haustür. Wenn sie auch nicht gerade annahmen, daß Frau Schluhse an dieser Morgenfeier teilnehmen werde, so erwarteten sie doch einen »gelinden Rausschmiß«, wie der Flötist sagte. Klein-Miezing schien ihres Wagnisses auch nicht ganz sicher zu sein; denn ihre Finger bebten ein wenig, als sie die Tassen niedersetzte. Aber in ihren Bewegungen lag Entschlossenheit und auf ihrer Stirn eine senkrechte Falte, und vielleicht waren es diese Anzeichen, die sie älter und gereifter scheinen ließen als noch vor wenigen Tagen. Martin schaute sie bewundernd an und versuchte es sich vorzustellen, wie sie als junge Hausfrau walten würde. Es war sicher nicht unangenehm, von ihr betreut zu werden und alles mit ihr zu besprechen, was den einen wie den andern anging, ganz abgesehen davon, daß sie einen sehr hübschen Mund besaß, der ihn auch noch auf andre Weise erfreuen konnte. Martin schrak aus seinen stillen Betrachtungen auf. Denn der Baßbläser, ein Ostpreuße, sagte mit seiner heiseren Stimme:

»Na, Fräileinchen, nu kennen Se häiraten wen Se megen.«

»Wen Oll-Marieken mag«, brummte Martin.

»Mit äinundzwanzig Jahr hat die Mutter nuscht mehr zu sagen.« – »Richtig, Klein-Miezing! Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

»Du hast wohl an mehr zu denken, Martin.«

»Ja, weißt du, die Programme und all das andre …«

Und er machte die übrigen Musiker darauf aufmerksam, daß heute noch eine Probe stattfinde und daß sie pünktlich erscheinen möchten.

Vielleicht faßten sie's als einen Wink auf; denn einer nach dem andern erhob sich. Aber ehe sie gingen, bliesen sie noch einen kräftigen Tusch auf das Geburtstagskind.

Martin nahm als letzter seinen Hut in die Hand. »Ich möchte heut' den ganzen Tag hier sitzenbleiben …«

»Bleib«, lachte Klein-Miezing.

»Und dein Mudding?«

»Heut' sagt sie nichts, glaub' ich.«

»Du bist ja auch mündig jetzt.« Und weil ihm sein Gedanke von vorhin einfiel: »Du kannst nun mit deinem Mund machen, was du willst.«

»Wie meinst du das, Martin?«

Er schlenkerte seinen Hut hin und her und lachte verlegen. »Sprich doch, Martin!« Sie lächelte.

»Na, wenn du zum Beispiel Lust hast, mir einen Kuß zu geben, so brauchst du dein Mudding nicht mehr zu fragen.«

»Wolltest du denn einen von mir?« Sie sah vor sich nieder. »Ich bin dir so sehr dankbar für die schöne Musik.« Sie blickte ihn voll und ernst an. »Dafür will ich dir gern …«

»Bloß dafür?« Martin hatte sich hingesetzt und atmete schwer. »Ich habe immer so bei mir gedacht, es müßte nur dann sein, wenn das Herz will.«

»Du Dummer!« Miezing umarmte und küßte ihn. »Mein Herz will ja …!«

An diesem Tage kam der Kapellmeister verspätet zur Vormittagsprobe, was Kantor Pagel nachher unter vier Augen energisch rügte. »Wer andre leiten will, mein Junge, der muß sich vor allem selbst leiten können!« – Martin lachte glückselig: »Ich hab' mich versprochen, Kantor.«

»Was hast du?«

»Klein-Miezing und ich haben uns versprochen.«

Da hob Kantor Pagel beide Arme und sagte aus Herzensgrund: »Gott segne deinen Unverstand! Diesmal hast du aus eigenem etwas fertiggebracht, was ich nicht wiedergutzumachen brauche. Übrigens gehe ich heut' nachmittag hin und gratuliere. Und da werde ich mal mit Oll-Marieken einen vernünftigen Ton reden.«

Das geschah denn auch. Aber der Kantor erreichte nur, daß Oll-Marieken bereit war, das Konzert am nächsten Tage zu besuchen. Sonst wäre nämlich Klein-Miezing allein gegangen. Zwei Eintrittskarten hatte sie in Martins Geburtstagsbrief gefunden.

 

Buntes Leben entwickelte sich im Strandzelt. Die oberen Zehntausend, die Alt- und Neureichen, verirrten sich nur vereinzelt einmal nach Römmelshagen. Hier suchten ihre Erholung die Leute mit den knappen Ferien oder der knappen Börse. Kleine Beamte, Arbeiter, Angestellte und jene Künstler und geistig Wirkenden, die wohl Gedanken, aber keine Schätze sammeln konnten, die die Motten und der Rost fressen. Vielen war das Rauschen der See die schönste Musik. Heute fehlten nur wenige im Zelt, um Martin Auhl und seine Kapelle zu hören. Und auch die Römmelshagener waren zum großen Teil gekommen, obwohl sie in der Regel den Fischfang und das Ackern vorzogen. Mutter Schluhse saß mit ihrer Tochter, mit dem Kantor und Klaus Langhorn an einem Tisch, und zwar ein wenig abseits, in einer dämmerigen Ecke. Sie gönnte Martin nicht den Triumph, sie hier zu sehen. Sie kam sich überhaupt wie jemand vor, der gefesselt an einen Ort geschleppt wird, wo ihn nichts Gutes erwartet. Der Kantor gab Klein-Miezing theoretischen Musikunterricht, indem er ihr das Programm erläuterte. Klaus Langhorn sagte, als der Dirigent auf dem Podium erschien: »Nee, nu kiek doch, Oll-Marieken, wat ut son lütten Dorfschrieber warden kann!« Ja, auch Klein-Miezing erkannte ihn kaum wieder; denn aus Martins Gesicht leuchtete nicht nur festliche Stimmung, sondern er hatte sich auch äußerlich verwandelt. »Der Schneider hat seine Sache gut gemacht«, flüsterte der Kantor, »zuerst sollte es sogar ein Frack werden, aber ich habe ihm abgeraten. Wenn man Römmelshagen ist, soll man nicht Norderney sein wollen.« Und als der erste Teil des Programms unter dem fröhlichen Beifall des Publikums endete, sagte Pagel zu Frau Schluhse: »Freut es Sie nicht auch, daß et noch ein tüchtiger Mensch geworden ist?«

»Wenn dat man so bliewt!«

»Er mußte das Richtige finden. Darauf kommt viel an im Leben, Frau Schluhse. Dir hat er's zu verdanken, Klein-Miezing!«

»Ich weiß nicht, Herr Kantor. Sie haben mehr getan als ich. Und geweckt hat ihn wohl jemand, der nicht hier ist.«

»Ja«, warf Oll-Marieken ein, »nu de Klavierspeelersch nich wedder kummt, büß du gaut naug.«

»Mien Je!« sagte Klaus Langhorn, »wenn ein de Plummen nich kriegen kann, wat sall he nich de Kirschen nehmen.«

»So ist das wohl nicht, Klaus.« Der Kantor schüttelte den weißen Kopf. »Sie hat ihm die Heimat seiner Seele gezeigt. Du verstehst mich, Miezing.«

»Ja, ich versteh' Sie, Herr Pagel. Jetzt freut's mich, daß sie hier war.«

»Du bist ein vernünftiges Mädchen.« Der Kantor drückte ihr die Hand. »Er ist Künstler und braucht eine verständnisvolle Frau.«

»Da kommt er!«

Martin war suchend durch das Zelt gegangen. Nun leuchteten die Augen. Er trat heran und reichte allen die Hand: »Wie hat's Euch gefallen?«

»Es war wunderschön, Martin«, sagte Klein-Miezing.

»Das Adagio hast du zu schwer genommen«, sagte der Kantor.

»Ick bün tofreden mit di, mien Jung'«, sagte Klaus Langhorn.

»Und Sie, Frau Schluhse.«

»Ick segg noch immer nee!«

Martin sah einen Augenblick hilflos von einem zum andern.

Dann atmete er tief, sah nach der Uhr und sagte: »Die Pause ist zu Ende. Wir werden also doch meine Einlage spielen.«

Und diese Einlage ward das Ereignis des Tages, obgleich sie nicht auf dem Programm stand und so ganz wohl nur von einigen Römmelshagenern verstanden wurde. Aber die sorgten schon für die Aufklärung der Gäste.

Als die vorletzte Programmnummer, ein Scherzo von Mendelssohn, erledigt und der stürmische Beifall verklungen war, trat der Cellist an die Rampe: »Wir werden als Einlage spielen: Das Lied von der dornigen Hecke. Text und Komposition von unserm Dirigenten Martin Auhl.«

Klein-Miezing spürte einen kleinen Schreck. Aber in ihre Ahnung hinein spielten und sangen sie schon dort oben:

»Twischen di und mi
steiht eine hoge Heck,
und de bringt wi ni
vun ehren olen Fleck.
Ward de Heck ok gräun,
mag de Heck ok bläuhn,
du steihst dor und ick stah hier.

Lach mi nich so an
mit dien jung Gesicht,
denn dien Mudding, Kind,
süh', de lied't dat nich.
Kummst du doch tau mi,
riet de Durnen di.
Bliew du dor und ick bliew hier.«

Oll-Marieken zog sich wie eine Katze zusammen und drückte sich noch tiefer in die Ecke. Klein-Miezing glühte. Der Kantor lächelte, sanft das weiße Haupt schüttelnd. Und Klaus Langhorn grinste und summte leise mit.

»Büß du drög und old
wie dien Mudding is,
und so hart und kold,
seggst du di gewiß:
Miene grote Leiw
stahl een bösen Deiw,
und dat is mien Mudding,
Mudding west.«

»Nee, dat will ick ja nich. Dat will ick ja nich, Miezing.« Sie erhob sich zitternd. »Ick gah' nah Hus.«

Der Kantor drückte sie sanft auf den Stuhl zurück und flüsterte: »Nur kein Aufsehen, Frau Schluhse … Dieser verdammte Junge!«

Sie spielten schon den Schlußgalopp.

Nach dem letzten Takt konnte nichts mehr Frau Schluhse halten. Der Kantor begleitete sie und zog alle Register der Beredsamkeit, um ihren letzten schwachen Widerstand niederzuringen. Sie hörte schweigend zu und fragte nur einmal: »Ob se dat würklich fertigkriegen dä und lop mi weg?«

»Sie kennen doch das schöne Bibelwort: Das Weib soll Vater und Mutter verlassen …«

Da gab sich Oll-Marieken einen Ruck und sprach: »Wenn du den olen Fiedelfritzen denn absolut hebben wullt, ick will nix mehr dortau seggen. Aber geiht dat scheif, ick wasch' mien Händ'. Hürst du, Miezing?«

Nein, Miezing hörte es nicht. Sie ging mit Martin Auhl am einsamen Strande spazieren und machte von ihrer Mündigkeit Gebrauch.

 

Im Auhlhause ist bald ein fröhliches Leben geworden. Obwohl mit den Kindern auch Sorgen kamen; denn die Gemeinde Römmelshagen konnte ihren Kapellmeister nicht glänzend besolden. Im Winter wurde gar die Musik zum Nebenberuf, den ein eigentlicher Hauptberuf nicht stützte. Aber die Kundschaft aus den benachbarten Orten nahm zu, und auch die »Musikleichen« führte Martin nun zu Grabe. Und es hat gewiß nie eine feierlichere Bestattung in Römmelshagen gegeben als die seines alten Freundes und Schützers, des Kantors Pagel. Der war »Großvater« im Auhlhause gewesen und die tägliche Freude der Erwachsenen und Kinder. Am Tage nach seinem siebenundsiebzigsten Geburtstage blieb er fort. Man fand ihn vor seinem Harmonium, die stillen Hände auf den Tasten, das weiße Gesicht verklärt aufgerichtet. Martin hatte sich mit der Zeit einige Selbstbeherrschung angeeignet. Aber als er den Toten sah, ergriff ihn tiefe Bestürzung. Weil auch der Beste endet. Nie sah er den guten Geist des Freundes so lebhaft und in vollem Licht vor sich als auf dem Wege zum Friedhof, da der umflorte Taktstock sich hob und senkte. Dicke Tropfen fielen aus den Augen. Und Martin kam sich fast so verlassen vor wie damals, als er die Mutter begraben hatte. Hier war wieder eine Hand verwelkt, die ihn um manche Klippe des Alltags herumgeführt hatte. Aber Klein-Miezing lebte ja noch. Klein-Miezing, die gar nicht mehr klein und nicht mehr schüchtern und nicht bange vor irgend etwas ist. Die Entbindungen haben ihren Wangen nicht das gesunde Rot und die Widrigkeiten des Daseins ihrer Seele nicht die frische Farbe der Entschließung genommen. Sie regiert das Haus mit straffem Sinn, gut und fest, wie sie ist. Oll-Marieken hilft auch, soweit sie kann. Sie wurde zwar mit den Jahren etwas schwerhörig, aber die kleinen Auhls haben gesunde Lungen und können sich verständlich machen. Mitunter singt sie sogar mit ihnen. Wenn ihr dann das »Lied von der dornigen Hecke« einfällt, bricht sie ab und gerät ins Nachdenken. Und murmelt mit leichtem Zorn: »Dormit het he mi weikmäudig makt.«

Die Römmelshagener haben sich einen Musikpavillon auf die Düne gesetzt. Drei alte, mächtige Buchen beschatten ihn. Dort schwingt Martin Auhl im Sommer den Taktstock. Oft sieht er weit hinaus zum Horizont. Und wenn ein segelbedeckter Drei- oder Viermaster durch das Feuer der untergehenden Sonne gleitet, sagt er halblaut zu seinen Kollegen: »Wo mag dat Schip hengahn …« Dann greifen sie begeistert zu ihren Instrumenten und spielen Grete Helius' Komposition, die Martin orchestriert hat. Es ist das Glanzstück der Römmelshagener Badekapelle und erntet immer stürmischen Beifall. Martin hört ihn kaum. Seine Augen blicken träumerisch auf die See, die seit ewigen Zeiten Welle um Welle an den Strand schickt und mit den Schiffen spielt wie das Schicksal mit den Menschenleben.


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