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Die Liebe der Schwester Elfriede

Als der große Krieg ausgebrochen war und mancher Handel, manches Gewerbe urplötzlich ins Stocken geriet, sah sich auch Elfriede Hegel, eine Kunststickerin in der kleinen Stadt N., vor die Notwendigkeit gestellt, nach einem andern Beruf Umschau zu halten. Zwar besaß sie einige Ersparnisse, und hin und wieder erhielt sie trotz allem einen Auftrag, aber es war ihr nicht gegeben, auch nur wenige Stunden am Tage müßig hinzubringen, nachdem sie lange Jahre täglich von früh bis spät vor dem Stickrahmen gesessen und nur den Sonntag als ihren regelmäßigen Feiertag angesehen hatte.

So entschloß sie sich nach längerer Überlegung, ihre Dienste dem Roten Kreuz anzubieten. Einige Wochen später wurde sie als Hilfsschwester in ein Verwundetenlazarett berufen, das in einem größeren Saale des Städtchens, der ehemals Vergnügungen gedient hatte, untergebracht war. Die Anpassung an die neue Tätigkeit wurde Elfriede nicht leicht. Wenn auch die geduldige und stets bereite Fürsorge für andre dem gütigen Grundzuge ihres Wesens entsprach und ihr innerliche Befriedigung gewährte, so fiel es ihr doch schwer, im Verkehr mit den Verwundeten den richtigen Ton zu treffen. Den Dreißig bereits nahe, den Männern durch ihre besondere Wesensart bisher ferngeblieben, neigte sie zu jener altjüngferlichen Sprödigkeit, die stets in der Befürchtung lebt, sich etwas zu vergeben. So kam sie über eine gemessene Freundlichkeit, die nur bei besonders schwer Leidenden sich zu mütterlicher Herzlichkeit steigerte, nicht hinaus, und selten wagte einer ihr gegenüber einen derberen Scherz, den sie, wenn es dennoch geschah, mit einem flüchtig verlegenen Lächeln abtat. Vielleicht war dieser allzu ernsthafte Zug ihres stillen, tieferen Wesens schuld daran, daß die Liebe zu einem Manne ihr bisher noch keine unruhige Stunde verursacht hatte. Vielleicht erschien auch ihr Äußeres den Männern nicht lockend genug, um sich mit Ausdauer um sie zu bemühen. Niemand konnte sie häßlich nennen, ihre Gestalt war mittelgroß und ebenmäßig, ihre Züge weich und rein, die Augen braun und sanft, und nur ein verhältnismäßig großer Mund und eine hohe Stirn fielen dem aufmerksamen Betrachter auf. Ein Puppengesicht war es freilich nicht; ihr Blick zeigte sich stets frei von aller Koketterie und war von jener nachdenklichen Art, die auf kecke Gemüter abkühlend wirkt und Unsicherheit erzeugt. Elfriede selber legte sich keine Rechenschaft von diesen Dingen ab, wenn sich auch zuweilen in ihrem Blute das unbestimmte Verlangen nach einem Manne regte und sie vorübergehend traurig machte, weil sie niemand kannte, der wärmere Empfindungen in ihr erweckte oder von dem sie ein tieferes Interesse für sich voraussetzen konnte. Das änderte sich auch in ihrer neuen Tätigkeit nicht; allen ihren Schutzbefohlenen wandte sie die gleiche Fürsorge zu, denn sie alle waren ja mehr oder minder hilflos.

Nun geschah ihr eines Morgens etwas Seltsames. Sie kam vom Nachtdienst nach Hause, stark übermüdet; denn einer der Verwundeten war von einem heftigen Fieber heimgesucht worden, und sie hatte fast ununterbrochen an seinem Bette gesessen, hatte ihm die Stirn gekühlt, ihm die Hände gestreichelt und auf die wilden Phantasien gehört, die, nur halb verständlich, über seine Lippen drängten.

Der Morgen dämmerte eben, als sie zu Hause anlangte, sich schnell entkleidete und zu Bett legte. Trotz ihrer starken Ermüdung konnte sie nicht sofort fest einschlafen, sondern geriet in einen halbwachen Traumzustand. Sie hörte deutlich die ländlichen Milchwagen in die Stadt hereinklappern und den schweren Schritt von Arbeitern, die aus der Vorstadt kamen und sich zu ihrer Arbeitsstätte begaben. Während ihr Bewußtsein diese Geräusche aufnahm, erschienen deutlich vor ihrem Geiste zwei Augen innerhalb der schemenhaften Umrisse eines Gesichts, das sie nicht erkennen konnte. Aus diesen Augen blickte ein lebhaftes Interesse, ja unverhohlene Verehrung und Bewunderung. Die Träumende versuchte sich dem Einfluß dieser Blicke zu entziehen, wie sie es auch im wachen Zustande getan haben würde, aber es gelang ihr nicht, ihnen zu entgehen. Die Augen blieben beharrlich, wenn auch gütig und ohne herausfordernde Aufdringlichkeit, auf sie gerichtet. Eine starke Unruhe bemächtigte sich des Mädchens und steigerte sich, bis es erwachte. Elfriede blickte nach der Uhr und erkannte, daß sie sich erst vor wenigen Minuten niedergelegt hatte, während ihrem Gefühl nach Stunden vergangen zu sein schienen. Auch jetzt, im Wachen, sah sie deutlich jene Augen und die nebelhaften Umrisse des fremden Gesichts vor sich. Ihren ersten Gedanken, daß der Fieberkranke sich ihrem Gedächtnis so stark eingeprägt habe, verwarf sie sofort wieder. Es bestand keine Ähnlichkeit, keine Beziehung zwischen dem geistigen Bilde und der Person, ja, da sie sich nun den Gesichtsausdruck des Kranken vergegenwärtigte, wurde ihr zweifelsfrei klar, daß die Traumerscheinung einen andern Ursprung haben müsse.

Sie dachte darüber nach und entsann sich, sosehr sie auch forschte, keines Mannes, der sie mit solchen Augen angeblickt hätte, und doch wurde sie die Empfindung nicht los, als müsse dies trotz allem nicht nur im Traum, sondern auch in der Wirklichkeit geschehen sein.

Während sie alle Gedanken auf diesen Punkt richtete, übermannte sie ein fester traumloser Schlaf, der bis gegen Mittag währte.

Als sie sich erhob, schienen die seelischen Vorgänge des Morgens zunächst ganz aus ihrem Bewußtsein geschwunden. Doch dauerte dieser Zustand nicht lange. In ihrer sonst ruhigen und zu phantastischen Vorstellungen wenig geneigten Natur erhob sich von neuem das unruhige Empfinden eines dunklen, unerklärlichen Vorganges. Diese Unruhe nahm mit dem Fortschreiten des Tages zu und steigerte sich allmählich zu einem ungeduldigen Erwarten der Stunde, die sie erneut zur Nachtwache ins Lazarett rief. Wie immer, unternahm sie gleich nach ihrer Ankunft einen Rundgang durch den nur spärlich erleuchteten Saal, reichte hier einem Verwundeten zu trinken und legte dort einem andern die Kissen zurecht. Die meisten schliefen, auch der Fieberkranke schien von seinem Anfall genesen zu sein und schlummerte fest. Nur wenige lagen noch mit offenen Augen da und verfolgten die Bewegungen der Schwester mit ihren Blicken.

Sie fragte mit leiser Stimme nach etwaigen Wünschen und betrachtete aufmerksamer als sonst jedes Gesicht, fand aber nirgends eine innere Beziehung oder auch nur äußerliche Ähnlichkeit mit der Erscheinung ihres Traumes.

So verging diese Nacht, ohne daß Elfriede der Lösung des Rätsels nähergekommen wäre. Mehr und mehr neigte sie gedanklich zu der Auffassung, daß ihre aufgestörte Phantasie sich aus eigenem ein Bild erschaffen habe. Aber sobald sie diesen Gedanken zur Gewißheit erheben wollte, widersprach etwas in ihr. Und es geschah auch nicht das, was in der Regel mit Traumgebilden geschieht: daß sie allmählich verblassen und endlich erinnerungslos verschwinden. Sondern das Bild kehrte wieder, in derselben Weise wie an jenem Morgen, und wurde ihr allmählich so vertraut und deutlich auch im wachen Zustande, wie ein Mensch, der dauernd in unserer Nähe lebt.

Ihre Phantasie begann das Bild auszugestalten. Die unklaren Konturen des Gesichts traten schärfer hervor, und der undeutliche Ausdruck der Mienen ward lebendiger und erkennbarer. Als das wesentlichste aber blieben die Augen, aus denen Güte, Verehrung, Bewunderung leuchteten. Hatte Elfriede sich anfänglich noch öfter bemüht, den lebenden Träger dieser Mienen und Augen ausfindig zu machen, so kehrte sich, nachdem all ihr Suchen vergeblich schien, der Blick immer wieder nach innen und baute weiter an der einmal gewonnenen Vorstellung, bis das Traumbild sich zu einem vollständigen Menschen mit Rumpf und Gliedern entwickelt hatte, einem Menschen, dem sie alle Eigenschaften zulegte, die sie von einem Mann erwartete.

Und nun geschah wieder etwas, was dem Mädchen in den Momenten einer kühlen, verstandesmäßigen Überlegung als höchst seltsam und fast wie ein Abirren von dem geraden Wege der Vernunft erschien: Sie empfand Sehnsucht nach jenem Manne. Ihre ganze Liebe und Hingebung drängte nach diesem einen, den sie selber erschaffen, der womöglich nie gelebt hatte und nie leben würde. So sagte sie es sich oft und befand sich doch zu andern Stunden in der Überzeugung, daß er schon einmal ihren Weg gekreuzt und sie lange und voll tiefer Zuneigung angeblickt haben müsse. Dieser Zwiespalt führte sie zu all den Empfindungen, die eine aussichtslose Liebe mit sich bringt: zu unbezähmbarem Verlangen, eingebildeten Glücksräuschen und der tiefen Qual hoffnungsloser Ernüchterung.

Wieder und wieder versuchte sie das nichtige Spiel ihrer Phantasie zu enden und sich zu jener klaren Ruhe, die ihr früher eigen gewesen war, zurückzuzwingen. Es gelang ihr nur auf Stunden.

Wenn aber Sehnsucht und Verlangen übermächtig in ihr die Herrschaft gewannen, dann drängte es sie, allein zu sein, ganz allein mit dem Traumgesicht, um sich ungestört dem Spiele ihrer Einbildungskraft hinzugeben.

In einer solchen Stunde, da dieser blinde Trieb sie völlig erfüllte, zog sie sich infolge einer Unaufmerksamkeit die Rüge des operierenden Chefarztes zu, dem sie Handreichungen leistete. Sie nahm diese Rüge zum Anlaß, ihre Tätigkeit im Lazarett einzustellen, und verabschiedete sich noch am Abend des gleichen Tages von den Kranken. Einige reichten ihr gleichgültig die Hand, andre gaben ihr ein warmes Wort des Dankes, zwei oder drei sprachen ihr Bedauern aus, und einer war da, der hielt lange ihre Hand fest, blickte sie betroffen an und sagte: »Heute Sie und morgen ich.«

Sie achtete nicht darauf, befreite ihre Hand fast gewaltsam und eilte, mit der Pflicht des Abschieds so schnell als möglich zu Ende zu kommen. Das Bewußtsein, nicht ohne eigne Schuld hier eine liebgewordene Wirksamkeit zu verlieren, erhöhte ihre Erregung, die zwar nach außen wenig bemerkbar wurde, aber ihr Denken nach innen ablenkte und einen Schleier vor ihre Augen legte.

Erst als sie sich in ihrem Stübchen befand und das Bett aufgesucht hatte, sänftigte sich jene Erregung, deren Ursache noch einmal in ihrer Erinnerung erschien und ihr den unbehaglichen Gedanken erweckte, daß sie eigentlich töricht und vorschnell gehandelt habe, als sie einer jähen Empfindung folgte.

Während sie so den Ereignissen des Tages nachsann und allmählich in jenen Zustand geriet, der den Übergang vom Wachen zum Schlummer bildet, erschien wieder jenes Bild vor ihrem Geiste, das die eigentliche Ursache ihrer heutigen Zerstreuung gewesen war; gleichzeitig hatte sie die Empfindung, als fasse sie jemand leidenschaftlich bei der Hand, und sie glaubte die Worte zu hören: »Heute Sie und morgen ich!«

Das störte sie auf und machte sie vollends wach, wie unter einer blitzartigen Helle. Erscheinung und Worte hatten sich dermaßen zusammengefügt, daß Blick und Rede von einer Person auszugehen und ihrem Geiste urplötzlich ein Weg aus dem Rätsel, das sie gequält, auf getan erschien.

Eine starke Unruhe kam über das Mädchen. Freude und Zweifel in schnellem Wechsel. Und, am stärksten, die Furcht, daß der schwache Faden zur Lösung und vielleicht zum Glück ihr wieder entgleiten könne, ehe sie sich volle Gewißheit verschafft habe. Denn nun, da die Worte des Verwundeten zu ihrem Bewußtsein gedrungen waren, konnte sie ihnen keine andere Deutung geben, als daß auch er das Lazarett am folgenden Tage verlassen werde. Die Gründe hierfür waren ihr, da eine Entlassung als Geheilter nicht in Frage kam, unbekannt.

Überhaupt wußte sie von dem Kranken nur, daß es ein etwa sechsunddreißigjähriger Landsturmmann namens Bruno Wolter sei, der eine Schußverletzung am linken Schultergelenk davongetragen hatte. Sie entsann sich auch keines auffälligen Wortes oder Blickes, die ihr ein besonderes Interesse an ihrer Persönlichkeit verraten hätten. Doch schien ihr jetzt, als habe ein außergewöhnlich warmer Ton in seinen kargen Äußerungen gelegen und eine mühsam verhaltene, innige Dankbarkeit. Aber das eine wie das andre ließ sich bei vielen, und besonders bei den Schwerverletzten, bemerken und fand seine natürliche Erklärung in der größeren Hilfsbedürftigkeit, die zu einer stärkeren Inanspruchnahme der Schwestern nötigte. Er hatte sich hier stets auf das Unvermeidliche beschränkt und war auch sonst von einer Schweigsamkeit gewesen, die ihm bei seinen Kameraden den bezeichnenden Spitznamen »Der Sparsame« verschaffte. Nun Elfriede darüber nachdachte, meinte sie, daß er vielleicht unter dem Banne schwerer Gedanken stehe, die er nicht abschütteln könne, oder daß dies hohe Maß der Zurückhaltung auch einfach in seiner Natur liege. Und es entstand in ihr eine leichte Verwunderung und fast ein Selbstvorwurf, weil ihr persönliches Interesse einen Menschen, der gleich ihr sein Gemütsleben streng verschlossen hielt, übersehen hatte. Aber wenn sie sich genauer erforschte, so fand sie, daß ihre Unparteilichkeit und sachliche Güte allen Kranken gegenüber nie aus der ruhigen Bahn gewichen, ihr Dienst nie von persönlichen Zuneigungen oder Abneigungen beeinflußt worden war.

Nun aber richtete sich ihr ganzes Denken und Fühlen auf den einen, verglich, grübelte und schuf Visionen, die sie beglückend erregten und dann wieder in atemloser Furcht vor einer enttäuschenden Wirklichkeit erschauern ließen.

In dieser schlaflosen Unruhe verging der größte Teil der Nacht. Und als die Müdigkeit den Körper dennoch überwältigt hatte, spann der Traum die verworrenen Bilder ihrer Phantasie weiter, als unlöschbare Erscheinung immer wieder jene seltsam blickenden Augen und das Antlitz jenes ihr nicht aus dem Sinn kommenden Verwundeten hervorbringend.

Als Elfriede spät am Morgen erwachte, fühlte sie sich von einer starken Abspannung, von leichtem Kopfschmerz ergriffen. In dem grauen, trüben Lichte des Herbsttages erschien ihr das Leben ungemein nüchtern und farblos. Der Nebel, der draußen die Gasse erfüllte und Häuser und Menschen verschleierte, umspann auch ihre unbewußten Hoffnungen.

Vor dem Verstande, der sich kühl und kritisch mit jedem neuen Tage erhob, wollte keine ihrer Gefühlsschöpfungen in einiger Klarheit und Festigkeit bestehen bleiben als eben nur das gewohnte Bild.

Nach längerer Überlegung gelangte Elfriede zu dem Entschluß, daß sie, um allen ferneren Zweifeln und einer immer wiederkehrenden Unruhe zu entgehen, Klarheit und Gewißheit haben müsse und daß diese nur in einer offenen Zwiesprache mit dem lebenden Objekt ihrer Träume zu erlangen sei. Sie empfand es zwar als peinlich, heute schon wieder die Stätte besuchen zu sollen, von der sie gestern in Trotz und Verstimmung geschieden war, doch unterdrückte sie diese Anwandlung und beschäftigte sich, während sie sich ankleidete, damit, einen Vorwand für ihren Besuch zu erdenken. Endlich beschloß sie, nach einem Buche zu fragen, das sie verliehen haben wollte.

Es gelang ihr auch, sich mit dieser Täuschung Eingang zu verschaffen. Aber als sie dann nach dem Kranken fragte, erfuhr sie, daß sie zu spät gekommen sei. Bruno Wolter war bereits am Morgen von einem Sanitätsgehilfen zur Bahn geleitet worden. Er hatte, wie sie erfuhr, das Institut auf seinen eigenen und sehr dringenden Wunsch verlassen, um sich in ein Lazarett seiner weitentfernten Heimat zu begeben. Da Elfriede wußte, daß die Erledigung solcher Anträge längere Zeit in Anspruch nahm, konnte die Vermutung, sein Entschluß hänge womöglich mit ihrem Abgang zusammen, nicht in ihr aufkommen. Er schien im Gegenteil zu bestätigen, daß den Kranken keinerlei persönliches Interesse an diesen Ort gefesselt hatte.

Diese Erkenntnis traf das Mädchen wie eine herbe Enttäuschung. Die Empfindung des völligen Verlassenseins ergriff sie mit solcher Macht, daß sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt. Im Begriff, das Lazarett zu verlassen, begegnete sie der Oberin. Diese bat sie in ihr Zimmer und sagte: »Sie waren gestern zu empfindlich, mein Kind. Der Wille in uns, einer guten Sache zu dienen, muß stärker sein als unser Stolz und unsre Eigenliebe. Es ist sehr schade, daß Sie uns gleich davonliefen, und ich hätte wohl einen Versuch machen können, Sie zu halten. Aber Sie schienen mir in einer solchen Stimmung, daß ich darauf verzichtete. Es muß Sie noch etwas andres belästigt haben.«

Die Oberin blickte fragend.

Elfriede senkte den Kopf und schwieg.

Die andre fuhr fort: »Gleichviel. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß wir alle – auch der Chefarzt – sehr zufrieden mit Ihnen waren und daß wir solche Kräfte sehr ungern missen. Vielleicht kommen Sie doch wieder zu uns. Überlegen Sie es sich. Unsre Verwundeten sähen Sie gewiß auch gern wieder. Dafür kann ich Ihnen, glaube ich, einen Beweis liefern.«

Die Oberin trat lächelnd zu ihrem Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier auf und reichte es Elfriede. »Wieviel Mühe muß die Zeichnung dem armen Wolter gemacht haben! Ich finde, er hat Sie vorzüglich getroffen, trotzdem er kein Maler, sondern – soviel ich weiß – Zeichner in einer Kunstwerkstätte war. Er ist heute nach seiner Heimat abgereist. Wir fanden das Blatt in seiner Schublade. Sie dürfen es behalten.«

In der Furcht, daß ihre Empfindungen verraten worden seien, war Elfriede bei Nennung des Namens tief errötet und hatte den Kopf gesenkt, eine neue Vermahnung erwartend. Als diese ausblieb, nahm sie das Blatt, brachte mühsam ein paar Dankesworte über die Lippen und verabschiedete sich mit kaum verhehlter Hast.

Aus dem dicken Grau, das über dem Städtchen lag, rieselte ein leichter Regen. Er zwang Elfriede, das Blatt unter dem Mantel zu bergen, und hinderte sie, ihrem heiß drängenden Verlangen zu folgen, die Zeichnung sofort eingehend zu betrachten. In eiligster Gangart, von den gegensätzlichsten Empfindungen erregt und ganz in sie versunken, strebte sie ihrer Wohnung zu.

Dort ließ sie sich nicht Zeit, Hut und Mantel abzulegen, sondern breitete das Blatt aus und trat damit ans Fenster. Die Zeichnung zeigte sie im Profil, über das Bett eines Kranken gebeugt, und war offenbar mit außergewöhnlicher Sorgfalt hergestellt worden. Während Bett und Kranker nur mit wenigen Strichen angedeutet waren, hatte der Zeichner dem Mädchen die eingehendste Betrachtung gewidmet und die Wirklichkeit auch im kleinsten Zuge festgehalten. Da war eine Locke am rechten Ohr, eine Tasche in der weißen Schürze und andre Nebensächlichkeiten, die sich das Auge des Zeichners nicht hatte entgehen lassen; sie bewiesen, daß hier nicht eine flüchtige Laune am Werke gewesen. Mit größerer Liebe und Sorgfalt noch mußte aber jenes Auge den Ausdruck ihrer Physiognomie und ihrer Haltung in sich aufgenommen haben; denn was die Zeichnung in diesem Betracht offenbarte, war die verkörperte Hingabe Elfriedens an das Werk der Pflege.

Diese Zeichnung stellte eine Huldigung dar – Elfriede fühlte es. Und während eine tiefe innere Bewegung sie ergriff, sah sie deutlich den Blick des Zeichners auf sich gerichtet – mit jenen Augen, die ihr im Traum erschienen waren. In den Nächten, da sie den Fieberkranken pflegte, mußte er sie aus dem Halbdunkel seines gegenüberliegenden Bettes andauernd betrachtet und das Bild, wie er es hier wiedergegeben, fest in sich aufgenommen haben.

Die Mühe, die er auf die Arbeit verwendet, ahnte sie nur; sie konnte nicht gering gewesen sein, um so weniger, als der Verwundete arg geschwächt und im Gebrauch der Hand behindert gewesen war.

Elfriede stand lange in Hut und Mantel am Fenster und schaute auf das Bild. Ließ den Blick auf die graue Gasse gehen und lenkte ihn wieder zurück auf die Zeichnung. Ein tiefer, brennender Schmerz, wie sie ihn bisher nie gefühlt, stieg in ihr auf und zwang sie zu Tränen. Sie rieselten nieder wie der langsame leise Regen da draußen. All ihre herbe Verschlossenheit schmolz vor der Erkenntnis, gleichgültig an einem Manne vorübergegangen zu sein, der ihr als erster in ernster Zuneigung gehuldigt, sie ihres Wesens wegen verehrt hatte.

Wie war es nur möglich gewesen, daß sie ihn übersah?

Sie fand keine andre Erklärung dafür als seine Zurückhaltung und ihre eigne Vertiefung in die Aufgaben ihres Amtes. Nun freilich schien ihr mancher Blick und der Ton seiner seltenen Worte von besonderer Bedeutung. Oder täuschte sie sich auch darin? Elfriede ließ seufzend das Blatt sinken und dachte: ›Vielleicht ist alles nur Einbildung. Ein Kranker langweilt sich, macht sich eine Aufgabe, strichelt voll Sorgfalt, weil's ihm selber Freude macht, mein Bild hin, tut's in den Nachttisch, läßt es dort liegen und geht davon. Wär's ihm um mich zu tun, er wäre nicht gegangen. Und mußte er schon gehen warum ließ er das Bild hier? Das tut Liebe nicht. Wenn das Verehrte sie unerreichbar dünkt, so verzichtet sie doch nicht freiwillig auf den Schein, das Abbild der geliebten Persönlichkeit.‹

Dann wieder stand vor der Zweifelnden das Traumgesicht, ließ sie ihren Zweifel als Unrecht empfinden und machte ihr Inneres zum Tummelplatz wechselnder Gefühle voll Qual, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit.

Elfriede ließ sich an dem kleinen Tisch am Fenster nieder und dachte: ›Es ist unmöglich, dies auf die Dauer zu ertragen.‹

Sie sah Feder, Tinte und Schreibmappe vor sich, und der Gedanke, zu schreiben, stieg jäh in ihr auf.

Stieg auf, um sofort von ihrer Scheu, sich zu offenbaren, bekämpft zu werden.

Alles das, was ihr eigentliches Wesen ausmachte, wehrte sich dagegen und konnte doch das Gefühl der Notwendigkeit, sich Gewißheit zu verschaffen, nicht verdrängen. Und in einem Augenblick, da diese Notwendigkeit sie ganz beherrschte, öffnete sie entschlossen die Mappe, nahm einen Bogen und schrieb:

 

»Von der Oberin unseres Lazaretts wurde mir heute eine von Ihnen hergestellte Zeichnung übergeben, die mich darstellt. War das Bild für mich bestimmt? Dann spreche ich Ihnen meinen herzlichsten Dank aus. Ich habe mich sehr darüber gefreut und würde mich noch mehr freuen, wenn Sie recht bald von Ihrem Befinden hören ließen. Warum sind Sie eigentlich so schnell abgereist? In der Hoffnung, daß Ihre Gesundung gute Fortschritte macht, grüßt Sie freundlichst

Elfriede Hegel.«

 

Sie trug den Brief sofort zur Post. Als er in den Kasten gefallen war, kam Beruhigung und Erleichterung über sie. In den folgenden Tagen versuchte Elfriede sich ganz ihrer Arbeit hinzugeben. Das erforderte einige Überwindung; ihr Denken wollte sich schwer bei der Tätigkeit halten und zeigte immer wieder die Neigung, auf den Wegen der Phantasie zu wandeln.

Sie unterdrückte die Neigung nach Möglichkeit, gab sich ihr jedoch um so fesselloser hin, wenn die Zeit der Ruhe gekommen war und das Traumgesicht aus dem Dunkel emportauchte, um sie mit jenen seltsam bewundernden Augen anzuschauen.

Es wurde ihr nun so klar und deutlich, daß sie meinte, es mit den Händen berühren zu können, so alles beherrschend, daß ihr die Erinnerung an das wirkliche Aussehen Wolters fast ganz entschwand und es ihr unmöglich wurde, eine klare Vorstellung von ihm festzuhalten.

Im übrigen war Elfriede voll des Wartens, geduldig in den ersten Tagen, von steigender Erregung gepackt in den folgenden. Wie ein Fieber war's, das stieg und sank, sank und stieg, in jeder Stunde der Entscheidung des Schicksals gewärtig. Wenn sie den Briefträger die Straße entlangkommen sah, spürte sie das heftige Pochen ihres Herzens, und Niedergeschlagenheit ergriff sie, wenn er vorübergegangen. Zuweilen, sobald sie bemerkte, daß er ins Haus getreten, stand sie, das Ohr an der Flurtür, die Hand auf die Klinke gelegt, und erwartete sein Kommen. Dann klopfte es wohl unten oder er ging vorbei, und sein Schritt verhallte oben auf der Treppe – und sie ließ die Klinke los und schritt mit gesenktem Kopf zu ihrem Stickrahmen, die widerstrebenden, leise bebenden Hände zur Arbeit zwingend. –

An einem Nachmittage verließ sie das Haus, um eine Stickerei abzuliefern. Sie geriet mit der sachverständigen Auftraggeberin in ein längeres Gespräch, das von ihrer Kunst handelte und ihren Geist von der gewohnten Grübelei ablenkte. Als sie wieder auf die Straße trat, fühlte sie sich wohltätig angeregt und geneigt, für diesen Tag die weitere Arbeit und ihre einsame Stube zu meiden.

In dieser Stunde, da ihr Denken sich in der normalen Kühle des Alltags bewegte und ihr die Wohltat innerer Ruhe zum Bewußtsein brachte, empfand sie Furcht vor der Stätte, die angefüllt war von den Schatten ihrer Phantasie, Schatten, die zu bedrohlichem Leben erwachten, sobald sie die Tür öffnete.

Eine Ahornallee führte aus der Stadt. Das goldrote Laub zog zwei leuchtende Linien in das Grau der mählich niedersinkenden Dämmerung. Hinter den letzten Häusern breiteten sich abgeerntete gelbgraue Felder, und in der Ferne stand ein tief blauer Wald, in dem wohl die Sonne versunken war, denn zuweilen blitzte es funkelnd dort auf, und hoch über ihm schwebten rosige Wolken, die nun mehr und mehr verblaßten und sich als weiße, flatternde Gebilde auf den Weg machten. Das farbenfreudige Auge des Mädchens versenkte sich in den bunten Anblick des Herbstbildes und fand Ausruhen und Erquickung in ihm. Erst als die leuchtenden Reflexe überschleiert und verschluckt wurden von dem Dunkel des Abends, wandte sie sich und ging der Stadt zu, wo bereits die ersten Lichter aufflammten.

Ruhig, fast heiter betrat Elfriede das Haus. Als sie die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, fiel ein weißes Etwas zu Boden. Sie hob es auf und sah, daß es der erwartete Brief war.

Ein leichter Schreck durchfuhr sie und milderte sich, als sie das Schreiben in Händen hielt, zu banger Scheu. Sie nahm sich vor, es in ausgeglichener Ruhe zu lesen, legte Hut und Mantel ab und zündete die Lampe an. Hierbei bemerkte sie ein leises Beben in den Fingerspitzen. Das rief ihren Unmut hervor und ließ sie wie zum Trotz noch einige Minuten zögern.

Dann aber überwältigte sie das Verlangen in jäher Welle; sie setzte sich an den Tisch und las.

 

»Ihr Brief«, schrieb Wolter, »war für mich eine große, freudige Überraschung, und doch habe ich ihn eigentlich erwartet. Ja, das Bild war für Sie und nur für Sie bestimmt. Ich wollte es Ihnen am Tage vorher überreichen, wollte Sie bitten, mich in gutem Andenken zu behalten, aber Sie rissen gar so eilig Ihre Hand an sich. Das betrübte mich und schien mir eine Bestätigung meiner Auffassung zu sein, daß es mir nicht gelingen werde, Ihr tieferes Interesse zu gewinnen. Neben dem Wunsche meiner Mutter, die mich in ihrer Nähe wissen wollte, war es vor allem diese Gewißheit, die mich trieb, meine Verlegung in ein andres Lazarett zu beantragen. Es wäre mir nicht länger möglich gewesen, in Ihrer Nähe zu sein und zu schweigen. Von den Empfindungen zu schweigen, die Sie in mir erweckten. Das aber forderte ich selbst von mir, weil Sie mir nicht die geringste Ermutigung zukommen ließen. Meine Sympathie gehörte Ihnen vom ersten Tage an, da ich Sie sah. Ihr ganzes Wesen aber ging mir in jener Nacht auf, als Sie den fiebernden Kameraden pflegten: Ihr Ernst, Ihre Güte und Opferbereitschaft, die nicht nur mit den Händen, sondern auch mit dem Herzen arbeitet. Ja, das ist es … Sie sind ein verschlossener Mensch wie ich. Doch in jener Nacht lag Ihre Seele offen vor mir. Ich verstand nicht die leisen tröstenden Worte, die Sie zu dem Kranken sprachen. Aber ich sah Sie. Mein Blick begleitete Sie die ganze Nacht; ich hatte nicht die Macht, mich abzuwenden. Zuweilen dachte ich, Sie müßten sich über die ungewollte Zudringlichkeit meiner Augen beschweren, denn auch Sie sahen zuweilen zu mir hinüber, aber wohl nur mit dem äußeren Auge; Ihr inneres war bei dem fiebernden Kameraden. So wurde diese Nacht eine Offenbarung für mich: Ich glaubte das Weib entdeckt zu haben, dessen Wesensbild seit langen Jahren in mir lebte; hier war mein zur Wirklichkeit gewordenes Ideal.

In der Folge wartete ich auf eine Gelegenheit, mich Ihnen verständlich zu machen; sie kam nicht; denn immer schienen Ihre Sinne irgendwo anders zu sein als gerade bei mir. Sie wurden zerstreut, und es hatte mitunter den Anschein, als suchten Sie etwas, das sich durchaus nicht finden lassen wollte. Unter diesen Umständen war mir eine Abweisung gewiß, das fühlte ich – und resignierte. Ließ nur die Zeichnung als einen stummen Vermittler meiner Gefühle zurück. Bis nun Ihr Brief kam, der noch einmal alle meine Hoffnung erweckte. Bald werde ich ganz gesund sein, und der Krieg wird mich vielleicht von neuem fordern.

Darf ich hoffen, daß mich dann nicht nur Ihre guten Wünsche, sondern herzlichere Empfindungen begleiten? Schreiben Sie es recht bald Ihrem wartenden

Wolter.«

 

Elfriede sah mit geweiteten Augen vor sich hin wie in eine große, überraschende Helle. Ihr Herz schlug in raschen Pulsen, und das Blut drängte zum Kopfe. Ein stilles, seliges Lächeln legte sich um ihren Mund und leuchtete zärtlich aus den Blicken.

Vor ihr tauchte das Gesicht ihres Traumes empor, lebendiger, liebevoller als je. Und in der heißen Aufwallung ihrer Sehnsucht versank die letzte Scheu, sich dem andern zu offenbaren.

Sie nahm Papier, Feder und Tinte, und die Worte strömten ihr zu. Worte, in denen es offen und verborgen stand: »Ja, Dich habe ich gesucht – Dich.«

In den folgenden Wochen erschien es manchen Leuten, als sei Elfriede Hegel größer geworden. Größer und schöner, freundlicher und gesprächiger. Niemand erfuhr von ihrer Liebe, aber ein Strahlen von Glück ging von ihr aus, das wie heiteres Licht und erquickende Wärme wirkte. Es gab neugierige Frauen, die eine Frage nicht unterdrücken konnten. Sie erhielten ein fröhliches Lachen zur Antwort.

Die Arbeit ging ihr munterer von den Händen als jemals, und zuweilen sang sie leise und tief beglückt vor sich hin. Jeder Tag, der ihr einen Brief von Wolter brachte, wurde ihr zum Fest, und viele solcher Feste gab es nun. Hatte sie morgens ein Schreiben empfangen, so brachte sie am Abend die Antwort zur Post, und all die verborgen gewesene Innigkeit ihrer Natur spiegelte sich in den Zeilen.

Auch über die zurückhaltende Natur Wolters war diese Liebe gekommen wie Tauwind über Wintereis: Machtvoll, ungestüm drängte sein inneres Leben dazu, sich kundzugeben und alles auszusprechen, was ihn bewegte.

Und je mehr sie einander offenbarten, desto fester, sicherer wurde in beiden die Gewißheit, daß ihr Wesen so harmonisch zusammenklinge wie selten zwischen zwei Menschen. Aber nachdem der seelische Gleichklang außer Zweifel stand, erwachte die Sehnsucht nach der körperlichen Nähe des andern, und sie sprachen in ihren Briefen viel von einer baldigen Zusammenkunft.

»Zwar habe ich Dich in mehreren Exemplaren hier«, schrieb Wolter, »auf dem Papier; denn ich zeichnete ja wochenlang nichts anderes als Dich. Aber erstens bin ich kein Künstler, und könnte dieser mir die Natur ersetzen? Und was hast Du von mir? Eine schwache Erinnerung, nicht wahr? Denn Dein Auge hat sich nie sonderlich in meinen Anblick vertieft. Neuerdings bin ich noch mehr verändert, ich habe mir den Kinnbart abschneiden lassen (man hat halt auch seine Eitelkeit und will möglichst jung erscheinen), und der Kamera des Photographen bringe ich eine unüberwindliche Abneigung entgegen; niemand ist vor ihr natürlich. Also – sobald ich das Lazarett hinter mir und einen Erholungsurlaub vor mir habe, komme ich.«

In der Tat trug Elfriede im Geiste nur ein sehr undeutliches Bild ihres Geliebten. Das Traumgesicht beherrschte ihre Vorstellung von ihm völlig. Wenn es sich schemenhaft zu ganzer Gestalt erweiterte, ergriff sie ein peinliches Gefühl der Unsicherheit, da sie nicht wußte, was an dem Abbilde die Wirklichkeit, was die Phantasie geschaffen habe. – So gingen dem Mädchen die Wochen in Arbeit, Hoffen und Träumen dahin, erfüllt von der Gewißheit, daß das Glück vor der Tür stehe und nur noch ein wenig zögere, ihr einsames Leben mit Glanz, Helle und Seligkeit zu überschütten. Kein Zweifel trübte die frohe Harmonie ihres Geistes und Herzens, und wenn wirklich die flüchtige Spur eines Schattens den Augenblick verdunkelte, so war's eine leichte Regung der Eifersucht, die zuweilen in ihrem Gemüt auftauchte, wenn Wolter wieder und wieder von seiner Mutter schrieb. Aus jeder Zeile sprach die unerschütterliche Dankbarkeit eines Sohnes, der sich aller mütterlichen Opfer bewußt ist und seine ganze Liebe, die bisher nie ein andres Objekt gefunden, auf diese eine Frau vereint. »Sie ist alt«, schrieb Wolter, »und es will ihr noch nicht in den Kopf, daß sie mich mit Dir teilen soll. Aber nur Geduld. Es geht etwas langsam in uns her; haben wir uns aber erst zu einer Erkenntnis durchgerungen, dann sitzt sie fest. Auch Mutter wird Dich einst lieben lernen.«

Einst! Elfriede seufzte bei diesem Wort, und es gab Augenblicke, da eine leise Furcht sie beschlich – Furcht vor den prüfenden, vielleicht neidischen Augen jener Mutter. Und immer, wenn sie meinte, sich selber auf den Weg zum Geliebten machen zu sollen, immer hielt dies leise Fürchten sie zurück. Nein, sie wollte warten, bis er kam.

Über diesem Warten verging fast der ganze Winter; er legte einen Hauch von Melancholie über das stilltiefe Glück des Mädchens und steigerte ihre Sehnsucht in manchen Stunden zu fast unerträglicher Pein. Wolter berichtete von ähnlichen Schmerzen, ließ aber jeden seiner Briefe in heitere Zuversicht ausklingen.

In den ersten Vorfrühlingstagen endlich kam das frohe, erlösende Schreiben, das aus Elfriedens Herzen die letzte Spur trüber Winterstimmung verscheuchte: Wolter hatte das Lazarett geheilt verlassen und seinen Erholungsurlaub angetreten.

»Zunächst will mich ja nun die Mutter haben«, schrieb er, »und so mag ich sie nicht durch eine jähe Abreise kränken. Aber ist es nicht auch viel schöner, wenn wir – Du und ich – gemeinsam den Frühling genießen? Wie freue ich mich darauf, Arm in Arm mit Dir durch die Felder zu gehen, alle Wege mit Dir zu wandern, die Du kennst!«

Einen Augenblick war Elfriede von der neuen Verzögerung enttäuscht. Dann stimmte sie freudig dem Gedanken ihres Geliebten zu: einen Frühling mit ihm zu feiern, wie sie ihn in vielen Dichtern gelesen, aber noch nie selber erlebt hatte. Nie …

Die folgenden Briefe Wolters verloren allmählich an Heiterkeit und Zuversicht; immer ausgiebiger war in ihnen von dem üblen Gesundheitszustande der Mutter, immer weniger von seinem eigenen Befinden die Rede.

Und schließlich erwachte in Elfriede das instinktive Gefühl, als ob nicht nur die Krankheit der Frau Wolter, sondern auch ein gewisses seelisches Widerstreben der letzteren die Zusammenkunft hinauszögere. Es schien ein Kampf um den Sohn, ein Kampf um den Mann werden zu wollen – ein Werden, das in Elfriede eben zur ersten schwachen Ahnung gediehen war, als sie sich auch schon stolz zusammenraffte und zu abwartender Haltung zwang – in der sicheren, ihr ganzes Wesen durchdringenden Überzeugung, daß der Mann ihres Herzens seine Liebe von niemand beugen lassen dürfe. Die Einzelheiten des mütterlichen Kampfes erfuhr Elfriede nicht; denn nach einigen Wochen unterbrachen wichtige Ereignisse den mit großer gegenseitiger Rücksicht geführten Briefwechsel. Es war gerade um die Zeit des ersten warmen Frühlingsregens, als Elfriede die Mitteilung von Wolter erhielt, er sei von neuem einberufen worden, habe aber noch vier Tage Zeit, von denen er ihr drei widmen werde. Sie möge ihn also erwarten. Diesem Briefe folgte fast unmittelbar ein Telegramm, das den Tod seiner Mutter meldete. Da es aber keine Einladung für Elfriede enthielt, begnügte sie sich mit der Übersendung eines Kranzes.

Er dankte – schon von der Front aus, bat, ihm nicht zu zürnen und in dem jähen Ende seiner Mutter auch seine eigene Rechtfertigung für die Unterlassung seines Besuches zu sehen.

Sie antwortete gut und verständnisvoll, aber sehr traurig, weil die Stunden eines glücklichen Wiedersehens in unbestimmte Ferne gerückt wurden. Die große Unsicherheit, die über allen Schicksalen ruhte, erfaßte nun auch sie und drückte sie um so schwerer, als ihr der Trost der Erinnerung an gemeinsam genossenes Glück versagt war.

Sie zwang sich zu hoffen. Es gelang ihr, wenn die Frühlingssonne den Arbeitsplatz am Fenster erhellte und die Farben ihrer Stickerei bunt und freudig aufleuchten ließ. Aber wenn der Sturm des Nachts durch die Straßen heulte und strömender Regen die Scheiben wusch, erfüllte sie Furcht und Grauen, und sie starrte schlaflos in die wallende Finsternis ihres kleinen Zimmers … Und dann kam ein Tag, der sie trotz aller trüben Ahnungen wie ein Blitzschlag traf.

Der Briefträger reichte ihr einen Brief herein. Sie sah zunächst verständnislos auf die Adresse, die sie selber geschrieben hatte. Und entdeckte dann auf der Rückseite ein Kreuz und den mit roter Tinte geschriebenen Vermerk: »Adressat auf dem Felde der Ehre gefallen.« – Sie sank lautlos um …

Eine schwere Krankheit kam über Elfriede Hegel. Da sie niemand zur Pflege hatte, sorgten andre Hausbewohner für ihre Überführung ins Krankenhaus. Das Fieber schüttelte sie, und es gab Tage und Nächte, da ihre Schreie durch das Haus gellten und ihr Weinen und Schluchzen in unstillbarer elementarer Heftigkeit andauerte. »Nehmt die Augen fort, die Augen!« rief sie immer wieder.

Nach Wochen durfte sie das Spital verlassen – als völlig verändertes Wesen. Ihre auf rechte Haltung war gebeugt worden, und der sonst so ruhige und beherrschte Blick ging suchend umher. Doch ihr Geist blieb, von zeitweiligen Trübungen abgesehen, klar, und nur die Erinnerung schien geschwächt und konnte die Vergangenheit nur bruchstückweise zurückrufen.

Von den Vorgängen im Krankenhaus blieb ihr nichts gegenwärtig, sie wußte lediglich, daß jenes Traumgesicht andauernd in unnatürlicher Größe vor ihr gestanden habe.

Nun bemühte sie sich, ein Bild ihres toten Geliebten zu erhalten. Sie schrieb nach seiner Heimat, machte auch einige Verwandte ausfindig, aber niemand konnte oder wollte ihr ein Porträt senden.

So quälte sie sich denn, sein genaues Bild in ihrer Vorstellung zu schaffen, seine Züge, seine Gestalt unverrückbar festzuhalten. Es gelang ihr nicht, da sie nie einen tieferen Eindruck von seiner Physiognomie gewonnen hatte und die Erkenntnis hiervon ihr Bemühen störend unterbrach.

Nur seine Augen blieben ihr und verließen sie zu keiner Stunde. Sie nickte ihnen zu und sprach mit ihnen, wenn sie am Stickrahmen saß, sagte ihnen gute, kosende Worte, lächelte ihnen zu und träumte immer wieder von ihnen.

Sie ging tagelang verschlossen ihrer Arbeit nach und bemerkte es oft nicht, wenn sie auf der Straße gegrüßt wurde. Und es gab andre Tage, da sie keinen Bekannten ohne Anrede vorüberließ und von unzähmbarer Schwatzsucht besessen schien. Dann erzählte sie von Bruno Wolter und fragte, ob es denn nicht wahr sei, daß häufig schon Totgeglaubte wiedergekommen seien. Die andern nickten und erwiderten, sie solle nur ja die Hoffnung nicht verlieren. Sie verlor sie in ganz klaren Stunden und fand sie in unklaren wieder. In diesem Auf und Ab vergehen ihre Tage; die Leute lächeln, schütteln den Kopf und nennen sie eine »wunderliche alte Jungfer«.


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