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Vater und Sohn

Sie schritten beide rüstig aus, bis sie die letzten Häuser der Stadt im Rücken hatten und der Lärm der Straßen allmählich hinter ihnen verhallte. Dann bogen sie rechts in den schmalen Feldweg ein, der zu dem kleinen Dorfe führte, in dem sie wohnten. Nun gingen sie langsamer. Der Alte schien in tiefes Nachdenken versunken; mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf schritt er schleppend dahin. In der linken Hand trug er die leere Blechkanne, die er, mit kaltem Kaffee gefüllt, des Morgens in die Fabrik mitnahm. Der Sohn hatte die seinige an einer Schnur befestigt und umgehängt. So konnte er besser Blumen pflücken, die spärlich am Rande des Weges wuchsen. Der Alte ging, ohne sich umzusehen, seinen regelmäßigen Schritt. Der Knabe war zurückgeblieben. Nun lief er, den Vater einzuholen. Dann ordnete er die verkümmerten Blüten und breiten Gräser zum Strauß.

»Den bring' ich der Mutter. Hab' sonst schönere gefunden, als ich noch zur Schule ging, gestern noch. Da sucht' ich auch den ganzen Nachmittag. Nun muß ich in die Fabrik. Jeden Tag, Vater?«

»Jeden Tag.«

»Von morgens bis abends?«

»Von morgens bis abends.«

»Wie heute? Jeden Tag und jeden Tag, genau wie heute?«

»Wie heute. Immer.«

»Aber sonntags darf ich ausruhen, auf die Wiese gehen, laufen, springen und spielen …«

»Wenn wir auf dem Acker nichts zu tun haben, ja.«

Nachdenklich schwieg der Knabe. Dann fragte er: »Vater, wie oft bist du schon so gegangen?«

»Wie oft? Weiß nicht. Immer.« Er sann einen Augenblick. »Zwanzig Jahr wohl beinah.«

»Zwanzig Jahre?« Der Junge rechnete. »Das sind über sechstausend Tage, Vater. Ohne Sonntag.«

»So viel werden's sein, ja.«

»Und immer morgens hin und abends zurück?«

»Immer.« – »Das möcht' ich nicht!«

Der Alte blieb stehen, richtete sich ein wenig auf und sah den Knaben scharf an. Dann, als besänne er sich, sagte er milde: »Daran gewöhnt man sich.«

Schweigend schritten sie weiter. Dann blieb der Junge stehen: »Ich kann nicht weiter, Vater; bin so furchtbar müde.«

»Bald sind wir zu Haus.«

»Wirst du nie müde, Vater?«

»Das gewöhnt sich. Unsereiner darf nicht klagen.«

»Mir tut der Rücken weh.«

»Hast schwere Stücke tragen müssen. Hab's gesehn.«

»Muß ich morgen wieder?«

»Wirst wohl müssen.«

»'n paarmal hat's mir ordentlich geknackt in den Knochen. Aber ich hab's mir verbissen. Kein Mensch hat's gemerkt, wie ich mich gequält hab'.«

»Darf's auch nicht.«

»Aber jeden Tag krieg' ich's wohl nicht fertig. Das halt' ich nicht aus. Auf den Schultern hab' ich große, blaue Flecken, glaub' ich.«

»Die vergehn wieder. Ist alles Gewohnheit … Aller Anfang ist schwer.«

»Spürst du gar nichts mehr?«

»Nichts – nein.« Der Alte hüstelte. »Wenn bloß der Husten nicht wär'.«

Sie schwiegen wieder. Der Knabe schaute in die untergehende Sonne. Gerade vor ihnen, weit hinten am Horizont, tauchte sie hinab. In scheinbar unendlicher Länge dehnte sich der Weg fast wie eine schnurgerade Linie – ›bis in die Sonne‹, dachte der Knabe. Er ging wieder hinter dem Vater, dessen Gestalt sich in scharfen Umrissen abhob vom fernen, rötlichen Abendhimmel. Wie gebannt hielt der Knabe seine Blicke auf den Alten gerichtet. So hatte er ihn noch nie gesehen. »Warum gehst du so krumm, Vater?«

»Krumm?« Unwillkürlich reckte er sich. Dann sank er wieder zusammen. »Das macht die Arbeit.«

»Werde ich auch so?«

»Du?« Der Alte schien nachzudenken. Dann sagte er schnell: »Das kann man nicht wissen, mein Sohn. Die Menschen sind verschieden.«

»In der Fabrik sind sie aber fast alle so.«

»Das macht die Arbeit«, wiederholte der Alte.

»Warum ist das so? Warum? Müssen wir denn da hingehen?«

»Ja, wir müssen.«

»Warum?«

»Weil wir leben wollen. Und wer leben will, muß arbeiten – soll arbeiten«, fügte er hart hinzu.

»Von morgens bis abends? Immer? Den ganzen Tag?«

Der Alte antwortete nicht mehr …

Plötzlich lachte der Junge hellauf. Vor ihnen auf dem Wege, nur wenige Schritte entfernt, saß ein Häslein und machte, die beiden scheu anblinzelnd, sein »Männchen«. Dann hopste es mit langen Sätzen ins Feld. Der Knabe sah dem Hasen nach, bis er in einer schmalen Furche des Feldes verschwunden war. Dann blickte der Junge, noch lachend, den Alten an. Da wurde er wieder nachdenklich. »Warum lachst du gar nie, Vater?«

Erstaunt blickte dieser auf. »Hab's verlernt. Hatt' wohl auch wenig Ursach' dazu im Leben.«

»Das Leben ist wohl sehr traurig, Vater?«

»Traurig? Weiß nicht recht mehr, was das heißt. Das Leben ist kein Spaß, weiß ich nur.« Er schwieg einen Augenblick. Eine seltsame Bewegung veränderte flüchtig die harten, gefurchten Züge. »Wirst noch alles selber erfahren. Mußt nicht so viel fragen. Das tut nicht gut für unsereins. Für dich schon gar nicht.«

Scheu blieb der Knabe zurück; eine ungekannte Ehrfurcht vor dem Vater stieg in ihm auf.

Als sie die morsche Brücke des breiten Wiesengrabens betraten, blieb er stehen und lehnte sich über das hölzerne Geländer. Dunkel und schmutzig wälzte das schlammige Wasser sich dahin. Mit großen Augen starrte er hinein. Sein Kopf senkte sich, und langsam bog sich der Rücken. Die natürliche Linie schien zu brechen unter der Wucht ängstlicher, beklemmender Ahnungen.

Schweigend legten die beiden den Rest des Weges zurück. Mit kurzem Gruß traten sie in das niedrige Häuschen und setzten sich an den weißgescheuerten, viereckigen Tisch. Die Mutter trug das Essen auf: Mehlsuppe und hinterher Bratkartoffeln mit Speck. Dann, bei der Mahlzeit, fragte sie: »Na, wie war dir's denn so am ersten Tag?«

Der Junge schluckte hastig ein paar Happen hinunter. Dann ließ er die Gabel fallen und schrie auf: »Mutter! Ich geh' nimmer in die Fabrik!« Sprachlos blickte die Frau auf den Alten. Dieser sagte ruhig: »Es kommt ihm schwer an.« – Sie strich dem Jungen mitleidig übers Haar, »'s gewöhnt sich alles, mein Jung' – alles.«

»Und wird nie anders?« Bang blickte er zu ihr auf.

»Es wird anders!« Hart sprach's der Alte und legte die Gabel hin. Dann stand er auf und ging zum Fenster. Vor ihm in weiter, grauer Dämmerung lag das Feld.

»Es wird anders!« wiederholte er und kehrte sich zum Knaben. »Du magst es noch erleben!«


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