Henrik Pontoppidan
Aus jungen Tagen
Henrik Pontoppidan

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I

Eine halbe Meile östlich von dem kleinen Bauerndorf, in dem ich die Tage meines Alters in Ruhe mit mir selbst und mit der Welt verlebe, liegt ein eigentümlicher See, den ich in diesen Erinnerungen nicht unerwähnt lassen kann, denn an ihn knüpfen sich die Ereignisse in meinem Leben, die für mein Schicksal entscheidend wurden.

Der See hat seinen Namen von der Gemeinde, die sein westliches Ende umschließt, und wird der Balderöder See genannt. Der emeritierte Propst Hjort von Starup und Lihme, der ein Freund der Natur und obendrein ein wahrhaft poetisches Gemüt in der guten altmodischen Bedeutung des Wortes war, hatte immer etwas auszusetzen an diesem gewöhnlichen Namen, der auch nur schlecht zu dem unbeschreiblichen Liebreiz des Sees paßt. In Erinnerung an einige alte Sagen und Erzählungen, die von der Überlieferung an seine Ufer verlegt worden sind, nannte er ihn den »Nymphensee« oder »Die Nymphenbadekammer«. Aber darauf werde ich noch später in dieser Beschreibung zurückkommen.

Der See hat eine rundliche, ziemlich regelmäßige Form und eine recht beträchtliche Ausdehnung. Wenn man ihn trotzdem nicht sehen kann, ehe man ganz nahe an ihn herangekommen ist, so hat das seinen Grund darin, daß er tief unten zwischen hohen Hügeln liegt und von großen Wäldern umgeben ist, die ihn gleichsam eifersüchtig vor der Umwelt verbergen. Gar manches Mal, wenn ich in Gedanken versunken dort gewandert bin, ist es mir wie ein elektrischer Stoß durch den Körper gegangen, wenn ich plötzlich seine ausgedehnte Fläche zwischen den dunklen Waldmassen vor mir liegen sah. Gegen alle Winde geschützt, ruht er im Schoß des Waldes in süßer, ungestörter Seligkeit, gleich einem träge lächelnden Weibe in den Armen des Geliebten. Alles atmet Stille und tiefsten Frieden. Hier herrscht das Schweigen, das nur den großen Wäldern eigen ist. Ein stummer Vogel hastet hin und wieder über das Wasser, streift es mit seiner Schwinge und verschwindet in der Waldfinsternis drüben auf der andern Seite.

Steht man zu einer späten Nachmittagsstunde an diesem See, wenn die Schatten anfangen, an den Baumstämmen hinaufzukriechen, und das Licht entflieht, so kann sich das empfängliche Gemüt wohl bedrückt fühlen durch die Einsamkeit und die ernsterfüllte Stille des Orts. Es wird einem so eigenartig zumute in diesem mächtigen Grabe, wo nur die Wolken, die über unserm Kopf dahinfliegen, Botschaft bringen von der lebenden Welt da draußen. Das wehmütige Sausen der Laubbäume, das düstere, wilde Sieden der Fichten macht das Herz unruhig pochen. Der säuerliche Geruch des faulen Holzes benimmt uns den Atem; ratlos schweift der Blick bald hierhin, bald dahin, über dies unermeßliche Meer von Blättern, über diese endlosen Waldwellen, die von allen Seiten auf den Abendhimmel zurollen und die Aussicht verschließen.

Während die Sonne noch auf den Höhen weilt und die obersten Laubkuppeln da oben vergoldet, dämmert es schon unten am See. Ein bläulicher Dunst steigt von seinem Rande auf und schwebt gleich wallendem Flor über die Wasserfläche hin. Und jetzt wird plötzlich die Stille von dem häßlichen Schrei der Eule drinnen im Hochwald zerrissen. Die Mäuse sind aus ihren Löchern hervorgekommen und pusseln in dem dürren Laub, während sich ihre beschwingten Namensvettern hoch oben in der Luft in blindem Hexentanz lautlos umhertummeln, den Schwanz nach hinten unter dem ausgebreiteten Rock der Flughaut herausgesteckt wie ein winzig kleiner Besenstiel.

Und dann senkt sich die Nacht herab, und nun beginnt ein sonderbarer Spuk. Tief drinnen aus dem Walde, wo er am dichtesten ist, ertönen klägliche Rufe. »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« schreit eine Stimme in höchster Not. Viele glaubwürdige Leute, die in der Nacht über die Landstraße gekommen sind, dort, wo sie durch den Wald läuft, haben den Ruf vernommen, und zwar immer an derselben Stelle. Andre wollen außerdem Hundegekläff und den Klang von Jagdhörnern gehört haben. Wieder andre haben vermeint, schwache, klagende Kinderstimmen unten vom See her aufzufangen – alles Gespensterstimmen aus jenen entschwundenen Zeiten, als Wegelagerer und geächtete Leute in diesen Wäldern Zuflucht suchten und sich Höhlen unter den Eichen bauten, als stolze Herren und schöne Damen auf weißen Hengsten über die Waldebenen hinsprengten, auf der Jagd nach dem schweißenden Wildschwein, während die barfüßigen Töchter der Dörfer zu diesem stillen Wasser hinabflohen, um in seiner Tiefe die zarten Früchte von den Liebkosungen des gnädigen Herrn zu verbergen.

Aber zu den Zeiten, wo der Vollmond über den See segelt und sein Silber über den Wald ausstreut, geschehen hier noch weit sonderbarere Dinge, die ich der Vollständigkeit halber kurz erwähnen will.

Wenn die Stille der Nacht am tiefsten ist und der Mondschatten gen Norden zeigt, so geschieht es wohl, daß ein Zweig, der über dem Wasser hängt, plötzlich zur Seite gebogen wird und eine Gestalt zum Vorschein kommt – ein Weib, ganz nackt, mit einem leuchtenden Diadem aus Glühwürmchen in ihrem dunklen Haar. Schüchtern neigt sie sich vor und sieht spähend um sich, indem sie den Finger auf den Mund preßt. Wenn alles ruhig ist und sie niemand sieht, wendet sie sich um und macht ein Zeichen mit der Hand; und einen Augenblick später taucht eine ganze Schar von weißen Frauengestalten im Mondlicht auf, alle nackend wie sie und mit Glühwürmchen im Haar.

Es ist die Badezeit der Waldnymphen. Aus jedem Busch wimmeln sie hervor. In wunderschönen Gruppen stehen sie am Ufer und binden das Haar über den hohlen Rücken auf. Vorsichtig und zögernd lassen sie sich dann in das Silberbad gleiten. Eine nach der andern werfen sie sich hinaus auf den schlanken Armen, während der Mond, der alte Wollüstling, sie lächelnd mit seinen Strahlen liebkost.

So lauten die Erzählungen im Munde des Volkes; aber ich schulde es der Wahrheit, zu sagen, daß ich selber nie etwas von dem Beschriebenen gesehen oder gehört habe, obwohl ich diesen Wald besser kenne als vielleicht irgendein andrer. Damit will ich jedoch keineswegs gesagt haben, daß es loses Gerede sein muß, oder daß die Leute, die an ihre Offenbarungen glauben, Gegenstand eines Sinnentruges gewesen sind oder, um es geradeheraus zu sagen, einen Wildschweinsrüssel gehabt haben. Ich überlasse es einem jeden, sich zu verteidigen; ich sage nur, daß sich hier in der Welt derjenige am besten steht, der nicht zuviel sieht.

Und damit genug von diesen Dingen.

Der See hat seinen Abfluß im Osten, wo sich ein Bach mit großer Mühe und förmlich keuchend seinen Weg zwischen Steinen und herabgestürzten Bäumen auf dem Grunde einer tiefen Waldschlucht bahnt. Die Landstraße, die eine Strecke an dem Ufer des Sees dahingelaufen ist, biegt hier wieder in den Wald ein und folgt dem Lauf des Baches mit allen seinen Windungen. Und plötzlich tut sich der Wald auf, und der Blick irrt überrascht über eine große, helle und gutbevölkerte Wiesenlandschaft hin.

Das ist das Lihmer Kirchspiel, durchströmt von der breiten, munter fließenden Lihme, gekannt und geschätzt von allen Hechtfischern in der Gegend. Der kleine Fluß macht gerade an dieser Stelle einen großen Bogen auf den Wald zu, als wolle er sich den Ablauf vom See holen; und hier ist auch die Landstraße mittels einer ansehnlichen Brücke auf vier Pfahljochen über die Lihme hinübergeführt.

Am Waldrande vor dieser Brücke, unter einer Gruppe hoher, rötlicher, halb abgestorbener Fichten, liegt die einzige menschliche Behausung des Waldes. Es ist ein braungeteertes Haus von eigenartig trübseligem und hinfälligem Äußern, mit schiefen Fensterrahmen, farbig versengten Fensterscheiben und einem eingesunkenen Dachrücken. Ein uralter, kahler und verrenkter Holunderbusch wächst von hinten über das Grassodendach, wo er wie eine große, knochige Koboldhand mit gekrümmten Fingern liegt. Es sieht so aus, als wolle er das Haus in die Erde hinabziehen, und als sei es ihm vorläufig gelungen, dem Dach diesen Schaden im Rücken beizubringen.

Es ist ein ehemaliger Fährkrug.

In alten Zeiten, das heißt vor ungefähr dreißig Jahren, führte nämlich keine Brücke über den Fluß. Ein wenig nach Norden zu war eine seichte Stelle, wo das Vieh hinübergehen konnte; aber reisende Leute und Fuhrwerke mußten hinübergeführt werden, jene in einem flachen Kahn, diese auf einem Prahm oder einem Floß, das für Pferd und Wagen Raum hatte.

Wenn die Waldwege fahrbar waren, konnte sich sehr wohl zu beiden Seiten des Flusses ein ganzes Wagenlager versammeln, und zwar aus Fuhrwerken der verschiedensten Art. Da waren die jetzt verschwundenen, haushohen Frachtwagen mit einer Segeltuchwölbung darüber und einer Teerbütte, die unter dem Wagenkorbe hing. Da waren Schlachterkarren und Bauerngefährte und große herrschaftliche Kutschen mit hohem Bock und einem Dienersitz hintenauf. In den niedrigen, eingeräucherten Stuben des Kruges wimmelte es von Leuten. An geschäftigen Tagen mußte man oft eine und gar zwei Stunden warten, ehe man hinüberkommen konnte, und währenddessen blieb manch einer bei einem Geschwätz oder einem Spiel Karten und einem Kaffeepunsch drinnen bei dem alten Krugwirt Kren hängen, bis es vielleicht Nacht und vielleicht wieder Morgen wurde.

Dazumal hatte diese Raststätte einen guten und bekannten Namen über ganz Jütland. Es gab zu jener Zeit von Thy bis nach Hamburg wohl kaum einen reisenden Burschen, der sich im Lihmer Fährkrug nicht einen Rausch angetrunken und die breithüftigen Schenkmädchen befingert hätte.

Namentlich nach den großen Pferdemärkten in Randers und Hjallerup ging es hier lebhaft her, oder auch im Frühling, wenn die Ochsenherden aus dem Norden auf dem Wege nach dem Husumer Markt hier vorüberkamen. Koppeln bis zu zwanzig Pferden – das eine mit einem Strohseil an den Schwanz des andern gebunden – wurden über den Fluß geschwemmt, und Ochsenherden von mehreren hundert Tieren zusammen lagerten sich wohl des Abends unterhalb des Kruges, um dort zu nächtigen. Geschah es dann, daß zu derselben Zeit Krammarkt in einer der Provinzstädte in der Nachbarschaft stattgefunden hatte, so entstand ein Tumult und eine Verwirrung ohnegleichen. Leute und Vieh und Wagen wurden hier zwischen dem Fluß und dem Krug zusammengestaut wie auf einem Marktplatz. Taschenspieler und Bärenführer schlugen ihre Zelte unter den Bäumen auf; Leierkasten und Kinder wimmerten um die Wette; die Ochsen brüllten, und Betrunkene sangen. In den Krugstuben war nicht durchzukommen. In Lammfelle gekleidete Treiber aus Djursland und Talling, Ochsenhändler mit dicken Bäuchen und fetten Nacken, Aufkäufer aus der Marsch und jüdische Roßkämme aus Hamburg und Berlin saßen um die Tische in einem Dampf von Tabak und handelten oder spielten Karten.

Oft, wenn die Köpfe heiß wurden bei diesen Leuten, deren Gehirne wirr waren von dem Trinken und Gelärme vieler Tage, konnte es gar gefährlich werden, hier die Straße zu ziehen. Das geringste verletzende Wort, ein wenig Uneinigkeit bei einem Handel, oder auch nur eine kleine Schäkerei mit dem Mädchen eines andern konnte im Handumdrehen einen Wirbelsturm auf dem ganzen Platz hervorrufen.

Die Pferde bäumten sich vor den Wagen, Knotenstöcke und geballte Fäuste sausten durch die Luft, während Frauenzimmer und Kinder schreiend in den Wald flüchteten.

Ganz verwunderlich ist es, an diese Szenen zu denken, wenn man jetzt dort vorüberkommt und das verlassene Haus sieht, das unheimlich leer vor sich hinstarrt, gleichsam versunken in die Erinnerungen an die Zeit seiner Größe. Nachdem die Brücke vor einem Menschenalter über den Fluß gelegt wurde, verlor es ja auf einmal seine ganze Bedeutung. Solange der alte Krugwirt lebte, machten die Bauern und reisenden Handelsleute freilich noch in der Regel halt, um einen Schluck zu trinken und mit ihm zu schwatzen. Aber nach seiner Zeit begann der Verfall des Hauses.


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