Henrik Pontoppidan
Aus jungen Tagen
Henrik Pontoppidan

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IX

Ich war früh von dem Fest nach Hause gegangen; aber die Unruhe in meinem Sinn, die Angst um Marthas Schicksal hielt mich wach, und nach Verlauf einer Stunde stand ich wieder auf und kehrte in den Wald zurück.

Der Tag hatte zu dämmern begonnen, über die Wiesen hin zog ein schwacher Rauch, der hier und da an einem alleinstehenden Busch hängen blieb und ihn wie in ein Gespinst einhüllte. Hoch oben unter dem Himmel hingen morgenfrohe Lerchen, und aus dem Walde heraus kamen Krähen in großen Scharen mit schwerem Flug und riefen in ihrer groben Sprache: »Geh weg! Geh weg!« indem sie sich über das Land zerstreuten.

Plötzlich verstummten die frohen Lerchen. Gleich dunklen Punkten sanken sie blitzschnell durch die Luft und verschwanden in den Ackern.

Oben über dem Fluß segelte ein Geier.

Hoch oben, auf den breiten Flügeln hängend, schob er sich ruhig durch die Luft mit einem Zögern, das gleichsam den hungrigen Blick ahnen ließ, mit dem er nach einem Morgenimbiß spähte. In großen Kreisen schwang er sich nach dem Walde hinüber und wieder zurück. Hin und wieder hielt er an und ruhte auf den Flügeln aus, als habe er irgend etwas erblickt. Plötzlich aber erhob er sich mit einem einzigen, kräftigen Flügelschlag – gleich einem Achselzucken – und verschwand in einem mächtigen Bogen über den Waldwipfeln.

Aus dem Gras vernahm man ein kleines Piepsen, dann einer Krähe heiseres »Weg!« – und bald stiegen die Lerchen wieder mit Gesang zu dem rotbewölkten Himmel auf.

Ich entsinne mich dieser Morgenstunde, als hätte ich sie heute erlebt. Aber in meinen Gedanken habe ich sie auch jeden Tag in den vielen Jahren, die jetzt seitdem vergangen sind, wiedererlebt. Nie werde ich sie vergessen können, solange ich mich überhaupt zu entsinnen vermag. Ja, ich glaube, noch in meiner letzten Stunde wird das Bild aus meiner Erinnerung aufsteigen, und der Geier wird vor meinem brechenden Blick schweben, als stummer Vorbote des Todes.

Ich war ungefähr an die Brücke hinabgekommen, als ich drüben auf der Wiese, jenseits des Baches, eine Gestalt erblickte. Es war eine Frauengestalt. Langsam schlich sie da drüben an dem Waldgehege entlang, als grüble sie über etwas nach. Trotz der gebeugten Haltung und obwohl die treibenden Wiesennebel sie mir halb unsichtbar machten, erkannte ich sie doch sogleich an dem roten Haar. Es war Martha.

Ich stand still vor Staunen. Woher kam sie? Und warum kam sie allein? Sie hatte mich nicht gesehen. Ich rief sie an, und im selben Augenblick stand sie still, wie vom Blitz getroffen. Dann sah sie sich verwirrt um. Sie hatte offenbar nicht vernommen, von welcher Seite der Ruf kam. Es währte auch lange, bis sie mich erblickte. Ich bin nicht einmal sicher, daß sie mich erkannte. Aber nun bekam sie auf einmal Eile. Sie lief über den Steg, strauchelte in der Eile und fiel wie ein angeschossener Hase, erhob sich mit Mühe und legte auf eine eigene schlingernde Weise die letzte Strecke bis nach Hause zurück. Ich sah sie sich mit der Hand gegen die Mauer stützen, indem sie um den Giebel herumschlich, um durch die Küchentür hineinzukommen.

Mein Herz war mir in der Brust stehen geblieben. War sie betrunken? Oder hatte sie infolge von Ermattung so geschwankt? Es hatte eigentlich mehr so ausgesehen, als wenn das letztere der Fall sei. Aber war sie denn verfolgt worden? Und in dem Falle von wem? Von Jesper oder von dem Studenten? Sie war ja offenbar ganz außer Fassung gewesen.

Ein Wagen voll lärmender Festteilnehmer kam aus dem Walde herausgerollt. Die Männer schwenkten mit den Hüten und riefen Hurra, indem sie hart an mir vorüberfuhren. Auch ein paar Fußgänger wurden auf dem Waldwege sichtbar. Als sie alle vorübergekommen waren, ging ich über die Brücke nach dem Krug hinauf, fand aber die Türen verschlossen. Ich klopfte auch an das Fenster von Marthas Kammer, aber sie machte nicht auf und antwortete auch nicht. In der Hoffnung, doch ein wenig Klarheit über die Sache zu erlangen, ging ich auf die Wiese hinab, von woher sie gekommen war, um ihren Weg aufzusuchen. Infolge des Taues war ihre Spur leicht zu finden. Sie zog sich gleich zwei dunklen Streifen durch das silberartige Gespinst. Ich konnte sie den ganzen Weg am Waldgehege entlang verfolgen, bis zu einem Ort, wo Torfboden war. Hier verschwand sie in dem braunen Schlamm, und ich mußte meine Nachforschungen einstellen.

Ich war hier an dieser Stelle dem Festplatz so nahe, daß ich deutlich die Musik aus den Tanzzelten hören konnte. Ich ging auch dahin, aber ich sah nichts, weder von Jesper noch von dem Studenten. Die meisten Leute waren weggegangen. Die Sonne war auch schon ein gutes Stück am Himmel heraufgekommen, und so begab ich mich denn selber wieder nach Hause.

Aber schlafen konnte ich noch weniger als vorhin. Ich war so wirr in meinem Kopf und hatte ein solches Fliegen in meinem ganzen Körper, daß ich zu meinem Pulverhorn greifen mußte, ehe ich Schlaf in die Augen bekam. Aber wie ich so dalag und mich in Unruhe und Zweifeln hin und her warf, reifte ein Entschluß in mir, und ich brachte ihn noch am selben Vormittag zur Ausführung. Die Schule war ja mit dem Beginn der Roggenernte geschlossen, so daß ich jetzt den ganzen Tag zu meiner Verfügung hatte.

Ich ging nach Ramsbäk hinüber, wo sich der Student ja bei dem Schuhmacher einquartiert hatte. Ich wollte offen aus dem Herzen heraus mit ihm reden. Ich wollte ihn vor Jesper warnen und ihn bitten, um seiner selbst wie auch um Marthas willen von hier fortzureisen.

Ich traf ihn auch zu Hause; er saß auf dem Grabenrande vor dem Hause und spielte mit einem Marienwürmchen, das er auf einem Grashalm auf und nieder spazieren ließ, um beim lieben Gott um gut Wetter zu bitten. Er erinnere sich meiner sehr wohl von des »kleinen Mads« Hochzeit, sagte er; daß er auch von den Taten meiner Feder wußte, merkte ich, denn er sprach davon, daß ich ja einen bekannten Namen in der Literatur habe, überhaupt war er sehr freundlich und lachte so frei, daß ich gleich erkannte, er könne kein schlechtes Gewissen haben.

Ich will hier die Bemerkung einschieben, daß ich mich damals noch nicht erkühnt hatte, dem Ruf meiner Muse zu folgen, wenn ich auch oft die Versuchung dazu gespürt hatte. Meine eigentliche dichterische Tätigkeit fällt in einen späteren Abschnitt meines Lebens. Aber in der Hoffnung, daß es mir gelingen möge, meinen schlechten ökonomischen Verhältnissen aufzuhelfen und vielleicht Martha behilflich zu sein, eine bessere Heirat zu machen, hatte ich gerade zu der Zeit mit der Herausgabe einer Jägerzeitung »Diana« begonnen, die jedoch leider nach Verlauf von kurzer Zeit auf Grund einer äußerst mangelhaften Anzahl von Abonnenten (nur 34) wieder eingehen mußte. Später versuchte ich es dann mit einer humoristischen Monatsschrift, »Die Kartusche«, womit ich ein wenig mehr Glück hatte.

Ich erklärte dem Studenten nun geradeheraus mein Verhältnis zu Martha und bat ihn, mir zu sagen, wie es im Grunde zwischen ihm und ihr stehe, und wann sie in der verflossenen Nacht zuletzt miteinander gesprochen hatten. Hierauf antwortete er sogleich und mit einer Ehrlichkeit, an der zu zweifeln ich keinen Grund hatte, daß er sie nicht gesehen habe, seit sie von ihrem Bräutigam in das Tanzzelt hineingezogen sei. Der Anblick habe ihn betrübt, sagte er, und so sei er denn nach Hause gegangen.

Ich glaubte ihm aufs Wort. Jesper also hatte Martha ein Leids getan; das hatte ich übrigens die ganze Zeit vermutet. Ich erklärte ihm nun, was für eine Art Charakter Marthas Bräutigam sei, und daß er seines Lebens nicht sicher sein könne, falls ihn Jesper einmal zusammen mit Martha überraschen sollte.

Hierüber erschrak er ganz entsetzlich. Er sprang auf, kreideweiß im Gesicht, und fing an, in der Stube, wo wir saßen, hin und her zu rennen. Er wolle gleich reisen, sagte er ganz von selbst. Er sei wegen der großen Schönheit der Gegend hierhergekommen und dann, weil er gehört habe, daß hier noch so viele alte Erinnerungen im Volke lebten. Er wolle auch nicht leugnen, daß ihn Martha durch ihr eigenartiges Wesen und ihre geheimnisvolle Persönlichkeit in hohem Grade angezogen habe. Aber er hege freilich nicht den Wunsch, sich irgendwelcher Gewalttätigkeit auszusetzen. Er wolle noch am selben Tage abreisen.

Ich sprach ihm meinen Dank dafür aus, und so trennten wir uns.

Um die Dämmerungsstunde kam ich wieder nach dem Waldkrug hinaus. Martha saß im Wohnzimmer auf der Bank unter dem Fenster, den Rücken der Tür zugekehrt, und wandte sich nicht um, als ich hereinkam. Sie blieb sitzen, den Ellbogen auf das Fensterbrett gestemmt, und sah hinaus durch die regenbogenfarbigen Fensterscheiben, durch die ein gelblichroter Abendschein auf ihr Haar hereinströmte und es so rot machte, als sei es mit Blut gefärbt.

Als ich um einen Schluck Kaffee bat, ging sie hinaus, ohne mich anzusehen, und ließ sich nicht wieder blicken, ehe Lars Einauge, Steinhauer Sören und die andern Abendgäste gekommen waren. Ich hatte mich auf das Bankende neben der Türecke für mich allein hingesetzt, auf den Armeleuteplatz, wie man ihn zu nennen pflegte. Hier saß ich immer, wenn ich meinen Kaffee getrunken hatte. Ich wollte nicht, daß man mit Berechtigung sagen könne, daß ich, wenn ich auch im Krug Stammgast war, so wie die andern, auch an deren Branntweingelagen teilnahm.

Ich war ganz entsetzt über Marthas Aussehen, als sie hereinkam. Sie war fahl wie eine Leiche und schwankte so sonderbar umher wie jemand, der eben aus einem tiefen Schlaf erwacht ist. Und dann hatte sie nirgends Ruhe. Jeden Augenblick ging sie in die Küche hinaus oder in ihre Kammer, kam aber gleich darauf wieder herein und setzte sich weit von uns andern und wo es am dunkelsten war. Es war, als scheue sie unsre Gesellschaft und wage doch nicht, allein zu sein.

Ihre Mutter lag an dem Tage wieder im Bett. Man hörte sie sich von Zeit zu Zeit hinter der Lade umdrehen. Auf dem Tisch zwischen den Alten wurde ein Lichtstummel in einem Profit angezündet, und der Schatten von Lars Einauge, der oben an dem Tischende saß, streckte sich ganz bis unter den Deckenbalken hinauf, wenn er seine langen Arme schwenkte. Sie redeten heute abend alle sehr laut. Selbst der schweigsame Steinhauer Sören hatte eine Stimme bekommen. Sie rechneten einander ihre Ausbeute von dem Waldfest vor; und da diese keineswegs den Erwartungen entsprochen hatte, klagten sie die Leiter des Festes an und sprachen davon, einen Prozeß gegen sie anzustrengen. Sie donnerten auf den Tisch und stießen die schrecklichsten Flüche und Schwüre aus; es war häßlich mit anzuhören.

Martha, die beständig aus und ein ging und keine Ruhe finden konnte, setzte sich schließlich neben mich und ergriff auf eine eigenartig schüchterne Weise meine Hand. Ich ließ mir meine Überraschung nicht merken. Ich hatte überhaupt nicht den Mut, sie nach irgend etwas auszufragen; dazu hatte ich eine zu große Scheu, das dunkle Geheimnis kennen zu lernen, das sie mit sich herumtrug. Und doch ahnte ich noch nicht des Geheimnisses ganze Fürchterlichkeit.

Ihre Hand war kalt wie die einer Leiche, und ich konnte es ihrem Atem anmerken, daß es lange her war, seit sie etwas gegessen hatte. Auch überlief sie von Zeit zu Zeit ein Schüttelfrost, als friere sie im Fieber. Ich fragte, ob sie krank sei, aber sie sagte nein und legte im selben Augenblick den Kopf gegen meine Schulter, wie um zu schlafen.

So hatte sie oft als Kind gesessen und des Abends bei mir ausgeruht, wenn sie von dem Geschwätz der Alten müde geworden war. Das war jetzt schon eine Reihe von Jahren her; aber ihr Kopf fand doch gleich seinen alten, sichern Ruheplatz unter meinem langen Bart, und sie fiel auch fast gleich in einen guten Schlummer. Aber das Fieber fuhr fort, sie zu rütteln; und hin und wieder jammerte oder winselte sie im Schlaf wie ein kleiner Hund, der vor einer geschlossenen Tür steht und gern hinein will.

Ich saß da und wartete, daß Jesper kommen würde. Ich sehnte mich danach und fürchtete mich gleichzeitig davor, weil ich wahrscheinlich aus seinem Wesen und Benehmen Martha gegenüber würde erraten können, was zwischen ihnen vorgefallen war. Aber er zeigte sich an dem Abend gar nicht, und zwar aus einem triftigen Grund. Die Alten hatten mehrmals ihre Verwunderung über sein Ausbleiben geäußert; und später wurde es mir klar, daß Martha aus der Stube gegangen war, sobald der Name ihres Bräutigams genannt wurde. Auch im Schlaf lief es wie ein Zucken durch ihren Körper, als einmal sein Name erwähnt ward. Noch ahnte ich jedoch keinen Unrat. Erst als ich am nächsten Tag erfuhr, daß Jesper verschwunden sei und daß ihn niemand seit dem Waldfeste gesehen hatte, da packte es mich mit Entsetzen, daß hier der Teufel seinen Lohn geholt, daß sich hier die Hölle aufgetan hatte, um ihr Opfer zu empfangen.

Ich schloß mich in meine Stube ein und saß da den ganzen Tag, an Seele und Sinn gelähmt. Ich wagte auch nicht, mich vor den Leuten sehen zu lassen, aus Angst, daß ich meine Verzweiflung verraten würde, ja, was das Schlimmste für mich war, nicht einmal zu Martha wagte ich zu gehen in ihrer tiefen Not, weil ich ein Geständnis fürchtete, das es mir zur Gewissenspflicht machte, ihr Ankläger zu werden. Nie hatte ich für möglich gehalten, daß ein Mensch leiden könne, was ich in diesen Tagen litt, ohne den Verstand zu verlieren. Aber Gott verließ mich nicht in meinem Elend und hielt mich aufrecht durch die Kraft seines Geistes.

Währenddes war Jespers Leiche im Walde unter einem Haufen welken Laubes gefunden. Der Kreisarzt wurde geholt, und seine Untersuchung bestätigte, daß Jesper erstickt war. Es saßen ganz deutliche Fingerspuren an seiner Kehle. Ich war mir ganz klar darüber, daß der Verdacht jetzt bald auf Martha gerichtet werden würde. Mehrere Leute hatten sie beim Waldfest zusammen mit dem Studenten gesehen, und es war ja außerdem nur zu bekannt, daß das Verhältnis zwischen ihr und Jesper nie das beste gewesen war.

Am Morgen darauf kam der Hardsvogtsassessor ins Dorf gefahren und kehrte beim Dorfschulzen ein.

Ich konnte mich jetzt nicht länger zu Hause halten, sondern ging nach dem Waldkrug hinaus. Martha war noch nicht aufgestanden, als ich kam; aber ich war gewöhnt, in ihre kleine Kammer neben der Stube zu ihr hineinzugehen und dort mit ihr zu reden.

Sie lag in tiefem Schlaf, als ich hereinkam. Ich mußte sie rütteln, um sie wach zu bekommen. Aber im selben Augenblick, als sie ihr Bewußtsein erlangte, lief es wie ein Schauer durch ihre Glieder. Sie wollte aus dem Bett herausspringen, aber die Kräfte versagten ihr. Schwer fiel sie in die Kissen zurück und wandte sich mit geschlossenen Augen nach der Wand um.

Ich hatte trotzdem Zeit gehabt, in ihrem Blick zu lesen. Und sie in dem meinen. Es ging auch von neuem ein Beben durch ihren schönen, halbnackten Körper. Sie hatte verstanden, daß ich alles wußte.

»Martha, du mußt auf!« sagte ich.

Noch lag sie eine Weile ganz unbeweglich, fahl im Gesicht, mit halbgeöffneten, leblosen Augen und halboffenem Munde, wie eine Leiche. Dann richtete sie sich langsam auf, streckte sich im Sitz und sah mich an. Es fiel kein Wort. Aber als unsre Augen sich begegneten, stand das Geständnis in ihrem großen, starren, von Entsetzen wirren Blick zu lesen.

Ich sank neben dem Bett auf die Knie und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Martha legte den Kopf in ihre Hände und schaukelte sich hin und her unter einem eigentümlich trocknen Weinen oder Flennen, wie ich es weder früher noch später jemals bei einem Menschen gehört habe.

»Warum hast du nicht ein klein wenig Vertrauen zu mir gehabt?« sagte ich. »Dann wäre dies Grauenhafte vielleicht nicht geschehen.«

»Weiß die Sau es?« fragte sie.

Sie war von Kindsbeinen so daran gewöhnt gewesen, dies häßliche Wort von ihrer Mutter zu gebrauchen, daß es auch in einem Augenblick, wie es dieser war, ihr ganz natürlich auf die Zunge kam. Sie dachte sich nichts Böses dabei. Sie sprach es sogar mit einem eigenartig rührenden Tonfall aus. Und es zeigte sich ja auch, daß die Mutter, wenn es darauf ankam, doch diejenige war, an die sie zuerst dachte und die sie am ungernsten betrüben wollte.

Ich sagte ihr, daß die Mutter noch nichts wisse, daß aber Jespers Leiche gefunden, und daß der Hardsvogtsassessor ins Dorf gekommen sei.

»Hu! – hu!« Es klang halb wie das Heulen einer Horneule, halb wie das Weinen eines untröstlichen Kindes.

Dann fragte sie mich nach dem Studenten, und ob ich glaubte, daß der etwas wisse; und nun erzählte ich, daß er abgereist sei und nicht wiederkommen würde. Sie nahm einen Augenblick die Hände vom Gesicht und sah mich an, als wenn sie mir nicht glaube. Aber dann weinte sie von neuem und sagte, jetzt sei es ja auch ganz egal.

Was ich sonst in bezug auf das Ereignis aus ihr herausbekam, war kurzgefaßt folgendes: Auf dem Heimwege vom Waldfest hatte Jesper sie nicht in Frieden lassen wollen. Er hatte sie schließlich niedergeworfen, um seinen Willen zu bekommen, und da hatte denn ein Kampf stattgefunden.

Sonderbarerweise wußte sie selber nicht, wie sie ihn getötet hatte. Sie konnte sich an nichts mehr von der Sache erinnern. Nicht einmal, als sie sah, daß er tot war, verstand sie sofort, daß sie ihm das Leben genommen hatte. Darum hatte sie die Leiche auch erst liegen lassen, ohne sie zu verbergen. Aber hinterher war sie nach der Stelle zurückgegangen und hatte sie mit Laub zugedeckt.

Ich hatte ihr gerade noch gesagt, daß sie, wenn sie gefangengenommen werden sollte, versuchen müsse, sich vor ihren Richtern zu rechtfertigen, indem sie sich strenge an die Wahrheit hielt, als ich Stimmen in der Stube vernahm. Ich erkannte sogleich das kräftige Organ des Hardsvogtsassessors, später auch das des Dorfschulzen.

»Jetzt mußt du aufstehen, Martha!« sagte ich und streichelte ihr tröstend das Haar. »Das ist die Polizei.«

»Hu! – hu!« Sie bohrte ihren Kopf in das Kissen hinein; es schnitt einem ins Herz, das zu sehen.

Ich mußte ihr aus dem Bett heraushelfen. Sie war wie ein hilfloses Kind.

»Sie solln mich nich so sehen!« sagte sie und bat mich, den Riegel vor die Tür zu schieben, damit die Fremden nicht hereinkommen konnten, ehe sie ganz angekleidet war.

Sie zitterte wie Espenlaub. Ich mußte ihr in die Kleider helfen. Zum letztenmal sah ich dies kleine Mädchen, das ich so innig geliebt hatte.

»Jetzt mußt du dich aber ein wenig zusammennehmen,« sagte ich. »Und dann bleib du hier, während ich hineingehe.« Und das waren die letzten Worte, die ich mit ihr gesprochen habe.

Ich war kaum in die Stube hineingekommen, als mir der Assessor, die Mütze auf dem Kopf, entgegenkam und barsch ausrief:

»Sie sind Jens Thyssen, Hilfslehrer in Starup?«

»Ja,« sagte ich überrascht.

Im selben Augenblick legte er seine Hand auf meine Schulter und sagte:

»Sie sind verhaftet!«

Dann wandte er sich an den Dorfschulzen und zeigte auf die Kammertür:

»Dann wird die Dirne auch da drinnen sein. Wollen Sie sie in Verwahrung nehmen!«

Ich will nicht versuchen, meine Gemütsstimmung in diesem Augenblick zu beschreiben, um so weniger, als meine Gedanken sich sehr bald von mir abwendeten. Der Dorfschulze kam nämlich aus der Kammer zurück mit der Nachricht, daß niemand da drinnen sei. Bei einer näheren Untersuchung zeigte es sich, daß das Fenster geöffnet war. Hier hindurch hatte Martha die Flucht ergriffen.

Was dann später geschah, kann ich nur nach den Erzählungen andrer berichten.

Zwei Tage suchten die Leute nach der Flüchtigen im Walde wie auch draußen auf der Heide, aber ohne Ergebnis. Da verlautete es, daß man in einem mehrere Meilen entfernten Dorf ein totenbleiches, barfüßiges junges Mädchen angetroffen hatte, das, ihr langes rotes Haar über dem Rücken aufgelöst und die Hände um die Knie gefaltet, am Wegesrand gesessen hatte. Jedesmal, wenn ein Mann des Wegs gekommen, war sie aufgestanden und hatte ihm mit verstörter Miene forschend in das Gesicht gesehen, so daß mehrere in Angst vor ihr entflohen waren. Gegen Abend war sie zu dem Schmied des Dorfes hineingegangen und hatte mit einem tiefen, verschämten Knicks gefragt, wie weit es noch bis zum Himmelreich sei. Auf alle seine Fragen hatte sie beständig dieselbe Antwort gegeben: sie sei ausgegangen, um ihren Liebsten zu treffen. Er sei Student, und zu Michaeli wollten sie Hochzeit machen.

Der Schmied und seine Frau, die gutherzige Leute waren, fühlten Mitleid mit dem armen Kinde und hatten sich vorläufig ihrer angenommen. Aber in der Nacht war sie durch das Fenster gesprungen, und am nächsten Morgen fand man ihre Leiche in einem Mühlenteich dort in der Nähe.


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