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Die Statue

Es steht ein leeres Haus im Park. Ein niedriges Schlößchen mit vielen hohen Fenstern, das einen langgestreckten Halbbogen bildet; seine Flügel berühren sich fast mit den schmalen Ausläufern eines Teiches, der sich bauchig nach der andern Seite weitet.

Zwischen Haus und Wasser runden sich viele Beete, von Buchsbaum eingefaßt, und in der Mitte, auf einer kleinen ansteigenden Rasenhöhe, erhebt sich die weiße Figur einer jagenden Diana. Ein breiter Laubengang säumt den Teich; er verbindet zwei leichte Brücken, die an den schmälsten Stellen rechts und links zierliche Bogen über das Wasser schlagen.

Vom andern Ufer, da die luftigen Brücken münden, erstrecken sich lange Alleen wie die Strahlen eines Sternes in den Park. Buchen, Platanen, Eichen und hohe düstere Tannen rahmen anders jede Straße. Breite Kieswege und enge gewundene Buschpfade verbinden sie.

Im Frühling und Sommer, wenn die Stare in den Wipfeln lärmen, die flinken Amseln würmersuchend durch das Gesträuch und über den Rasen hüpfen und die Nachtigall ihre sehnsüchtigen Lieder aus den Hecken flötet, wenn die Schwäne stolz auf dem Teiche rudern und die bunten Enten lustig nach Fischen tauchen, dann spazieren viele Menschen auf den Wegen, schmiegen sich auf versteckten Bänken selige Paare eng aneinander – bis der helle Schlag des Gongs ertönt, der sie erschrocken auffahren läßt. Dreimal in kurzen Abständen läutet es; dann wird der Park geschlossen.

Im Spätherbst und im Winter schweigt die Glocke; nur selten verirrt sich ein Mensch hierher. Jetzt, da der Abendwind kühl und feucht durch das welke Laub raschelt und der Nachtreif schon zeitig an seinen zierlichen weißen Gebilden um Ast und Zweig, um Strauch und Halm zu bauen beginnt, wandeln nur einsame Nebel auf den Wegen, wachsen in den engen Buschpfaden langsam hoch, zerfließen und hüllen die nackten Statuen ein, die sich auf vielen weißen Sockeln im Park und am Rande des Teiches erheben. Fern sind die Menschen. Göttinnen und Tänzerinnen, Nixen und Nymphen gehört das Gebiet. Die an offenen Stellen besonders dem rauhen Wetter ausgesetzt sind, haben sich in einem Schutzkasten versteckt. Dort schlafen sie bis zum Frühling. Unendliche Ruhe harft leise durch den Park. Lautlos wandeln die Nebelgestalten auf den Pfaden. Nur ein Häher knarrt dort von der alten Kiefer, und der Wind flüstert mit den rostbraunen Blättern einer krummen Steineiche. – Der alte Kastellan des Schlößchens steht am Fenster und blickt verträumt in die Dämmerung. Die weiße Diana hat, wie immer, ihre Hand am Bogen, unhörbar schlägt Euterpe ihre Leier, und Terpsichore, die sich unter einen Kasten geflüchtet hat, schwingt sich gewiß auch dort unbeweglich auf den Zehen. Er kennt sie alle, der graue Kastellan, kennt sie seit nahezu dreißig Jahren, und ob die eine und andre auch von einer Schutzhülle bedeckt ist – er sieht sie deutlich vor sich. Nun hebt er die Hand an die Augen, in denen ein leises Erstaunen aufglimmt. Er weiß es doch ganz genau, daß die schmalen Bogenbrücken keine Standbilder tragen. Aber dort, auf der linken Brücke, auf ihrem höchsten Punkt, steht nun eine Figur. Ganz unbeweglich. Starr wie die andern.

Der Kastellan schaut und schaut und schüttelt den Kopf.

Seine Frau tritt ins Zimmer, krumm und alt, eisgrau wie ihr Gatte. Sie trug die Brotrinden, die sie beide nicht mehr beißen können, zu einem Steintisch im Laubengang als ein Mahl für die hungernden Wintervögel.

»Sieh einmal dort nach der Brücke, Magda.«

Ihr Blick folgt der Richtung seines Zeigefingers. »Ich seh' nichts.«

Freilich. Nun bemerkt auch er, daß die Figur nicht dort ist.

»Ich hätte drauf schwören können«, murmelt er, stellt sich an den Ofen und sinnt ob seiner Augen, die wohl unzuverlässig werden. Aber nun – er tritt wieder nahe ans Fenster nun erhebt dieselbe Erscheinung sich auf der Brücke rechts.

Der Kastellan blickt und blickt, die Figur weicht nicht. Wie eingewurzelt steht sie in der grauen Dämmerung.

Er überlegt einen Augenblick, greift nach seiner Mütze und tritt vor die Tür. Er richtet seinen Blick nach der Brücke und sieht: Sie ist leer. Schon will er sich wieder zurück in das Haus wenden, da wächst die Erscheinung im Laubengang neben dem Steintisch hoch.

Dem Alten wird's ein wenig unheimlich. Beginnen die Statuen umherzuwandern?

Vorsichtig, den Blick unausgesetzt auf jene Figur gerichtet, setzt er sich in Bewegung.

Die unbekannte Statue rührt sich nicht.

Sie zeigt auch keine Bewegung, als er dicht neben ihr steht.

Es ist eine große Frau mit einem hageren Gesicht, die ein Kind auf dem Arm trägt. Sie steht starr wie aus Stein und schaut auf das Wasser, auf eine winzige Insel, wo den Schwänen und Enten ein zierliches Häuschen errichtet wurde. Das Kind kaut an einer Brotrinde und blickt den alten Kastellan mit lebhaft glänzenden Augen an.

»Was macht Ihr hier?« fragt er und versucht ein wenig Strenge in seinen Ton zu legen.

Die Frau wendet den Kopf wie im Erwachen, deutet auf das essende Kind und schweigt.

»Der Park soll zu dieser Zeit nicht mehr betreten werden.«

Die Frau steht unbeweglich, schaut auf das Wasser. Langsam lösen sich ihre Lippen voneinander; eine tonlose Stimme sagt: »Wer hat es verboten?«

»Der Besitzer.«

»Wo ist er?«

Der Alte tut eine unbestimmte Geste in die Weite: »Irgendwo.«

»Und das Haus ist leer?«

»Gewiß. Warum fragst du?«

»Mein Kind und ich, wir haben kein Dach.«

Der Kastellan mustert sie erstaunt, halb lächelnd: »Möchtet ihr in die Herrschaftszimmer ziehen? – Ich bin dreißig Jahre hier und darf sie nur auf Filzschuhen betreten.«

»Warum stehen sie leer?«

»Ja, warum.« Er lächelt. »Frag den Besitzer. Wenn du Glück hast, triffst du ihn im nächsten Sommer einige Wochen hier.«

»Hat er die Kästen um die Steinbilder bauen lassen?«

»Wer sonst?«

»Dann gibt er auch uns ein Dach, die wir aus Fleisch und Blut sind und frieren und hungern. Eine kleine Kammer, eine Bodenecke, ein Strohlager – ich bitte.«

Der Alte tritt von einem Fuß auf den andern. Sie schaut schon wieder geradeaus auf das Wasser, steht starr, fast tot.

»Ich darf nicht«, sagt er leise; es klingt wie eine Entschuldigung. »Darf nicht, hörst du. Hab' strengen Befehl, niemand Fremdes ins Haus zu lassen.«

»So nimm den großen Schutzkasten dort von der Steinfigur und decke ihn über uns.«

Er schaut ärgerlich auf, meint, sie wolle ihn narren. Sie steht starr und ernst wie vorher. Da bezwingt er seine Stimme und sagt mild: »Das ist doch Unsinn. Geht in die Stadt, ins Asyl.«

»Dort ist kein Platz mehr …« Ihr lebloser Blick wandert still über das Wasser, aus dem die grauen Dämpfe steigen. »Die Schwäne und Enten haben ein schönes Haus«, sagt sie verloren. »Die Vögel haben ihr Nest, das Vieh hat seinen Stall …«

»Wenn du über die Brücke und durch jene Allee gehst, bist du in einer guten Viertelstunde am Polizeiamt. Dort wird man dir raten …«

Sie hört ihn nicht, spricht fort, still vor sich hin: »… nur die Fische, die Fische, mein Kind, haben keine Wohnung. Wasser hält auch warm …«

Den Kastellan packt ein Grauen. Er will mit seiner Frau sprechen und stapft eilig zum Haus. Auf halbem Wege verweilt er und schaut sich um. Am Teiche steht die graue hagere Frau mit dem Kind auf dem Arm. Er fühlt etwas dunkel in sich aufsteigen. Einen Wunsch, vor dem er beinahe erschrickt: sie möge zu Stein werden. Möge in all der Herrlichkeit zwischen den Nymphen und Göttinnen erstarren mit ihrem Kinde auf dem Arm und dauernd hier stehen. Und eine Frage wacht in ihm auf: Was würde sein Herr dazu sagen? Würde er der steinernen Frau ein Schutzdach geben, wenn Sturm und Regen aus den Wolken brach?

Er blickt nach oben und sieht die lange Reihe der Fenster, hinter denen Gemach um Gemach in Schönheit und toter Stille verharrt. Verschlossen sind alle Türen, verriegelt alle Balkone, die Möbel sind verhängt, und die Teppiche lehnen zusammengerollt in den Ecken. Der Kastellan schüttelt den Kopf und stapft eilig in das Schloß hinein. Hart und hohl tönen ihm seine Schritte in der großen Vorhalle.

Als er mit seiner Frau zurückkehrt, ist der Platz leer. Die Brotrinden vom Steintisch sind fort. Graue dicke Schwaden treiben flüsternd über dem schweigenden Teich.

Wasser hält auch warm …


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