Henrik Pontoppidan
Aus jungen Tagen
Henrik Pontoppidan

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IV

Mit des Krugwirt Krens Tode glitt der einstmals so bekannte Fährkrug ganz in die Vergessenheit hinein. Jahr für Jahr verfiel er mehr und mehr. Ein Wald von Nesseln wuchs um seine alten Mauern und verbarg Schleifstein und Fußriemen; und drinnen, hinter der verschlossenen Tür und den buntversengten Fensterscheiben wohnte Ellen den Rest ihres Lebens als lebendig Begrabene.

Es geschah nämlich, daß, als erst das Unglück dies stolze Mädchen gefangen hatte, es sie nicht wieder frei gab. Einige Monate nach des Vaters Tode gebar sie eine Tochter, die nach ihrer Mutter genannt wurde und den Namen Martha erhielt. Es war eine der schlimmsten Entbindungen, von denen die Wehmutter zu erzählen wußte. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht schwebte sie in den Armen des Todes. Das Leben behielt sie freilich, aber ein paar Tage darauf stieg ihr die Milch zu Kopf und nahm ihr den Verstand. Sie war immer ein wenig schwerfällig im Denken gewesen, und ohne das hätte ihr Verführer auch wohl niemals Gewalt über sie gewonnen, vermute ich. Aber nun wurde sie vollkommen stumpfsinnig, erinnerte sich an nichts mehr von dem, was mit ihr vorgegangen war, und schwankte umher wie in einem beständigen Rausch. Es war ein Jammer zu sehen.

Trotz Propst Hjorts Warnungen und Ermahnungen sah ich noch jedesmal Blut vor meinen Augen, wenn ich an den infamen Juden dachte. Ich würde nicht davor zurückgeschreckt sein, ihm den Garaus zu machen, wenn ich ihm damals gegenübergestanden hätte. Doch der liebe Gott bewahrte mich davor, einen Totschlag auf mein Gewissen zu laden. Jakob ließ sich nämlich nie wieder in unserer Gegend blicken. Er hatte wahrscheinlich von den Drohungen gehört, die ich ganz offen gegen sein Leben ausgestoßen hatte. Aber Gott nahm selbst die Rache in seine Hand. Einige Jahre später wurde Jakob ausgeplündert und von Straßenräubern totgeschlagen bei Vissenborg, drüben auf Fünen, gefunden.

Der Krugwirt Kren war, als er starb, ein armer Mann; er hinterließ nicht mehr an barem Gelde, als daß es gerade zur Beerdigung ausreichte. Aber zum Kruge gehörte ein Stück Land von ungefähr vier Tonnen Äckern und Wiesen, und Ellen hatte gerade noch so viel Verstand behalten, daß sie eine Kuh und ein paar Schafe besorgen konnte, und im übrigen mußten sie und das Kind von dem leben, was noch von der Landstraße für sie abfallen konnte. So war es denn nach jeder Richtung hin ein trauriges Leben, das ihr beschieden war. Es schnitt einem ins Herz, das mit ansehen zu müssen. Und am schlimmsten war es, daß man nicht helfen konnte. Sie hatte die Gewohnheit, erst aus dem Bett aufzufahren, wenn es heller Tag war; und selten kam sie so weit, sich ganz anzuziehen, sie schlumpte in ihrem Unterrock umher, während ihr das Haar ungekämmt über den Rücken hinabhing, immer beschäftigt, ohne jedoch jemals etwas auszurichten. Draußen unter den Leuten ließ sie sich niemals sehen. Jahrelang kam sie nicht über ihre eigene Stubenschwelle hinaus. Infolge dieses vielen Drinnensitzens wurde ihr schon im voraus stark entwickelter Körper fast ebenso unförmig, wie der ihres Vaters gewesen war. Hierzu trug wohl auch der Umstand bei, den ich hier nicht verschweigen will, daß sie ein wenig schnapste.

Der Tag verstrich für sie in der Regel ohne irgendwelche Unterbrechung dieses armen Schattendaseins. Aber regelmäßig um die Sonnenuntergangszeit tauchten ein Paar verkommene Gestalten in der Nähe des Kruges auf und setzten sich um den alten Schenktisch in der Stube. Das waren die letzten Reste von Krugwirt Krens ehemaligen Saufbrüdern, fünf, sechs Wracks dort aus der Gegend, die hier zur Dämmerstunde eine Art Klub abhielten und gemeinsam eine Flasche Branntwein leerten. Da ich mich dort zuweilen selbst zu dieser Zeit einfand, wenn auch freilich zu einem andern Zweck, nämlich um die kleine Martha ein wenig zu beaufsichtigen, so bin ich in der Lage, dies und jenes in bezug auf diese sonderbare Trinkgesellschaft niederzuschreiben:

Da war erstens der alte Jäger Martin, von dem ich nur bemerken will, daß er so abhängig vom Branntwein war wie nur irgendein Mensch, den ich je gekannt habe; was sich auch deutlich zu erkennen gab in seinem verunstalteten Gesicht und namentlich an seiner großen, pickeligen Nase, die einer ungeheuren Himbeere glich. In Wirklichkeit war er jedoch keineswegs ein Trunkenbold, er konnte sich in der Beziehung durchaus nicht mit einem Schnapsbruder, wie es der Krugwirt Kren war, messen. Aber es war ihm ein Lebensbedürfnis geworden, ununterbrochen einen Branntweingeschmack auf der Zunge zu haben. Wenn er nach dem Glas griff, feuchtete er nur gerade die Lippen an; dafür aber geschah das freilich in einem Zwischenraum von wenigen Minuten. Sobald er durch die Verhältnisse zu nur einer halben Stunde Enthaltsamkeit gezwungen wurde, war er krank, und ihn befiel ein Schüttelfrost.

Ich bin mehrere Male mit ihm auf die Krähenjagd gegangen, und da habe ich denn bemerkt, wie er jeden Augenblick eine kleine Flasche verstohlen aus der Tasche zog und sie an den Mund führte. Auch des Nachts soll er die Flasche bei sich gehabt haben. Im übrigen war er ein ordentlicher Mensch und sehr tätig. Er war nach eigener Aussage bisher nur ein einziges Mal krank gewesen und hatte bei der Gelegenheit sogar den Tod durch seine eigene Entschlossenheit zum Narren gehabt. Der Doktor war bei ihm gewesen und hatte gesagt, er könne nicht mehr leben, und in der Nacht hatte er deswegen in Todesangst und Verzagtheit wach gelegen. Da fiel ihm eine Flasche mit Eierkonservierungswasser ein, die er einmal auf einer Auktion gekauft hatte, und nun dachte er, daß, wenn solch Wasser Eier einen ganzen Winter hindurch frisch zu erhalten vermochte, es einem Menschen doch vielleicht auch ein wenig aufhelfen könne. So ließ er sich denn die Flasche bringen und trank die Hälfte davon; und nicht lange nachher brach ein heftiger Schweiß bei ihm aus, der ihm das Leben rettete.

Von den andern festen Abendgästen in Ellens Stub will ich noch Lars Kyndby oder Lars Einauge nennen, wie er genannt zu werden pflegte, seit ihm das eine Auge bei einer Prügelei ausgeschlagen war. Er war ein wahrer Hüne, gichtbrüchig und gebeugt wie er war, denn auch das eine Bein hatte einen Fehler, der ihn zwang, mit der Krücke zu gehen. Aber trotzdem war er immer lustig, und selbst noch als Krüppel war seine Hand gefährlich, wenn der heftige Sinn über ihn kam. Dessenungeachtet war auch er im Grunde ein gutherziger Mensch, den man liebhaben mußte. Einmal, als er ein ganzes Jahr wegen eines Überfalls gesessen hatte, fragte ich ihn, was seine Frau dazu sagte. Da lachte er auf seine grunzende Art und Weise und sagte:

»Das is ganz egal, Laus, sagt sie – wenn bloß das Herz gesund is!«

Ich kann bezeugen, daß dies keine Prahlerei war. Er führte ein glückliches Familienleben, wurde von seiner Frau und seinen Kindern geliebt, von seinen Freunden bewundert und von allen gefürchtet, die ihn nicht kannten.

Die andern Gäste um den Schenktisch waren: der taube Fährmann Anders, der kleine Weber Zacharias und der alte Musikant Franz Mikkelsen. Endlich der schwermütige Steinhauer Sören, der immer »Ach Gott!« sagte, wenn er sich hinsetzte, und »Herr Jesus!« wenn er trank, und aus dessen Munde man nie etwas andres hörte als solche tiefen Herzensseufzer.

In diesen Verhältnissen und unter diesen Menschen wuchs die kleine Martha auf.

Ich hatte dies Kind geliebt, noch ehe es zur Welt gekommen war; ja ich kann wohl sagen, daß es im Verein mit Propst Hjorts kräftiger Ermahnung dies Gefühl war, was mich in meinem großen Liebeskummer aufrecht hielt. Es war dies ein Gefühl, das ich zu Anfang selbst nicht verstand und dessen ich mich oft schämte. Aber es gereichte mir gleichzeitig doch zu großer Freude in meiner Einsamkeit. Etwas in mir forderte Anteil an diesem kleinen lebenden Wesen, dessen richtiger Vater ich ja auch nur durch einen Unglückszufall nicht geworden war.

Wie man verstehen wird, wünschte ich manch liebes Mal, daß ich dies Kind von der kranken Mutter und ihrer Umgebung hätte entfernen können, um ihm ein besseres und lichteres Heim zu schaffen; aber – leider! – meine unsagbare Armut, die der Fluch meines Lebens gewesen ist, machte mich hilflos gegenüber den Gefahren, die drohten. Schließlich bildete ich mir selbst ein, daß keine Gefahr vorhanden sei. Der Selbsterhaltungstrieb veranlaßt uns, vor den Gefahren, die wir doch nicht abzuwehren vermögen, die Augen zu schließen. Besäßen wir Menschen nicht diese Fähigkeit, uns blind oder doch kurzsichtig zu machen, so würde der Gedanke an unsre Lieben, die Angst um ihr Schicksal, rettungslos alle diejenigen niederschlagen, die imstande sind zu lieben.

Martha wuchs als Ebenbild ihres Vaters heran. Sie bekam rotes Haar, ward sommersprossig, schmächtig, hastig in allen ihren Bewegungen und rastlos wie ein Eichhörnchen. Nur die Augen hatte sie von der Mutter geerbt. Sie waren groß, tief und dunkel. Wie sie da hoch oben unter den Brauen lagen, umgeben von langen, hellen Wimpern, erinnerten sie an den See da drinnen im Walde an goldenen Herbsttagen, wenn der Waldkranz seine Schatten in die stillen, dunklen Wasser hinabsenkte.

Als Kind lebte sie, sozusagen, sich selbst überlassen, lief im Walde umher oder saß unten am Bach und fing Stechlinge mit den Händen. Gar manches Mal, wenn die Mutter sie vergessen hatte, konnte ich sie weit von Hause entfernt finden. Alle Tiere im Walde und auf dem Felde waren ihre Spielgefährten. Sie kletterte in die Bäume hinauf, um nach den Vogelnestern zu sehen. Sie wühlte in dem welken Laub nach Mäusen. Und sie war kein empfindsamer Kamerad. Fand sie eine zerquetschte Kröte in einer Wagenspur der Landstraße, so untersuchte sie sie ohne Teilnahme und stieß sie schließlich mit der Schnauze ihres Holzschuhs weg. Wenn ich ihr dann vorhielt, wie unrecht das sei, sah sie mich verständnislos an. Ermahnungen verstand sie überhaupt nicht. Sobald ich sie schalt, ließ sie meine Hand los und ward verstimmt.

Mit dem siebenten Jahr kam sie zur Schule. Der Waldkrug gehörte zum Lihmer Kirchspiel, wodurch sie unter die Obhut meines Feindes, des Herrn Ovesen, kam. Die Kinder der wohlhabenden Bauern hielten sich absichtlich von allem Umgang mit ihr fern; aber auch solche, die ihr in bezug auf die Verhältnisse mehr gleichgestellt waren, verhielten sich scheu und verlegen diesem fremdartigen Kind gegenüber, von dessen Herkunft sie so viel Abenteuerliches hatten erzählen hören, und dessen Wildheit und unberechenbare Einfälle sie daher doppelt beängstigten.

Herr Ovesen kannte, wie alle Leute, meine Liebe zu diesem Kinde und machte sich daher eine Freude daraus, es noch mehr zu quälen und zu demütigen; und dieser Umstand, daß das unschuldige Wesen um meinetwegen Verfolgung erduldete, knüpfte mich nur noch inniger an die Kleine. Im übrigen glaube ich nicht, daß Martha selbst irgendeine Empfindung von Zurücksetzung oder Beeinträchtigung hatte. Jedenfalls merkte man es ihr niemals an. All dergleichen glitt so sonderbar an ihr ab. Es machte überhaupt nur wenig Eindruck auf sie. Trotz ihres unsteten und im Grunde heftigen Gemüts nahm sie alles wie eine Schickung hin und war immer heiter und zufrieden, wenn ich nach beendeter Schulzeit nach dem Waldkrug hinauskam.

Noch klopft mein altes Herz, wenn ich an die Zeit zurückdenke, wo sie mir entgegensprang wie ein junges Zicklein, sobald sie nur meine Schritte auf der Brücke hörte. Hastig entriß sie mir meinen Stock oder meine Flinte, um sie, sobald wir in die Stube gekommen waren, in die Ecke zu stellen. Dann warf sie sich mir auf den Schoß und begann eifrig alle meine Taschen zu durchsuchen, in denen ja in der Regel irgendwo etwas Gutes versteckt war, ein wenig Zuckerwerk, ein paar Backpflaumen oder dergleichen. Ich entsinne mich mit Wehmut der vielen lustigen Stunden, die wir in Vertraulichkeit zusammen verplaudert haben. Ich sehe das untersuchende Lächeln, mit dem sie mich am Bart zupfte, bis sie schließlich ganze Büschel in der Hand behielt; ich höre ihr übermütiges Lachen, wenn sie meine Nasenlöcher mit Erde oder Papier füllte, um mich zum Niesen zu bringen.

In dem Sommer, als Martha dreizehn Jahre alt wurde, war sie schon eine vollständige kleine Jungfrau, auf deren schlanker und geschmeidiger Gestalt die Augen der Männer mit Wohlgefallen ruhten. Mit ihrem roten Mieder und ihren kurzen Hemdärmeln, mit ihrer sonnverbrannten Haut und dem wirren Haar sah sie entzückend aus, trotz der Farbe des Haares und der großen Sommersprossen. Leute, die auf dem Wege vorüberfuhren und sie in der Tür stehen sahen, in ihrer Lieblingsstellung, den einen nackten Fuß in die Höhe gehoben hinter sich, in der Hand ruhend, wandten sich unwillkürlich nach ihr um; und als sie heranwuchs, geschah es immer häufiger, daß Touristen und andere Reisende hier rasteten und sich in die Krugstube setzten, um ein Glas Milch oder eine Tasse Kaffee zu trinken.

Die festen Abendgäste der Mutter waren ihre guten Freunde. Vielleicht war sie gerade mit ihnen am glücklichsten. Ich sah mit Kummer und – ich gestehe es gern ein – mit ein wenig Eifersucht, wie wohl sie sich immer in ihrer Gesellschaft fühlte. Ihre grobe Sprache, ihre Flüche und ihre Zänkereien, ja selbst ihre Trunkenheit und ihre unanständigen Geschichten ergötzten sie, so daß sie ihr etwas gellendes Lachen aus vollem Halse ertönen ließ. Namentlich hatte sie ihre Freundschaft auf Lars Einauge geworfen, dem sie sogar Freiheiten, wie sie zu küssen und zu liebkosen, gestattete. Ich hatte gehofft, daß sich das Verhältnis ändern würde, wenn sie erst erwachsen war; aber es änderte sich auf alle Fälle nicht zum Bessern. Sie konnte einen ganzen langen Winterabend dasitzen und das Geschwätz dieser halbtrunkenen Kerle mit Entzücken anhören. Gemütlich in ihren Binsenstuhl zurückgelehnt, die Fersen auf dem Stuhlsitz und die Finger um die Knie geschlungen, saß sie da mit zwinkernden Augen, die von dem Dampf ihrer Pfeifen entzündet wurden, und mit einem großen, wunderlich starrenden, fast grausamen Lächeln um den blutroten Mund. Am allermeisten ergötzte es sie, wenn auch ihre Mutter sich betrank, was leider immer häufiger vorkam. »Die Sau« nannte sie sie geradeheraus und lachte über alles, was sie in ihrem traurigen Zustand unternahm.

Mit tiefer Betrübnis im Herzen war ich Zeuge all dieser Selbstvernichtung. Ich ahnte, in welches Elend ein solches Leben das Kind führen mußte; aber ich konnte ja auch jetzt nicht helfen.

Als Martha sechzehn Jahre alt war, wurde sie schon verlobt. Lars Einauge, Franz Nikkelsen und die andern alten Saufbrüder des Großvaters hatten sich selbst als eine Vormundschaft dort im Hause eingesetzt und einen Verwandten von Fährmann Anders zu Marthas Bräutigam ausersehen. Es war dies ein Waldarbeiter, Jesper Andersen, ein großer, breiter, stiernackiger Bursche von einigen zwanzig Jahren, der sich in der Umgegend keines guten Leumundes erfreute und wegen seiner klotzigen Gestalt unter dem Namen »die Kruke« bekannt war. Sein Gesicht mit den kleinen, mißtrauischen, überall zugegenen Augen hatte mir niemals gefallen wollen. Er kam jetzt immer häufiger zusammen mit den andern Abendgästen in den Krug, und ich konnte es ihm ansehen, daß er mich haßte. Sicher hatte er erfahren, daß ich nach Kräften den Heiratsplänen entgegenzuarbeiten suchte, sowohl bei Martha selbst wie auch bei der Mutter.

Ich konnte indessen nichts ausrichten. Martha selbst war gleichgültig. Verheiraten müsse sie sich ja doch einmal, sagte sie, und was bedeutete da der Name? Jesper, Peter, Kristian – es war wahrhaftig nicht wert, sich wegen des Unterschiedes aufzuregen, der da vielleicht vorhanden war. Da war ja freilich ein kleiner Müllergesell, der ihr einmal seine Liebe erklärt hatte und dem sie sich vielleicht ganz gern verlobt haben würde. Aber wenn nun die Alten Jesper vorzogen, so konnte sie sich ihnen ja gern fügen. Jesper war außerdem ein tüchtiger Arbeiter, der Brot und Zubrot verdiente. Daß er ein wenig wild und unbändig war, das gefiel ihr im Grunde gut.

Über alles, was ich ihr in bezug auf die Liebe und ihre Heiligkeit vorhielt, lachte sie und fand es »zu komisch«. Überhaupt, je älter sie wurde, um so weniger Gewalt hatte ich über ihr Gemüt und ihre Denkweise, um so mehr entglitt sie meinen Händen – glitt sie in die der andern hinüber. Sie ließ sich allmählich widerstandslos von dem jungen Mann liebkosen, und zwar oft auf eine sehr zudringliche Weise. Zu andern Zeiten spielte sie ihm gegenüber die Spröde, ließ ihn seinen Spottnamen hören und spie ihn an. Kurz, sie benahmen sich mehr und mehr wie ein Paar richtig Verlobte.

Aber dann geschah um die Frühlingszeit etwas, das ihr auf einmal die Augen öffnete. Ich kann im Grunde nichts weiter davon berichten, als was ich seinerzeit aus ihren eigenen ziemlich verwirrten und ganz unfreiwilligen Geständnissen geschlossen habe. Aber ich glaube doch, den richtigen Zusammenhang gefunden zu haben.

Propst Hjort hatte im vorhergehenden Jahr den Kummer gehabt, seine Frau zu verlieren, mit der er trotz allem außerordentlich glücklich gelebt hatte. Die menschliche Schwäche des Propstes störte überhaupt weder den Frieden noch die Ordnung im Pfarrhause. Sein Benehmen der Pröpstin gegenüber war beständig rücksichtsvoll, ja ritterlich. Er ließ sich niemals vor ihr blicken, wenn er berauscht war; und sie ihrerseits ließ sich nichts davon merken, wenn sie von seinen Ausschreitungen gehört hatte. Man darf außerdem nicht vergessen, daß Trunkenheit damals ein sehr allgemeines Laster unter den Geistlichen war und sie in den Augen der Leute nicht der Achtung beraubte. So kann ich zum Beispiel anführen, daß von den andern geistlichen Herren in der Propstei drei ganz dem Trunk ergeben waren. Einer war obendrein anerkanntermaßen verrückt, nämlich Pastor Hassing in Hjerup und Eskelunde. Er machte sich unter anderm ein Vergnügen daraus, die Leute am Abend zu erschrecken, indem er, in ein Bettuch gehüllt, im Dorf umherschlich und Gespenst spielte.

Der Tod der Pröpstin machte den Propst alt. Da er es selber fühlte, entschloß er sich, einen Kaplan zu nehmen. Ein junger Kandidat von den Inseln, namens Berthelsen, erhielt die Stellung. Er war ein gelehrter Mann, aber, was das Äußere betraf, nicht sonderlich bemerkenswert. Eine große, schlanke, ziemlich eckige Gestalt, ein langes, bleiches Gesicht mit dunklem Flaum am Kinn und einer Brille. Er kam um die Fastnachtszeit nach dem Pfarrhof, und schon zu Ostern verlobte er sich mit der zweiundzwanzigjährigen Tochter des Propstes, Fräulein Rebekka. Sie war das Ebenbild des Vaters, groß, blond, herrlich von Gestalt. Ich glaube sicher, sie war eine der begehrenswertesten Frauen, die jütische Erde und Luft und Blut hervorgebracht haben; und – was das Beste dabei war – sie wußte es selber nicht.

Der Propst war nicht gerade sehr entzückt von der Partie. Fräulein Rebekka war sein einziges Kind, und da sie ja nicht ohne Mittel war, hatte er wohl auf eine standesgemäßere Partie für sie gehofft. Pastor Berthelsen war außerdem in religiöser Beziehung aus einer andern Schule als der Propst, was diesen oft erregte. Daß Fräulein Rebekka übrigens selbst zufrieden war, daraus machte sie kein Hehl. Sie war eine stille, nach innen gewandte, sogenannte schwärmerische Natur, und das Liebesglück machte sie noch ernsthafter. Den neuen Sitten der Zeit folgend, bewegte sie sich mit ihrem Verlobten völlig frei in der Umgegend, und es wurde viel über das Verhältnis geredet. In seiner Verliebtheit vergaß das junge Paar nämlich oft, daß sie nicht die einzigen Menschen in der Welt waren. Ganz offen gingen sie, zärtlich umschlungen und in ihre Unterhaltung vertieft, auf der Landstraße. Und wenn sie sich begegneten oder sich trennten, küßten sie einander wie Geschwister, ohne es vor irgend jemand zu verbergen. Ich entsinne mich auch, daß ich sie eines Abends in der Frühlingszeit in einem Boot draußen auf dem Fluß sah. Sie saßen Hand in Hand nebeneinander im Achtersteven. Ganz regungslos saßen sie da und sahen träumend in das Märchenland des Sonnenunterganges hinein, während das Boot von selbst den Strom hinabglitt und Fräulein Rebekkas langer Schleier in der ruhigen Luft hinter ihr drein wogte.

Es gab viele, die über sie lachten, und anfänglich tat Martha es auch. Sie hatte sie ein paarmal auf ihren Spaziergängen gesehen, und einmal waren sie sogar im Waldkrug gewesen, um sich ein Glas Milch geben zu lassen. Martha erzählte mir hinterher ausführlich davon. Erst hatte Fräulein Rebekka getrunken, und als sie dem Kaplan das Glas reichte, hatte der gesagt: »Danke, mein Lieb!« Und dann hatten sie sich auf eine Weise in die Augen gesehen, daß sie hatte aus dem Zimmer gehen müssen, um nicht vor Lachen loszuplatzen.

Ich hatte nun freilich ein Gefühl, als wenn das Lachen nicht ganz natürlich ausgefallen wäre. Wie dem auch sein mag, dieser zärtliche Blick hat ihr jedenfalls hinterher eine Welt des Glückes erschlossen, die von anderer Art war, als wie sie sie bisher gekannt hatte und von der sie ausgeschlossen war. Sie selbst sprach nie davon, und wahrscheinlich ist es ihr erst nach und nach klar geworden. Sicher aber hat die Erinnerung an die beiden Liebenden ihr jedesmal einen Stich ins Herz versetzt, wenn in Zukunft ihr eigener Bräutigam seine plumpen Annäherungsversuche machte. Das Verhältnis zwischen ihr und dem großen Jesper wurde wenigstens nach jener Zeit ein ganz anderes. Es war deutlich zu sehen, daß sie ihn mied. Es kam in seiner Gegenwart etwas Scheues über sie. Sie antwortete ihm spöttisch, und die Reibungen zwischen ihnen nahmen einen immer heftigeren Charakter an.

Eines Abends, als ich ein wenig spät in den Krug kam, saß sie vor der Tür auf der Fliese und starrte vor sich hin, das Kinn in die Hände gestützt. In der Stube war Licht angezündet, und ich konnte schon von weitem hören, daß der Branntwein denen da drinnen zu Kopf gestiegen war. Ich konnte Jesper wie auch Lars Einauge hören; jener hatte offenbar einen seiner großen Tage.

Wahrscheinlich infolge des Gezänks da drinnen hatte mich Martha nicht kommen hören. Ich meinerseits war so überrascht, als ich sie da sitzen sah, namentlich aber über ihren Gesichtsausdruck, daß ich unwillkürlich stehen blieb. Ihre Gedanken waren offenbar weit weg. Der Abendschein fiel gerade auf ihr bleiches Gesicht, das sonderbar zusammengedrückt und gleichsam in schwermütiger Ruhe versteinert war.

Als ich mich von neuem näherte, fuhr sie zusammen und stand hastig auf. Ich rief sie an, aber sie sah mich unwillig an und ging hinein.


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