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Im Hexenkessel auf französischer Seite

Die Maschinengewehrabteilung, der ich angehörte, rückte nach Verzenay vor. Der Weg führte nach Louvois und weiter aufwärts durch den Wald.

Unterwegs hörten wir ein andauerndes Rollen. Als wir die große Heeresstraße sahen, bemerkten wir unzählige Wagen, die von der Front kamen oder neue Zufuhren hinbrachten.

Auf Bauernwagen und »Madeleines«, den Pariser Autos, die sonst fröhliche Menschen beförderten, fuhren jetzt verwundete und sterbende Krieger.

Als wir in Verzy ankamen, wurde ein Flieger gemeldet. Wir sahen in die Luft, aber ehe man sich über die Gefahr klar wurde, löste sich von dem Flieger ein Bündel, das sich, fallend, vergrößerte. Ein Hagel von Pfeilen kam gerade über uns herunter. Hinter mir und vor mir klirrten die metallenen Spitzen auf das Pflaster. Ein Maultier sprang hoch und brach zusammen. Das Tier war durch einen Hinterschenkel getroffen worden. Der Pfeil ging glatt hindurch. Einem Manne war ein Pfeil durch den Tornister gegangen und hatte den Eßnapf durchschlagen. Verwundet war niemand.

Wir sahen bei dem Flieger Schrapnells platzen und glaubten bestimmt, er müsse getroffen werden, er kam aber nicht herunter. Den getroffenen Maulesel ließen wir bei einem Forsthause zurück.

Das war das erstemal, daß ich in Gefahr kam, von meinen eigenen Landsleuten zu Tode befördert zu werden. Mir war nicht wohl zumute, wenn ich daran dachte.

Das Dorf Verzy war stark zerstört. Die Leute im Dorfe wunderten sich über unser Singen und sagten: »Euch wird das Singen bald vergehen.«

Auf der Höhe standen zwei große Flachbahngeschütze. Es wimmelte hier von Soldaten, besonders von Zuaven und Marokkanern.

Das weite Schlachtfeld lag jetzt vor uns. Ganz links zwischen den Bergen lag Reims. Vor uns breitete sich die Ebene aus, hinter ihr stieg das Land wieder an. Zerschossene Dörfer lagen in der Ebene. Diese Ebene war von hellen Streifen durchzogen; das waren die Schützengräben. Vor uns lag die französische, weiterhin die deutsche Linie. Auch Pinter sah das und stieß mich in großer Erregung an.

Wir sahen die Granaten aufschlagen und zerplatzen. Auch unser Platz Verzy wurde beschossen. Dennoch mußten wir hinein und wurden in einer Champagnerfabrik untergebracht. Da trafen wir alte Kameraden von Bayonne; aber wie sahen die aus! Ein Holländer traf hier seinen Bruder wieder. Van Boers war sein Name.

Obwohl ein dauernder Lärm von einschlagenden Granaten war, mußten wir versuchen, zu schlafen. Es hieß, wir sollten bald in die Schützengräben. Pinter lag neben mir. Wir fragten uns, ob es gelingen würde, gleich hinüber zu kommen, und wußten noch keinen Weg. »Wir müssen nur sehen, daß wir zusammenbleiben«, flüsterte mir Pinter zu.

Es regnete in Strömen. Gegen ein Uhr morgens wurden wir geweckt. Licht durfte nicht gemacht werden. Welch einen schaurigen Eindruck machte das alles! Nur zum Aufzäumen wurde im Stall eine kleine Blendlaterne benutzt. » Qui vive?« (Wer da?) wurden wir überall von versteckten Posten angerufen. Der Leutnant ging an der Spitze, der Sergeant führte und ermahnte uns, vorsichtig aufzutreten, denn es seien Granattrichter in der Straße.

Umgefallene und zerspaltene Bäume sperrten den Weg. Wir erreichten die zweite Linie. Dann kamen wir an den Rhein-Marnekanal. Dort mußten wir die Losung abgeben. Die hieß heute »Paris-Pasteur«. Es war der Name einer Stadt und der Name eines berühmten Mannes mit gleichen Anfangsbuchstaben. Neben uns gingen lautlos Menschen mit Spaten und Planken. In der Ferne sah man Scheinwerfer strahlen. Leuchtgranaten erhellten auf kurze Zeit dies und jenes Gebiet.

Auf der anderen Seite des Kanals war es sehr schwierig, vorwärts zu kommen, und ich bewunderte die treuen Maulesel, die ruhig weiterschritten.

Einmal war ein schrecklicher Geruch: »Der Friedhof von Prunay«, hieß es. Hier wühlten die einschlagenden Granaten die Gräber auf und ließen nicht einmal den Toten Ruhe.

Wir klopften nahe dabei gegen ein Tor und fanden in einem Kellergeschoß die Wache. Nur bis hierher konnten die Maulesel mit und wurden in einem Stall untergebracht. Ein einzelnes Gehöft lag rechts vor dem Kanal. Da war ein Keller, der Sitz des Generalstabes. Der Offizier ging dorthin, um sich weitere Befehle zu holen.

Wir mußten jetzt unsere Tornister ablegen. »Schnell, schnell,« hieß es, »bevor der Morgen kommt.« Ich trug mein Meßgerät und bekam noch eine Munitionskiste zu tragen, und weiter ging es durch das zerschossene Dorf.

Die Giebel der meisten Häuser fehlten; nur Eckpfeiler und leere Fensteröffnungen zeugten von der früheren Form der Gebäude, was einen schrecklichen Eindruck machte.

Hinter den Mauerresten eines Hauses war der Eingang des Laufgrabens, in den wir hineinstiegen. Unten war alles voll Wasser. Der Graben bog hin und her. Ich bewunderte die Arbeit, die die Menschen hier geleistet hatten.

Wir erreichten die ersten Linien. Da wimmelte es wieder von Soldaten, die emsig arbeiteten. Manche standen regungslos an den Schießscharten und spähten hinaus. Andere arbeiteten draußen am Stacheldraht. In der allervordersten Linie stellten wir unsere Maschinengewehre auf. Die Stellungen waren dafür schon vorgearbeitet worden. Verirrte Geschosse schlugen in der Nähe ein.

Als wir schon dachten, wir hätten unsere Gewehre gut eingegraben und könnten irgendwo ausruhen, bekamen wir Befehl, weiter zu marschieren. Der Graben folgte der Landstraße Chalons-sur-Marne – Reims. Mittlerweile wurde es hell. Blaßblaue Wolken lagen über den fernen Höhen. Der Himmel über uns aber war wolkenlos. Bäume und Häuser in der Ferne zeichneten sich scharf ab gegen einen Streifen, der vom Morgenrot durchleuchtet war.

Ich sah mehrmals durch Schießscharten auf das öde Feld, das zwischen den Gräben lag. Ein Wald in unserer Nähe wurde genannt » le bois des Zouaves«, das Zuavengehölz.

Um zehn Uhr begannen die Deutschen mit Artilleriefeuer.

Als wir unsere Maschinengewehre aufgestellt hatten, wurden unsere Tornister nachgeholt. Die Hälfte der Leute stand immer Wache. Patronentaschen durften nicht abgelegt, Schuhe nicht ausgezogen werden. So lagen wir, meist im Unterstand, zwei Tage in der Nähe von Reims. Ich hielt mich ganz an Pinter; wir waren in diesen bangen Tagen unzertrennlich.

Trotz der Kälte war es recht warm in dem Unterstand, weil so viele Menschen dicht beisammen lagen.

In der dritten Nacht hieß es: »Schnell alles aufpacken!« Auf einer der Straßen standen Lastautos, die uns weiterbeförderten. Wir wurden an eine Stelle gebracht, an der ein heftiger Kampf wütete. Hier wurden von allen Seiten unglaubliche Mengen von Truppen zusammengeworfen. Man hörte kein einzelnes Schießen mehr; es war ein fortdauerndes Sausen und Brummen, ein Trommelfeuer. Verwundete begegneten uns.

Jetzt waren wir nichts als willenloses Werkzeug der Befehlsmächte, die uns beherrschten. Der Tod griff bald hier bald dort in unsere Reihen. Wir waren schon abgestumpft gegen die Tatsache, daß dieser und jener von uns getroffen wurde und dann tot oder verwundet war. Wir waren an einer Stelle, wo die deutsche Linie nur 45 Meter entfernt war. Hier wurde mit Handgranaten gekämpft.

Die Gräben waren im Bereich dieser Gefahr sehr einfach angelegt und zum Teil durch das Artilleriefeuer der letzten Tage schon wieder zerstört worden.

Die Franzosen bereiteten einen Angriff vor. Das Dröhnen, Knallen und Krachen aus den Rohren der französischen Artillerie hinter uns war ohrenbetäubend. Ich konnte sehen, wie die Granaten die deutschen Gräben trafen. Ein Regen von Eisen legte die Hindernisse nieder und hüllte die Linien der Gräben in eine Wolke von Rauch und Staub. Pinter stand wieder neben mir und sagte entsetzt: »Da lebt nichts mehr.«

Gegen Morgen hörte das Artilleriefeuer auf, und die Franzosen gingen zum Angriff vor. In langen Kolonnen waren sie in der Nacht herangekommen und quollen nun in ungeheuren Massen über die Gräben hervor. Unsere Stellung lag so, daß wir gegen das Feuer der Deutschen gedeckt waren und seitlich die vorgehenden französischen Truppen beobachten konnten.

Wir dachten, diese Menschenmassen würden jetzt die furchtbare Aufgabe haben, in einem verlassenen Trümmerfeld von Schutt und zerfetzten Menschenleibern neue Gräben zu schaffen, und gewahrten zu unserm Staunen, daß die Hölle vor uns von lebendigen Menschen verteidigt wurde. Aus diesem Feld der Verwüstung knallte und rasselte jetzt ein Maschinengewehrfeuer von wahrhaft vernichtender Stärke. Die anstürmenden Franzosen wurden niedergemäht. Da – da – dort fielen laufende Menschen. Es war unser Glück, daß wir Maschinengewehrschützen im Graben bleiben durften.

Schwerverwundete und viele, die die Waffen weggeworfen hatten, schleppten sich zurück. Ein grauenhaftes Feld, bedeckt mit toten, sterbenden und schreienden Menschen blieb vor uns. Eine zerschossene Kämpferschar füllte unsere Gräben. Wenn die Deutschen jetzt einen Angriff gemacht hätten, wären wir alle gefangen genommen worden. So sehr Pinter und ich das wünschten, zitterten wir doch davor: Wer würde uns glauben, daß nur eine endlose Kette von Gefahren und Schwierigkeiten uns zu dem tollen Wagnis verleitet hatte, uns in die Reihen der Feinde Deutschlands zu stellen, um so die Heimat wieder zu gewinnen? Wir waren in Gefahr, von unseren Landsleuten als Verräter am Vaterland angesehen zu werden, und hofften, als Überläufer, nicht als Gefangene in die Hände der Deutschen zu kommen.

Am Tage hörte das Gefecht auf, und das Stöhnen derer, denen nicht geholfen werden konnte, drang ergreifend an unsere Ohren. Das waren entsetzliche Stunden!

Wir bekamen natürlich kein Essen und mußten unsere eisernen Rationen anbrechen. Zwieback und Büchsenfleisch waren unsere Nahrung. Vier Tage mußten wir hier aushalten. Angriff und Gegenangriff wechselten. Die Franzosen setzten sich an einzelnen Stellen in den deutschen Gräben fest, wurden aber immer wieder durch Gegenangriffe hinausgeworfen.

Wir selbst konnten aus unserem Graben nicht heraus, weil wir fortwährend beschossen wurden. Am vierten Tage hatten wir nichts mehr zu essen und versuchten die Verbindung zu dem nächsten Graben herzustellen. Die ersten, die hinausgesandt wurden, wurden getötet. Die Nächsten kamen endlich zurück. Aber gerade, als die hungrigen Soldaten sich gierig nach dem Essen drängten, geschah etwas Grausiges: Ein Schrapnellschuß schlug zwischen den Leuten ein. Ich stand etwas abseits und fiel hintenüber gegen mein Maschinengewehr. Einer, dem die ganze Wange weggerissen worden war und die Zunge zur Seite heraushing, lief schreiend, wie irrsinnig gegen mich an, und ich wurde mit seinem Blute bespritzt. Einige wälzten sich im Graben. Neben mir lag ein Pole, ein Dolmetscher. Er war tot: Der ganze Unterleib war ihm weggerissen worden. Ich war unverwundet, Pinter hatte eine leichte Wunde am linken Oberarm.

Endlich, in der fünften Nacht wurden wir abgerufen. Wir waren nicht mehr viele und kamen wegen der großen Verluste in eine Ruhestellung. Gekämpft hatten wir gar nicht und waren eigentlich nur Kanonenfutter gewesen. Was kann in solchem Kampf der Sprengmittel und geschleuderten Handgranaten der einzelne tun und lassen? Aushalten, nichts weiter.


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