Henrik Pontoppidan
Aus jungen Tagen
Henrik Pontoppidan

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X

Auf die schändliche Anklage, die meine Feinde gegen mich gerichtet hatten und die veranlaßte, daß ich in den Verdacht kam, Jespers Mörder zu sein, will ich hier nicht näher eingehen. Wie es bekannt sein wird, ward ich durch den Richterspruch freigesprochen, und zwar nicht allein von dem Anteil an dem Morde, sondern auch von der boshaften Beschuldigung, auf der der Verdacht begründet war. Ich hatte ja freilich schon früher zu wiederholten Malen bemerkt, welche Gedanken sich die Leute über mein Verhältnis mit Martha machten, und ich hätte vielleicht aus dem Grunde etwas mehr Vorsicht an den Tag legen sollen, auch den Mädchen in der Schule gegenüber. Aber ich hatte mir doch niemals denken können, daß meine Liebe zu der Jugend, meine Aufopferung für das heranwachsende Geschlecht, auf dem die Zukunft unsers geliebten Vaterlandes aufgebaut werden soll, so mißverstanden werden könnte.

Trotz meiner Freisprechung verlor ich meine Stellung an der Schule, und alle Wege zu einem redlichen Erwerb waren mir damit verschlossen. Denn das ist ja das Traurige, daß selbst der grundloseste Verdacht die Ehre eines Mannes befleckt, und indem er sich verteidigt, stützt er seine Ankläger. Ich mußte die Gegend verlassen, an die mein Herz mit so unlösbaren Banden geknüpft war und deren Natur ich inniger liebte, als irgendeinen andern Fleck auf der Welt, selbst mehr noch als das Heim meiner Kindheit und meiner armen Mutter. Wer aus eigener Erfahrung die betörende Macht der Liebe kennt, wird mich nicht verdammen.

Propst Hjort, der meine Herzensfreude an den Wanderungen durch die großen Wälder der Gegend kannte, nannte mich einmal im Scherz waldbesessen, und an dies Wort habe ich oft seither denken müssen. Ich fühle mich nie wohl auf dem freien, hell offenen Lande, und am allerwenigsten am Meeresstrande mit den unruhigen Wellen. Ich liebe die Waldeinsamkeit und die tiefe Stille und das geheimnisvolle Sausen im Laub, das wie ein Geisterchor aus längst entschwundenen Zeiten klingt. Ich liebe die Waldesdunkelheit und die einsamen Pfade und die schweigenden Vögel und die stillen, schwarzen Waldseen, in denen sich der Himmel spiegelt wie das Himmelreich in der Hölle.

Alles dies sollte ich nun verlassen. Marthas kleinem Grab in der Unkrautecke auf dem Friedhof mußte ich nun Lebewohl sagen. Die Tür zu meinem eigenen Haus ward mir auf den Fersen geschlossen, und ich mußte die Landstraße dahinziehen und mich wie die Vögel des Himmels von den Gaben des Zufalles ernähren.

Mit ein paar Worten will ich die Schilderung von dem Lebensschicksal der Personen vollenden, die ich hier genannt habe.

Nur wenige Wochen nach Marthas trübseligem Tode folgte ihr die Mutter ins Grab. Es war die höchste Zeit, da sie offen gestanden in ihrem Bett verfaulte. Von Kaplan Berthelsen und Fräulein Rebekka weiß ich nur wenig zu berichten; aber was ich gehört habe, will ich genau so erzählen, wie es mir selber erzählt worden ist.

Es war einige Jahre nach meiner Abreise, als ich auf einer Sommerwanderung nach Starup zurückkam, um die alten Stätten wiederzusehen und einen Kranz auf das Grab der armen Martha zu legen. Ich wohnte damals in Greis, ging aber im Sommer mit Wollwaren, um für den Winteraufenthalt zu verdienen. Es war an einem Sonntag, und ich war am Vormittag in meiner alten Kirche gewesen und hatte dort, unerkannt von allen, selbst von Ovesen, gesessen, denn ich hatte meinen Bart abgenommen. Nun, ich setzte mich ja auch in den hintersten Stuhl und gab mir keine Mühe, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Am Nachmittage, als ich an der Grenze des Kirchspiels entlang ging, auf dem Wege zum Walde, kam ich zufällig an des »kleinen Mads« Haus vorüber. Es sah noch ebenso hübsch und frisch geweißt aus wie damals, als ich ihn am Tage vor seiner Hochzeit besuchte. Die Tür stand offen, ich konnte gerade in die Küche mit dem Herd und der Glocke darüber hineinsehen. Auch das Messinggeschirr hing da drinnen an der Wand genau so blank wie damals. Und vor dem Feuer stand Grethe und trichterte Kaffee.

Wie stark sie geworden war! Die runden roten Wangen leuchteten im Flammenschein, und sie hatte eine Breite über den Lenden bekommen, so daß ich sie kaum wiedererkennen konnte.

Auch die Tür zur Stube stand offen, und da drinnen ertönte Mads' fröhliches Gemecker und das Lachen eines kleinen Kindes. Grethe hatte mich nicht gesehen, da sie mit dem Kaffee in die Stube hineingegangen war. Ich dachte, daß ich hier sicher die zuverlässigsten Nachrichten über den Kaplan und Fräulein Rebekka bekommen könnte.

Der kleine Mads machte sich in einem Lehnstuhl am Ofen breit, einen Säugling auf dem Arm. Ein andres Kind lag unten auf dem Fußboden und spielte mit einer Garnwinde. Am Ende des Tisches, auf dem die Überreste einer Mahlzeit standen, saß Grethes Mutter im Sonntagsstaat, einen Strickstrumpf in den Händen. Grethe stellte die Kaffeekanne auf den Tisch. Der Kleine griff weinend nach ihrer Brust, die groß und voll von Milch hinter der aufgehakten Kleidertaille hervorschimmerte.

Sie waren ja sehr erstaunt, als sie mich sahen, baten mich aber doch freundlich, Platz zu nehmen, und wir kamen bald in eine lebhafte Plauderei über Altes und Neues dort in der Gegend. Ich fragte dann nach Fräulein Rebekka oder vielmehr Frau Berthelsen, wie sie nun hieß; aber da wurden sie alle auf einmal so sonderbar stumm. Grethe wollte gar nichts sagen, und Mads ging mit den Kindern hinaus, um nach dem Schwein zu sehen.

Endlich sagte die Großmutter, daß es wohl nicht ein solches Glück für die Tochter des Propstes geworden sei, wie es den Anschein gehabt habe. Der Kaplan habe eine gute Pfarre auf Fünen bekommen, und Geld hätten sie ja schon im voraus gehabt; aber er sollte ja so schrecklich geizig sein, und das quälte Fräulein Rebekka, die ja von Hause aus nicht daran gewöhnt sei, den Schilling allzu oft umzudrehen. Und dann sollte er ja auch den Fehler haben, daß er sich nichts aus Kindern machte und fände, daß seine Frau zu viele davon bekäme und zu schnell aufeinander. Sie komme noch immer einmal im Jahr herüber, um sich nach den Gräbern der Eltern umzusehen, und sie habe jedesmal müder und trauriger ausgesehen, meinte die Alte. Grethe widersprach ihr nicht.

Während die Alte erzählte, hatte ich dagesessen und Grethe betrachtet, und von ihr waren meine Augen in der gemütlichen Stube herumgeschweift und ich mußte daran denken, wie der »kleine Mads« sich vor seiner Hochzeit ganz davon überzeugt gefühlt hatte, daß hier nichts fehle, um ein trauliches Heim zu schaffen, obwohl hier gerade das fehlte, was als das Allerwichtigste betrachtet wurde. Hatte er am Ende doch recht gehabt? Auf diesem kleinen Heim, das wahrlich nicht auf gegenseitiger Liebe begründet war, schien ja des Herrn Segen gnadenreicher geruht zu haben als auf den meisten Ehen.

Ich saß lange in stillem Staunen da, während sich sonderbare Gedanken in mir regten.

Als die alte Großmutter einen Augenblick in die Küche hinausgegangen war, konnte ich es nicht lassen, Grethe zu fragen, wie es ihr denn selber ergangen sei. Ob sie wirklich glücklich geworden wäre.

Sie errötete ein wenig und lachte.

»Warum sollt ich nich glücklich sein?« sagte sie.

»Ich meine, Grethe – hast du deinen Mann nun auch auf die rechte Weise liebgewonnen?«

Sie wollte anfänglich nicht antworten. Sie stand in der Ecke, den Rücken mir zugewandt, und sammelte allerlei Kinderkleider zusammen. Dann sagte sie schließlich ein wenig leise:

»Ich glaub, wir haben damals zu viel Wesens davon gemacht – von diesem Liebeskram – und all dem – ich mein, so wie wir davon in den Büchern lasen . . .«

Sie errötete immer mehr und stotterte. Aber nun kam die Alte wieder aus der Küche herein. Sie muß gehört haben, worüber wir redeten. Denn sie trat an mich heran, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte:

»Ich weiß recht gut, Thyssen, daß Sie dazumals auch bös auf mich waren, ebenso wie Propstens. Aber wissen Sie: wir altmodischen Eltern, wir sind noch so von die alte Art. Denn wenn der eine man ein Bursch is und die andre ein Mädchen, denn is wahrhaftig allens da, was dazu gehört, wenn sie man bloß gut und ordentlich einer gegen den andern sein wollen. Und denn kommen da ja Kinder und Krankheiten und all dergleichen und denn ein Leben in Arbeit und in Lust. Ja, ja – lieber Thyssen! – das is, weiß Gott, besser als dieses Gehabe und Getu, was sie Liebe nennen!«

Ich schwieg mißmutig. Ich konnte in dem Augenblick weder ja noch nein sagen. Und noch jetzt schweige ich am liebsten darüber.

 

Ende.

 


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