Henrik Pontoppidan
Aus jungen Tagen
Henrik Pontoppidan

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VII

Als ich am nächsten Tag um die Mittagszeit in den Waldkrug hinauskam, lag Ellen noch im Bett. Sie schob die Lade ein wenig beiseite, als sie hörte, daß ich es sei; ich konnte sehen, daß ihre Augen ganz rot vom Schlaf waren. Sie sagte, sie sei krank und klagte über Schmerzen im Magen. Martha war nicht zu Hause. Ich erzählte nun, daß der Propst tot sei, aber dazu sagte sie nichts. Dann fragte ich, wo Martha sei, aber auch darauf antwortete sie mir nicht. Sie fuhr nur fort zu jammern und bat um etwas, was ihr Linderung verschaffen könne. Ich wußte, was sie damit meinte, und tat deswegen anfänglich, als habe ich es nicht gehört. Im übrigen aber glaubte ich gern, daß sie wirklich Schmerzen hatte; und da sie fortfuhr, so demütig zu bitten, und ich gerade mein Pulverhorn in der Tasche hatte, gab ich ihr einen guten Schuß in einem kleinen halben Pegel Branntwein. Das hatte ihr früher für ihre Schmerzen geholfen, und das ist ein Mittel, das ich getrost gegen alle Magenübel empfehlen kann. Als sie es getrunken hatte, sagte sie, sie wolle versuchen, ein wenig zu schlafen. Dann zog sie die Lade wieder vor, und ich hörte sie sich da drinnen unter vielem Stöhnen herumdrehen. Sie war in letzter Zeit so unmäßig fett geworden, daß sie sich kaum mehr rühren konnte. Es war ein Anblick, der einem im Herzen weh tat.

Ich ging hinaus und setzte mich in den Schatten auf die Türfliese, um auf Martha zu warten.

Es war an jenem Tage wieder das herrlichste Sommerwetter. Aber die Sonne blendete mich, und der hundertstimmige Lerchenjubel unter dem Himmel klang mir in den Ohren wie das Läuten der Totenglocken. Ich war noch so sonderbar verwirrt von den Geschehnissen der Nacht und des Vormittags, hauptsächlich wohl, weil ich ahnte, welche Folgen der Tod des Propstes für mich haben würde: daß er auch in meinem Leben einen Abschluß und ein Aufbrechen bedeuten würde.

Ich war am Morgen im Pfarrhause gewesen und hatte meinen hochherzigen Vorgesetzten und Gönner auf seinem Sterbebett gesehen. Er lag dort auf dem weißen Bettuch wie ein Marmorbild, so sicher in seiner tiefen Ruhe. Ich durfte einen kleinen Blumenstrauß auf seine Brust legen, und in meinem Herzen dankte ich ihm für die väterliche Güte und das Verständnis, das er mir armem Menschen in der Zeit meiner Prüfung erwiesen hatte. Noch immer kann ich nicht an ihn denken, ohne daß mir das Herz bewegt wird. Er war ein wahrer Christ, weil er so menschlich war, im Guten wie auch im Bösen. Ehre seinem Gedächtnis!

Auch Fräulein Rebekka hatte ich getroffen. Und wieder mußte ich mich höchlich über sie verwundern. Sie, die im vorhergehenden Jahr als Bild erhabenen Kummers an dem Sarge ihrer Mutter gesessen hatte, war ganz außer sich; sie ging im Wohnzimmer auf und nieder, ja legte schließlich ihre Arme um meinen Hals, um an meiner Brust zu weinen. Nun hatte freilich immer ein ungewöhnlich schönes und zärtliches Verhältnis zwischen dem Propst und seiner Tochter bestanden. Bis sie sich verlobte, hatte Fräulein Rebekka, die doch nicht unwissend in bezug auf die Schwächen ihres Vaters sein konnte, ja vielleicht gerade deswegen, ihm eine nachsichtige Aufopferung gewidmet, die anzusehen gar manches Mal schön gewesen war. Sie war ja auch sein ein und alles, und es hatte sich jetzt gezeigt, daß sie nicht nur viel von seinem Äußern, sondern noch beträchtlich mehr von seinem unruhigen und leidenschaftlichen Sinn geerbt hatte, als die meisten, ja gewiß auch sie selbst, geahnt haben mochten.

Bild an Bild zog das schöne Familienleben im Pfarrhaus an mir vorüber, während ich dort auf dem Stein saß und wartete. Am meisten aber beschäftigten mich den ganzen Tag die Gedanken an meine eigene Zukunft.

Ich wußte, daß meine Feinde, deren feindselige Verdächtigungen die starke Hand des Propstes bisher niedergeschlagen hatte, jetzt allen Ernstes versuchen würden, mir zu Leibe zu kommen. Mein Kollege an der Schule und im Kirchendienst, Herr Ovesen, der mir so lange mißgönnt hatte, was er mit seiner falschen Schmeichelei des Propstes Verliebtheit in mich nannte, würde jetzt Genugtuung erhalten. Ich wußte, daß er und seine mächtigen Freunde in der Gemeinde nicht ruhen würden, ehe sie mich von meiner Schule entfernt und mich mit Schimpf aus der Gegend vertrieben hatten.

Wenn ich mit so großer Sorge daran dachte, so geschah das nicht so sehr der Schande halber oder aus Furcht vor dem Auskommen, obwohl ich, das weiß Gott, schon damals voraussah, welche Not und welch Elend meiner in diesem Falle harren würden. Aber ich konnte es mir gar nicht vorstellen, daß ich mich von Martha trennen sollte. Das Kind war ein Teil meines Lebens geworden. Die Verfolgung und die giftige Verleumdung, die ich mir infolge meines Verhältnisses zu ihr zugezogen hatte, bewirkten nur, daß sie mir noch fester ans Herz gewachsen war.

Ich sah selbst sehr wohl das Unnatürliche in meinem Gefühl ein; aber ich konnte nicht darüber hinwegkommen, daß ich einen Anteil an diesem Kinde hatte, daß sie der Teil von mir werden sollte, der hier auf Erden zurückblieb, wenn ich, wie ich hoffte, bald von hier abgerufen werden würde. Ich hatte nach schwachen Kräften bei jeder Gelegenheit gesucht, ein geistiges Erbe in ihre Brust niederzulegen, das ihr im Leben ein wenig zur Stütze gereichen konnte – ach, niemand wußte besser als ich selber, wie wenig mir dieser Vorsatz bisher geglückt war. Aber auch die Sorge, die sie mir verursachte, knüpfte sie nur noch stärker an mich, und ich konnte nicht lassen zu hoffen. Martha war ja noch so jung. Ihr waren die Augen noch gar nicht aufgegangen für den Ernst des Lebens.

Wie ich so in diese Gedanken versunken dasaß, sah ich sie mit einer Last Brennholz auf dem Rücken aus dem Walde kommen. Sie war tüchtig aufgeschossen in diesem Sommer. Der Rock reichte nicht weit unter die Knie, und die Beine waren nackend. Sie ging langsam und sah jeden Augenblick auf eine eigentümlich interessierte Weise zurück. Einmal ging sie sogar ein Stück seitwärts und machte einen langen Hals hinter einem Baumstamm, um weit auf die Landstraße hinaussehen zu können. Als sie mich entdeckte, überkam sie plötzlich eine größere Eile. Ganz atemlos kam sie gelaufen und schleuderte mit einem Wurf die Last gegen die Mauer. Es war nur ein wenig halbverfaultes Brennholz. Martha überlud sich nie.

»Der Propst ist tot,« sagte ich.

Sie erwiderte nichts. Sie hörte es wohl kaum und sah wieder über die Schulter zurück.

»Bist du jemandem im Walde begegnet?« fragte ich nun.

»Ja, da kam ein Mann.«

»Was für einer?«

»Ich kannt' ihn nich!«

»Hat er mit dir gesprochen?«

»Nein.«

Ich konnte ihr anhören, daß sie nicht die Wahrheit redete, und hielt ihr das vor.

»Worüber hat er mit dir gesprochen?« fragte ich.

»Er fragte mich nach dem Weg zum See hinab.«

»Fragte er nichts weiter?«

»Nein,« sagte sie wieder und fing an, auf eine Weise zu lachen, aus der ich entnehmen konnte, daß sie meine Frage zweideutig aufgefaßt hatte. Leider! So war sie in all ihrer Unschuld! Ihre Phantasie war angesteckt von den unzüchtigen Reden, die sie von Kindsbeinen an hier im Hause hatte anhören müssen. In jedem Wort vermutete sie gleich eine unanständige Anspielung.

»Du solltest nicht zu tief in den Wald hineingehen, Martha,« sagte ich. »Bedenke, du bist jetzt ein erwachsenes Mädchen. Du könntest in Unglück kommen.«

Sie stand einen Augenblick da und sah mit zusammengekniffenen Augen vor sich hin. Es war fast, als liege für sie etwas Verlockendes in der Befürchtung, die ich hier äußerte. Darauf lachte sie wieder ganz ausgelassen und ging hinein.

So sehr es mich gewissermaßen freute, wieder einen Schimmer der alten Lustigkeit in ihrem Gesicht zu sehen, das so lange verfinstert gewesen war, ward ich doch unruhig. In der folgenden Zeit gab ich mit angestrengter Aufmerksamkeit acht auf sie, und es war mir, als könne ich eine Veränderung in ihrem Wesen spüren. Sie hatte sicher irgendein Erlebnis da drinnen im Walde gehabt. Die Schwermut und ihre Schläfrigkeit waren plötzlich wie weggeblasen. Es kam wieder eine eichhörnchenartige Rastlosigkeit über sie. Jeder Schritt draußen auf der Brücke veranlaßte sie zu lauschen, und wenn sie in ihre eigenen Gedanken versunken dasaß, konnte ein sonderbares Lächeln ihren Mund umspielen.

Ich gelobte mir, auf der Hut zu sein.

Mit meinen eigenen Angelegenheiten ging es so, wie ich erwartet hatte. Der Propst war kaum in die Erde gekommen, als ich auch schon merkte, daß meine Feinde überall tätig waren und mit Erfolg an meinem Fall arbeiteten. Auch im Pfarrhof hatten sie jetzt offene Ohren für ihre Verleumdung gefunden. An dem Kaplan hatte ich nie einen Freund gehabt, und nun veränderte auch Fräulein Rebekka plötzlich ihr Wesen mir gegenüber und begegnete mir mit verletzender Kälte. Am Begräbnistage selbst kränkte sie mich, indem sie meinen Kranz zwischen den Abfall an die Erde legte, während Ovesens Spende auf dem Sarge liegen bleiben durfte.

Aber von Kaplan Berthelsen und Fräulein Rebekka will ich jetzt einige kleine Züge mitteilen, die ihr eigenes Verhältnis in ein sehr sonderbares Licht stellen.

Einige Tage nach dem Begräbnis kam ich gegen Abend mit einer Eintragung in das Kirchenbuch nach dem Pfarrhaus. Der Kaplan, der jetzt alle Amtsgeschäfte übernommen hatte, war nicht zugegen. Ich erfuhr in der Küche, daß er und Fräulein Rebekka mit frischen Blumen für das Grab nach dem Friedhof gegangen seien, und als ich eine Weile im Studierzimmer gewartet hatte, ging ich hinaus, um mich nach ihnen umzusehen.

Der Friedhof lag dicht neben dem Pfarrgarten. Eine Pforte führte von hier aus da hinein, und nicht weit davon lagen die Gräber des Propstes und der Pröpstin.

Ich sah die Verlobten dort in einer Umarmung stehen. Ganz regungslos standen sie da, gleichsam versunken in Gebet oder Betrachtung. Fräulein Rebekkas Kopf war an die Schulter des Kaplans gelehnt; in der Hand hielt sie einen welken Kranz. Ich hatte schon früher von der fast krankhaften Ehrfurcht gehört, die sie dem Andenken des Vaters widmete, wie sie mehrmals täglich zusammen mit ihrem Verlobten Andacht draußen am Grabe hielt und es auf das sorgfältigste pflegte und schmückte. Vielleicht hatte sie jetzt, wo er davongegangen war, Gewissensbisse bekommen, weil das Verhältnis zwischen ihnen infolge ihrer Verlobung in der letzten Zeit nicht so gut gewesen war, wie es hätte sein können.

Bisher hatte mich noch keines von beiden gesehen, und da ich sie nicht stören wollte, kehrte ich um und ging still wieder in den Garten hinein. Ich setzte mich in die Jasminlaube, um hier auf ihre Rückkehr zu warten.

Bald darauf kamen sie auch langsam Arm in Arm den Friedhofsweg hinab. In ihrem schwarzen Kleide, dessen Jettbesatz golden in den Strahlen der sinkenden Sonne schimmerte, und mit ihrem schweren, gleichsam belasteten Gang sah Fräulein Rebekka herrlicher, lebensfrischer aus denn je zuvor. Ihr hoher, weißer Hals, der nach der damaligen Mode bis an das Schlüsselbein entblößt war, und das mächtige blonde Haar, das in freien Locken auf die Schultern herabhing, schimmerten über dem Trauergewand in ungeschwächter Kraft und Fülle.

Ich wollte mich gerade erheben, um ihnen entgegenzugehen, als sie stehen blieben. Ohne mich gesehen zu haben, blieben sie hier an der Pforte in zärtlicher Umarmung stehen. Fräulein Rebekka hatte den Arm um den Hals ihres Verlobten gelegt, und seine Hand ruhte unter ihrem Nacken. Ich dachte daran, ob ich mich nicht räuspern sollte, um meine Anwesenheit zu erkennen zu geben. Aber es war zu spät. Ihre Münder waren sich schon in einem langen Kuß begegnet.

Lange standen sie so, eng umschlungen, indem sie sich abwechselnd in die Augen starrten und einander küßten. Und ihre Küsse wurden immer heißer, ihre Liebkosungen so innig, daß ich mich schließlich abwandte, um nicht mehr zu sehen.

Als sie einander endlich freigaben, waren sie ganz bleich. Ich ließ mich deswegen gar nicht blicken, sondern blieb in der Laube, bis sie hineingegangen waren.

Jedesmal, wenn ich seither in das Pfarrhaus kam, hatte ich dieselbe Empfindung, den Verlobten ungelegen zu kommen, die ja nun hier im Hause vollauf dieselbe Ungebundenheit genießen konnten, die sie bis dahin auf langen Spaziergängen und andern Ausflügen hatten suchen müssen. Man kam daher unwillkürlich dazu, mehr an ein junges Ehepaar zu denken, als an ein Paar Verlobte, wenn man sie zusammen sah. Der Kaplan hatte sich in dem Studierzimmer des Propstes ganz heimisch eingerichtet, und die Tür von hier nach dem Vorzimmer stand immer offen, wenn man kam; es war ganz deutlich, daß sie frei zueinander ein und aus gingen. Gerade an dem Abend, den ich vorhin erwähnte, als ich da drinnen im Studierzimmer saß und der Kaplan meine Meldung in das Kirchenbuch eintrug, kam Fräulein Rebekka aus dem Wohnzimmer herein und stellte sich neben ihn. Ganz unbekümmert um meine Gegenwart, ja offenbar ohne daran zu denken, fing sie an, ihn weich über das Haar zu streicheln, während sie mit liebeskranken Augen den Bewegungen seiner Feder folgte.

In all diesem lag etwas, das eine Erinnerung bei mir wachrief. Auch ich war einstmals an einem Sterbebett allein mit derjenigen geblieben, die ich lieb hatte. Auch ich hatte den Liebesdrang schwellen fühlen unter dem Eindruck von dem Grauen des Todes. Daher verstand ich auch sehr wohl dies schmachtende Glück, das Nahrung auf dem Friedhof suchte und von dem Schmerz der Trennung und der Reue des Herzens angeregt wurde.

Bei alledem glaube ich jedoch nicht, daß sie ihre Freiheit mißbrauchten und die Grenze überschritten, die Sitte und Gesetz gezogen haben, wenn sie sich auch sicher so nahe da heranwagten, wie sie nur kommen konnten.

Ganz allein waren sie nun auch nicht im Pfarrhause. Eine Nichte des Propstes, ein halberwachsenes Mädchen, das äußerlich Fräulein Rebekka wie eine jüngere Schwester glich, hatte sich seit dem Begräbnis dort aufgehalten und sollte auch dort bleiben, bis eine ältere weibliche Anverwandte, die erkrankt war, kommen konnte. Aber dies war eine Anordnung, die einzig und allein der Leute wegen getroffen sein mußte, denn eine wirkliche Sicherung für die Ehre des Pfarrhauses konnte dies junge Mädchen ja nicht gewähren. Fräulein Rebekka behandelte sie ganz wie ein Kind, und sie selbst war offenbar blind in ihre Kusine und deren Verlobten verliebt, oder vielmehr, wie ich glaube, in die große Liebe der beiden. Sie errötete bis über die Stirn, sobald der Kaplan ein Wort an sie richtete, und ihr hellblauer Blick schwamm in Glück, wenn ihr Fräulein Rebekka nur die Wange streichelte.

Die alte Tante, die sie ablösen sollte, erschien endlich eines Tages, und sie machte diesem Liebesidyll in Trauer ein jähes Ende. Wahrscheinlich hatte sie eingesehen, welche Gefahren den Verlobten daraus erwachsen konnten; und vielleicht haben diese auch schließlich selbst gefühlt, daß die Versuchung, sich ihrer Leidenschaft ganz hinzugeben, zu stark für sie werden könne. Auf alle Fälle erklärte sich Fräulein Rebekka bereit, fortzureisen, bis das Trauerjahr um war und die Hochzeit stattfinden konnte.


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