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Raupen

»Du wirst dir die Augen verderben, Rudolf.« Der fünfzehnjährige Knabe beugte sich noch tiefer über seine Arbeit, pinselte nur noch eifriger die Wasserfarben auf das Papier. Zuweilen ging sein prüfender Blick aus dem Fenster und schweifte über tiefer liegende Dächer und Giebel hinweg bis zum Horizont, der wie ein ungeheures qualmendes Feuermeer erschien.

»Onkel Tromms Schornstein kommt auch hinauf«, sagte Rudolf, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Er schneidet das Abendrot mitten durch. In der Brennerei ist wohl schon Feierabend. Aber ich lasse ihn doch rauchen. Ganz schwarz und düster wie eine lange Fahne lasse ich den Qualm ins Abendrot wehen.« Er wandte sich um. »Was meinst du dazu, Mutter?«

Ein schmales, blasses Gesicht hob sich vom Stickrahmen am andern Fenster: »Ich meine, du solltest nun endlich aufhören, Rudolf. Deine Augen!«

»Och, meine Augen!« Rudolf lachte sorglos. »Das sind 'n paar ganz famose Augen, Mutter. Du glaubst gar nicht, wie gut die sind! Die können sogar in der Nacht sehen. Wirklich, Mutter!« Er trat zu ihr. »Aber du stickst ja auch noch!«

»Ja, ich.« Eine feine Röte stieg in das blasse Gesicht, das einen verlegenen Ausdruck zu verbergen suchte. »Ich muß, das ist etwas anderes. Das ist wirklich etwas anderes, mein Junge.«

»Warum mußt du denn so viel sticken?«

Sie sah auf zu dem langen, hageren Jungen: »Ich habe versprochen, dies morgen fertig abzuliefern. Tue ich's nicht, krieg' ich kein Geld. Und krieg' ich kein Geld, haben wir nichts zu essen.«

»Du, das ist sehr dumm.«

»Ja, dumm ist es.« Sie lächelte. »Aber es ist so vieles dumm in der Welt, Rudolf – und wir können es doch nicht ändern. Man muß der Notwendigkeit gehorchen.« Sie stand auf und legte beide Hände auf die Schultern des Knaben: »Mein lieber Junge, wenn du das doch recht früh lernen wolltest!«

»Kann ich es nicht schon, Mutter?« Er sah sie mit seinen klugen Augen kindlich an. »Zum Beispiel: wenn ich male, dann muß ich es. Es geht gar nicht anders. Ich fühle, daß es notwendig ist, und gehorche.«

Die Mutter lächelte wieder, aber es war kein freudiges Lächeln. »Ich meine die äußere Notwendigkeit.« Und ehe er Zeit hatte, darauf zu antworten, wandte sie sich ab und fuhr mit einem plötzlichen Entschluß fort: »Onkel Tromm wird heute abend kommen. Du mußt nun daran denken, irgend etwas zu lernen.«

Rudolf war ganz erstaunt: »Gewiß, Mutter. Ich lerne doch schon. Maler will ich werden! Das weißt du doch. Aber ein richtiger Maler, ein Künstler!« Die Augen leuchteten auf. »Meine Lehrer haben so oft gesagt – gewiß und wahrhaftig, Mutter: ›Aus dem Rudolf, wenn er so dabeibleibt, kann schon einmal etwas Tüchtiges werden!‹ Und es ist doch das Schönste, das Allerschönste, was es gibt.«

»Vielleicht.« Die Mutter unterdrückte einen Seufzer. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Wir werden mit Onkel Tromm darüber sprechen. Und, nicht wahr, du wirst dich dem fügen, was dir am dienlichsten ist?«

»Oh«, Rudolf trat mit abwehrend erhobenen Händen zurück, »ich weiß schon! Ihr wollt mich irgendwo hinbringen, wo es mir nicht gefällt! Ich sehe es dir an, Mutter, das wollt ihr!«

»Warte es doch ab, Rudolf! Onkel Tromm ist dein Vormund und will dein Bestes.«

»Ich mag ihn nicht«, murrte Rudolf.

»Jedenfalls brauchst du ihm deine Abneigung nicht fortwährend zu zeigen.«

»Soll ich lügen? Du hast mir so oft gesagt: ›Nur feige und schlechte Menschen lügen.‹«

»Gewiß. Aber du bist zuweilen unhöflich und rücksichtslos. Einem älteren Menschen gegenüber darf man schon ein wenig bescheiden sein, namentlich in deinem Alter.«

»Es kommt, ohne daß ich will, Mutter.« Er senkte den Kopf. »Er verhöhnt mich immer wegen meiner Malerei. Und er weiß doch, daß es mein Liebstes ist.«

»Dergleichen liegt ihm so fern.« Sie stand nachdenklich am Fenster, dann umarmte sie plötzlich den Knaben: »Ach, Rudolf, mein lieber Junge, ich wollte, dein Vater lebte noch; er wüßte gewiß einen Rat. Wenn wir nur nicht so entsetzlich arm wären! Dann fragte ich gar nichts nach Onkel Tromm.«

Der Knabe klammerte sich an sie: »Wir wollen nicht nach ihm fragen – hörst du, Mutter?«

»Wir müssen es wohl.« Sie sah mit ratlosen, suchenden Augen in den verglimmenden Abend …

Im Flur tönte die Glocke.

Rudolf öffnete.

Herein stapfte Nikolaus Tromm, der Großdestillateur.

»Abend auch! Nanu, Anna, ihr sitzt wohl wirklich im Dustern.« Er drückte ihr die Hand und ließ sich ächzend auf einen Stuhl nieder. »Diese Treppen, schauderhaft! Ich kriege schon immer vorher Asthma, wenn ich nur dran denke. Dabei steht in meinem Haus 'ne Wohnung leer für euch. Liegt nicht halb so hoch wie die hier. Aber nein – man bloß keine Wohltaten! Zum Kuckuck, du kannst ja meinetwegen eine Kleinigkeit dafür bezahlen, wenn's denn nicht anders sein soll.«

»Du weißt doch, ich hab' meine Gründe …«

»Deine Gründe! Raupen sind's! Ist ja ganz schön, wenn 'ne Witwe ihren toten Mann in Ehren hält – noch dazu, wo's mein leibhaftiger Bruder war –, aber du kannst doch auch woanders an ihn denken. Dazu braucht man doch nicht dicht unterm Himmel zu wohnen.«

»Wir haben hier miteinander zwölf Jahre zugebracht.«

»Gut. Was weiter?«

»Und außerdem – es ist bald wie ein Atelier«, sagte Rudolf. »So wunderbar hell. Und die Aussicht.«

»Na ja! Die Pinselei, das dacht' ich mir. Mit den Raupen wird's nun wohl bald ein Ende haben.«

Ein paar Töne schrillten durch das Zimmer. Sie kamen aus der dunklen Ecke, wo Frau Anna sich auf das alte Tafelklavier stützte.

Tromm brummte. »Von dem alten Kasten trennst du dich auch nicht.«

»Als Hans noch lebte, saß er immer um diese Zeit dort und spielte. Es war schön – so in der Dämmerung.«

Tromm lachte: »Ach, was seid ihr für Narren!« Und nach einer Weile: »Steck doch mal 'ne Lampe an.«

Rudolf stand am Fenster und blickte hinaus. Regungslos sah er zum Horizont, wo eben die letzte rote Linie versank und Wolken in den merkwürdigsten Farben und Formen sich türmten.

Als das Licht brannte, setzte sich Onkel Tromm in Positur: »Also, mein Herr Neveu, bemühen Sie sich mal zu Ihrem Vormund.«

Rudolf trat, die Augen gerade auf ihn gerichtet, mit fast feindseligem Blick heran.

»Dick ist er nicht. Mit den Muskeln wird's auch nicht weit her sein. Einen Athleten werden wir kaum aus ihm machen.«

»Ich will auch kein Athlet werden!« stieß Rudolf heraus.

»Sachte, mein Sohn. Ich bin nämlich dein Vormund, wenn du's noch nicht weißt. Die Sache ist die: Bis hierher haben wir dich gebracht, deine Mutter und ich. Die Schulbänke hast du lange genug gedrückt. Deiner Mutter hast du auch lange genug auf der Tasche gelegen …«

»Mutter gibt mir kein Geld. Höchstens zu …«, er stockte.

»Na, wozu? Erstens: Dein Magen, nicht wahr? Dann, was man so auf dem Leibe trägt. Und dann noch die Farben, Pinsel und so weiter, die der junge Herr unbedingt verschmieren muß! Deine Mutter sollte sich lieber öfter ein Beefsteak kaufen. Ihr seht mir beide so aus wie: Kaffee, mein Morgen-, Mittag- und Abendgebet!«

»Wir haben heute Bratwurst zu Mittag gegessen«, sagte Rudolf triumphierend.

»Bedeutend!« Tromm lachte. »Da hast du gewiß ein großes Gemälde verkauft und bist ein berühmter Mann geworden.«

Rudolf erbleichte, kehrte ihm den Rücken zu.

»Schwager!« Empört kam's vom Klavier her.

»Schon gut.« Er trommelte mit den Knöcheln auf der Tischplatte herum. »Was meinst du, was nun mit dem Jungen geschehen soll?«

Rudolfs Mutter atmete schwer: »Ich habe natürlich keine Mittel, um ihn studieren lassen zu können oder dergleichen.«

»Studieren! Raupen! Geld verdienen soll er!«

»Mutter!« Rudolf stürzte auf sie los. »Vielleicht kann ich von meinen kleinen Bildern einige verkaufen. Vielleicht krieg' ich kleine Aufträge …«

»Natürlich!« Tromm lachte, so daß ihm der Bauch wackelte, »die Kunsthändler werden sich nach dir reißen. Nein, mein Lieber, den Zahn laß dir man ziehen.« Und nach einem scheinbaren Überlegen: »Ich will dir etwas sagen, Anna, der Junge kann zu mir kommen.«

»Zu dir?« Frau Anna trat einen Schritt vor.

»Zu mir!« Tromm nickte gewichtig.

»Schnapsbrenner soll ich werden?« Rudolf war ganz erschrocken.

»Schnapsbrenner sollst du werden!« Der Onkel nickte ihm freundlich zu.

»Nein!!«

»Es ist wohl nichts für den Jungen.« Frau Annas Stimme zitterte. »Er ist viel zu schwach dazu.«

»Zu schwach? Mag sein. Ich werde ihn schon herausfüttern. Er soll an meinem Tisch essen. Du bist die Sorge los. Zuerst krieg' ich ihn an leichte Arbeiten, wozu es keine Riesen braucht. Allmählich wachsen die Muskeln.«

»Und wann soll ich malen?« Es klang fast wie ein Aufschrei.

»Malen? Werden sehn. Wenn du's fertigbringst, kannst du meine Firma auf die Fässer malen. Es gibt auch sonst wohl allerlei anzustreichen. Da magst du in den Farbtöpfen herumwühlen. Aber von der Pike auf sollst du dienen, Junge. Die Raupen müssen aus dem Schädel! Hab' nicht anders angefangen. Oder doch: noch tiefer. Als Laufbursche. Später kommst du ins Kontor. Wirst mein Vertreter, wenn du dazu zu gebrauchen bist. Mit Fleiß und Sparsamkeit bringst du es dann schon zu etwas. Ich sehe es an mir. Nimm dir ein Beispiel dran!«

»Er hat wohl keine Erbschaft zu erwarten, wie sie dir so unverhofft in den Schoß gefallen ist«, sagte Frau Anna.

Tromm wurde rot und warf ihr einen zürnenden Blick zu: »Die allein hat's auch nicht gemacht.« Er senkte das Kinn auf den Griff seines Stockes. Und als alles still blieb im Zimmer, hob er verwundert die Augen: »Na, ihr seid natürlich ganz verblüfft über mein Entgegenkommen?«

»Ich gehe nicht in die Brennerei!« sagte Rudolf.

»So, du gehst nicht. Ist dir wohl nicht fein genug, das Metier, junger Herr?«

»Ich will malen!«

Tromm stieß seinen Stock auf den Boden. »Raupen!« schrie er. »So ein verfluchter Eigensinn von dem Bengel!« Und zur Schwägerin: »Willst du denn kein Machtwort reden?«

»Nein.« Ruhig kam es aus der dunklen Ecke. »Zu einem Beruf zwingen? Das brächte keinen Segen, Schwager. Und es ist doch für sein ganzes Leben.«

»So. Ich denke anders! Ich denke: Wir zwingen ihn, weil es zu seinem Besten ist. Herrschaft, seid ihr wirklich so dumm? Ich hab' keinen Sohn. Der Junge kann schließlich mal die ganze Geschichte übernehmen. Ein reicher Mann kannst du werden, Bengel!«

»Ich will kein Geld!«

»Schafskopf!« Tromm sah fast hilflos von einem zum andern. »Er sitzt wirklich noch tief in den Eierschalen. Junge! Du weißt nicht, was Geld bedeutet. Na, so ein Esel!«

»Du, wenn du mich beleidigst!« Rudolf stand mit funkelnden Augen vor ihm.

»Rudolf!« – Er ging mit gesenktem Kopf zur Tür.

»Bleib hier. Onkel Tromm hat recht. Du weißt nicht, was Geld bedeutet, weil du selbst noch keins zu verdienen nötig hattest.«

»Dein Vater wußte es auch nicht«, sagte Tromm geärgert.

»Tromm!« mahnte die Schwägerin.

»Ist doch wahr. Die Raupen sind Erbfehler. Während unsereiner sich im Schweiße seines Angesichts abrackerte – du brauchst gar nicht zu lachen, Anna! –, da fiedelte dein Mann, mein Bruder, auf seiner Geige herum oder paukte den alten Kasten da. Und dabei immer getan wie 'n Krösus. Mitleidig geradezu mir gegenüber. So als wie: ›Ach, du Armer, was hast du denn!‹ Wenn ich das Ding da sehe, krieg' ich schon 'nen Zorn.«

Frau Anna schlug leise einige Tasten an: »Die Musik war sein alles.«

»Ja«, sagte Tromm trocken, »und dabei ist er ganz verhungert und ihr halb.«

»Setz dich ein wenig in die Küche, Rudolf.«

Rudolf ging mit einem bösen Blick auf den Onkel.

Als Rudolf die Tür hinter sich geschlossen, schien eine plötzliche Verwandlung mit seiner Mutter vorzugehen. Sie sprang zornig auf und sagte mit zitternder, aber entschiedener Stimme: »Ich hab's dir schon so oft gesagt: Du sollst dem Jungen nicht seinen Vater herabsetzen! Hast du überhaupt ein Recht, auf ihn zu schelten? Du – der Geizige, der ihm nie auch nur aus der bittersten Not geholfen? Trotzdem du es gar nicht gespürt hättest bei deinem Reichtum!«

»Er ist nie zu mir gekommen.«

»Weil er zu stolz war zum Bitten.«

»Gut. Ich war zu stolz, es ihm anzubieten. Vielleicht hätte er mich noch angeschnauzt. Außerdem: Selbst ist der Mann! Und es gibt Leute, die können's nicht vertragen, wenn ihnen andere helfen. Sonst sind sie überhaupt fertig und rühren sich nicht mehr.«

»Hans hat sich schon gerührt!«

»Er hat euch im Elend sitzenlassen.«

»Nein! Das heißt, was das Äußere anbetrifft, da magst du recht haben. Aber seine Schuld war's nicht. Er war eben anders als du und die meisten. Nicht jeder Beruf trägt goldene Früchte. Wenn's auch schmal bei uns hergegangen ist – das Herz hat niemals gehungert. Verstehst du das?«

»Nein«, sagte Tromm. »Mein Hunger hat's immer mit dem Magen zu tun gehabt. Aber wenn ihr schon so verrückt war't, hättet ihr doch an den Jungen denken müssen.«

»Für ihn ist getan, was getan werden konnte. Und auch heute würde ich dich nicht um Rat fragen, wenn Hans noch lebte.«

»Natürlich.« Tromm lachte bissig. »Daß ich auch heute bloß so 'ne Art Notnagel hier bin, weiß ich.«

»Das kannst du wirklich nicht sagen.«

»Das sage ich.«

»Hab' ich deine ›Mildtätigkeit‹ schon einmal in Anspruch genommen? Höchstens einen Rat gefordert, weil ich dich für einen praktischen Menschen halte.«

»Ja. Und meinen Rat fast keinmal befolgt.«

Frau Anna zuckte die Achseln und ging in ihre Ecke zum Klavier. Sie hatte sich kaum gesetzt, als sie auch schon wieder aufsprang und beide Hände auf seinen Arm legte: »Tromm, hilf mit, daß der Junge das werden kann, wozu seine ganze Natur ihn drängt.«

»Farbenkleckser meinst du? – Nein!«

»Er hat Talent, seine Lehrer bezeugen's.«

»Mag sein. Kann er was verdienen damit?«

»Das steht bei der Zukunft. Niemand kann das voraussehen. Aber ich glaube es.«

»Auf den Glauben gebe ich nichts. Und für die nächsten Jahre ist ganz gewiß nicht daran zu denken.«

»Aber der Junge wird todunglücklich, zwingen wir ihn zu einem andern Beruf.«

»Todunglücklich!« Tromm lachte kopfschüttelnd. »Macht doch bloß nicht immer so große Worte. Ist ja Unsinn. Er wird sich zuerst vielleicht ein bißchen kränken. Aber ich will ihm so viel zu tun geben, daß er gar keine Zeit mehr haben soll, sich unglücklich zu fühlen.«

»Oh, du kennst ihn nicht!«

»Na, meinst du denn, der Bengel ist so von aller Vernunft verlassen, daß er's nicht bald selber einsieht, wo sein Vorteil liegt?«

Frau Anna sah sehr gequält aus: »Du sprichst nur von Vorteil, immer von Vorteil und Verdienen. Gibt es denn gar nichts andres für dich?«

»Nee.« Tromm sah verwundert auf. »Was soll's denn weiter geben? Geld regiert die Welt.«

»Ach, wie erbärmlich das ist!« Rudolfs Mutter sank in den Stuhl am Klavier und stützte sich auf die Tasten, so daß ein schriller Mißton durch die Stube tönte.

»Es ist mal nicht anders«, sagte Tromm und besah sich eingehend seinen Stock. »Dagegen kannst du auch nicht an.«

»Aber du könntest – du! Leihe mir etwas, Tromm! Ich bitte ja nicht für mich! Leihe mir auf einige Jahre. Nur so viel, daß der Junge nicht zu hungern braucht. Ich gebe dir einen Schuldschein in seinem und meinem Namen …«

Ein schallendes Gelächter ließ sie innehalten. Tromm hatte sich erhoben: »Auf den Leim kriechen wir nicht, Frau Schwägerin.«

»Wie? Du meinst, ich will dir's nicht zurückgeben?«

»Du kannst nicht! Und außerdem ist das doch Jacke wie Hose; was soll dann aus meiner Brennerei werden? Ich will einen Nachfolger – und zwar einen, den ich mir erziehen kann.«

»Ich dachte, es handelt sich darum, was der Junge werden soll?«

»Freilich. Das auch. Aber – nicht allein. Kurz und gut: Entweder der Junge kommt zu mir, oder wir sind fertig miteinander für immer. Punktum!«

»Ist das dein letztes Wort?«

»Mein erstes und mein letztes.«

»Gut.« Frau Anna atmete schwer, zögerte noch und ging dann mit schnellen Schritten zur Tür: »Rudolf!«

Rudolf kam, Trotz und Spannung in den Augen.

»Dein Onkel besteht darauf, daß du in seinen Betrieb eintrittst.«

»Ich will Maler werden, Mutter!« Flehende Angst sprach aus den Augen.

»Du wirst hungern müssen, Rudolf.«

»Ich will hungern.«

»Unglaublich«, lachte Tromm in bissigem Ärger.

»Ich werde noch mehr arbeiten müssen als bisher«, sagte die Mutter. »Ob ich uns beide auf die Dauer durchbringe, weiß ich nicht.«

Rudolf stand mit gesenktem Kopf. Dann sagte er leise: »Wünschst du, daß ich zu Onkel Tromm gehe?«

»Meinetwegen nicht.«

»Dann komme ich nicht zu Ihnen, Herr Tromm.«

»Den Onkel hast du auch schon abgesetzt, mein Junge?« Tromm nahm seinen Hut. »Wie nun, wenn ich dich als Vormund zwinge?«

Rudolfs Augen flatterten unruhig: »Dann lauf ich Ihnen fort!«

»Alle Achtung! Den Bengel habt ihr fein erzogen. Na, ich will mich nicht ärgern.« Er stand schon an der Tür und sagte höhnisch: »Viel Glück in eurem Raupennest, ihr Narren!« Er ging, mit wuchtigen Schritten.

Im Zimmer wurde es still, ganz still.

Frau Anna saß am Klavier und sah mit bangen Augen auf ihren Sohn.

Der stand am Fenster und blickte ins Dunkel hinaus. Plötzlich drehte er sich um: »Mutter, was redet Onkel Tromm immer von Raupen? Ist es denn so etwas Häßliches und Schlimmes, was ich will?«

»Lieber Junge«, Frau Anna ließ ihre Finger liebkosend über die Tasten gleiten und lächelte schmerzlich, »Onkel Tromm ist schwach in der Naturgeschichte. Er weiß nicht, daß aus den Raupen oft die schönsten Schmetterlinge kommen.«

Sie sandte einen langen Blick hinauf zu dem Bilde des Mannes, das da im Halbdunkel über dem Klavier hing. Dann erhob sie sich entschlossen, griff zum Stickrahmen und setzte sich ans Licht.


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