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Fluchtversuch nach der Schweiz

In Lyon war der Rumäne Pintea zugleich mit mir vorgetreten als einer der Schützen, die alle Bedingungen des Schießens erfüllt hatten. Dieser hochgewachsene Mann war mir schon in Bayonne aufgefallen. Es war etwas an ihm, was mich zu ihm hinzog. Er hatte ein gewisses Ansehen bei den Kameraden. Ich bedauerte, daß er auf der Fahrt nach La Valbonne nicht mit mir in demselben Raum fuhr; in La Valbonne aber suchte ich mir einen Schlafplatz neben ihm aus und versuchte gleich beim Strohholen seine Bekanntschaft zu machen. Mir fiel auf, daß er das Französisch fremdartig betonte, und ich glaubte nicht, daß er ein Rumäne sei, denn in Bayonne war ein Korporal gewesen, der Rumäne war und ein ganz anderes Französisch sprach.

Als ich am ersten Abend mit Pintea an dem eisernen Ofen in unserer Baracke saß, fragte ich ihn nach Rumänien. Er wich aber aus. Das war mir verdächtig, und ich hoffte, in ihm einen Deutschen zu entdecken. Fortan unterhielt ich mich mit ihm mehr als mit anderen Kameraden. Wir hatten einmal gemeinsam Tagesdienst, mußten die Wohnräume reinigen, Brot und Essen holen. Da gab es manche Gelegenheit, unbefangen miteinander zu sprechen, und ich versuchte, von Pintea mehr zu erfahren, ohne ihn merken zu lassen, wer ich sei.

Die Abende in La Valbonne waren sehr gemütlich. Wir sahen um ein Feuer herum und hörten zu, wie die Soldaten der Kolonialinfanterie, die in Tientsin gewesen waren, von den deutschen Truppen erzählten, die sie dort gesehen hätten, und mit denen sie oft Sport getrieben hätten. Es waren erfahrene Weltbummler unter uns, die die Übertreibungen der Zeitungen zurückwiesen und die deutschen Soldaten in Schutz nahmen. Pintea sagte nichts über die Deutschen, aber einmal entspann sich zwischen zwei Kolonialsoldaten ein Streit, wie ausgesprochen würde »altmau«; da ließ sich der angebliche Rumäne Pintea hinreißen, ungeduldig zu sagen: »Das ist ja alles Unsinn, das heißt »Halt's Maul« oder »Halt das Maul«. Ich war in großer Versuchung, das Maul nicht zu halten und mich an diesem Abend mit dem Mann zu verständigen.

In den nächsten Tagen fiel mir auf, daß sich mein Rumäne nicht zum Maschinengewehrschützen machen ließ, obwohl er ein guter Schütze war. Er meldete sich als Munitionsmann ( pourvoyeur). Ich dachte mir, daß er, ebenso wie ich, vermeiden wollte, auf Deutsche zu schießen.

Den nächsten Anhalt für meine Vermutung bekam ich bei einem Sonntagsspaziergang mit Pintea. Es war ein kalter Tag. Von einem Hügel hatten wir einen weiten Überblick. In der Ferne konnten wir etwas sehen, was wie eine Märchenstadt auf dem Kegel eines Berges lag. Wir erfuhren, daß es Pérouge sei, eine altertümliche Stadt in der Art Rothenburgs ob der Tauber, und beschlossen, am nächsten Sonntag dorthin zu wandern. Unser Gespräch war sehr merkwürdig. Wir sprachen natürlich Französisch, und jeder von uns beiden hütete sich, an der Sprache als Deutscher erkannt zu werden. Ich brachte das Gespräch auf ein Buch, aus dem uns am Tage vorher bei der Musterung vorgelesen worden war. Es war »Das rote Buch der deutschen Grausamkeiten« » Le livre rouge des atrocités allemandes en Belgique et en France«, über dieses Buch hatten sich die Kameraden sehr verschieden geäußert. Einige sagten: »Das haben wir doch in Casablanca nicht besser gemacht«, andere: »Das ist ja alles Schwindel«, andere wieder: »Na wartet nur, wenn wir nächstens zu ihnen kommen, werden wir das schon vergelten.«

Pintea sagte: »Du bist doch ein vernünftiger Kerl, solchen Unsinn glaubst du doch nicht.« Er blieb an einem Strauch stehen und fragte mich: »Kennst du diese Früchte?« Ich sagte in der Sprechweise der Soldaten: »Das sind gratte culs«, er aber sagte ganz wichtig, mich belehrend, » ce sont des Hagebutten«. Ich sprach ihm das nach und freute mich innerlich, daß mein Kamerad noch nicht bemerkt hatte, daß ich gut Deutsch konnte. Als wir von der Seefahrt sprachen, hörte ich, daß er Pola, Triest und das Schwarze Meer gut kannte; er vermied aber jedes Gespräch, aus dem ich hätte erfahren können, wie er zur Legion gekommen war. Ich war jetzt schon ziemlich sicher, daß Pintea ein Österreicher sei.

Als wir am nächsten Morgen Maschinengewehre in eine Stellung eingruben, verletzte der Kastilier den Rumänen mit dem Spaten an der Hand. »Verflucht«, rief der, während er die Hand vor Schmerz schüttelte. Solche zufälligen Beobachtungen mehrten sich.

Eines Nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich mir Sorgen machte. Ich ging hinaus und sah nach dem Sternenhimmel. Als mir aber kalt wurde, freute ich mich doch wieder auf meine warmen Decken. Ich tastete im Dunkeln nach meinem Platz zurück und stieß meinen Nachbar aus Versehen an. Er fuhr auf und sagte: »Was ist los?« Als ich antwortete, merkte ich, daß er nur im Schlaf gesprochen hatte.

Jetzt war ich meiner Sache ganz sicher: Deutsch mußte die Muttersprache dieses Mannes sein. Ich konnte stundenlang nicht wieder einschlafen. Ich wollte meinen Nachbar mehrmals wecken, fürchtete aber, daß wir belauscht werden könnten, und verschob mein gewagtes Geständnis bis zum nächsten Tage.

Am nächsten Abend fand sich eine Gelegenheit, mit Pintea allein zu sprechen. Ich sagte auf französisch: »Wann denkst du denn, daß wir zur Front kommen?«

»Ach, das ist mir ganz gleich!« antwortete er.

Jetzt nahm ich ihn am Knopfloch, lachte ihn an und sagte, immer noch auf französisch: »Höre mal, alter Freund, du bist ein Deutscher.«

Er zuckte zusammen und sagt«: »Wie kommst du denn darauf, du Quatschkopf?«

»Ich meinte man bloß.«

»Hör mal, du scheinst deiner Sache ja recht sicher zu sein, aber du bist auch kein waschechter Schweizer, wie kommst du denn zu dem Namen Kirsch, he? Allerdings, ich bin ein Österreicher, und« fuhr er auf deutsch fort, »du brauchst mir nun auch nichts mehr zu erzählen. Ich heiße übrigens Pinter.«

Wir versprachen uns in großer Erregung, daß wir nichts verraten würden, und ich erzählte, daß ich halb gegen meinen Willen in die Legion hineingekommen sei, und daß ich die Absicht hätte, zu entfliehen. Da sagte er: »Also doch.« Er kannte nämlich schon die Geschichte meiner Urlaubsüberschreitung in Bayonne. Jetzt erzählte er mir auch seine ganze Geschichte.

Als er mir gestanden hatte, daß auch er entfliehen wolle, drückten wir uns die Hände. Ich sagte: »Wir machen den Versuch, von hier aus zu fliehen, hier ist Gelegenheit.«

»Maul halten, jetzt wollen wir essen gehen.«

Die Kameraden fragten schon, wo wir hergekommen seien. Vor dem Schlafengehen nahm mich Pinter noch mal am Arm und sagte: »Von hier aus müssen wir es machen; nach der Schweiz.« Wir beschlossen, mit der Bahn nach der Grenze zu fahren, zählten unser Geld und fanden, daß es genüge. Voll Hoffnung schlief ich ein. Ich war glücklich, einen Menschen zu haben, mit dem ich wenigstens in unbemerkten Augenblicken Deutsch sprechen konnte. Am nächsten Morgen, auf dem Wege zum Schießplatz, gab mir Pinter einen Stoß, zeigte auf die Alpen, die im Morgenlicht erglühten, und sagte: »Sieh mal, wie nahe, wie schön! Da müssen wir hin.« Als der Sonntag kam, stiegen wir in den Eilzug Lyon-Genf. Wir lösten Karten nach Meximieux, der Bahnstation von Pérouges. Viele Soldaten fuhren mit uns. In Meximieux aber stiegen wir in den Zug zurück, als wenn wir was vergessen hätten.

Der Zug hatte Durchgangswagen. Wir gingen, um dem Zugführer zu entgehen, von einem Wagen zum andern. »Wenn wir gefaßt werden, stellen wir uns besoffen,« sagte Pinter, »das ist der einzige Ausweg, sonst geht es uns dreckig.« Als der Schaffner zum ersten Male kam, gingen wir hinaus und in den Waschraum. Der Zug hielt auf mehreren Bahnhöfen.

Bald fiel uns auf, daß ein Beamter uns folgte, und als wir ihm nicht entgehen konnten, setzten wir uns in ein leeres Abteil. Mein Freund fing an laut zu brüllen.

Der Schaffner kam und fragte, was mit uns los wäre. Pinter schrie ihn an, er wolle nach Pérouges, er steige in Meximieux aus, und winkte: »Fahrt man zu!« Ich bewunderte die Schauspielkunst meines Freundes. Ich konnte das nicht so gut, brauchte es aber auch nicht, weil Pinter die Aufmerksamkeit ganz auf sich lenkte. Der Schaffner redete mir zu, ich solle meinen Freund mal zur Ruhe bringen, ich sei wohl der Vernünftigere. Auf der nächsten Haltestelle wurden wir unter allgemeiner Heiterkeit der Zuschauer hinausgebracht und bekamen Freikarten nach Meximieux zurück. Bis wir wieder in der Bahn saßen, spielte Pinter die Rolle als betrunkener Soldat weiter. Er legte sich noch während der Abfahrt weit aus dem Wagen hinaus und winkte den Mädels zu. Als wir aber endlich allein waren, sagte er: »Gut, daß die nichts melden, besonders deinetwegen, wo du schon im Verdacht stehst von Bayonne her! Wir kommen hier nicht durch; das dickste Ende stand noch bevor, wir müssen bedenken, daß ein Gebiet kommt, in dem sich kein Soldat aufhalten darf, und da wären wir sicher geschnappt worden. Na, wenigstens haben die Kerls Verständnis für meine Betrunkenheit gehabt.« Darüber mußten wir doch lachen und waren guten Mutes genug, um wenigstens die unterbrochene Wanderfahrt nach Pérouges wieder aufzunehmen. Wir gingen zu der alten Stadt hinauf und bewunderten die Bauten, die aussahen, als wollten sie jeden Tag umfallen. Das Abzeichen der Stadt war ein fliegender Drache. Das »uneinnehmbare Pérouges« hieß es in einer mittelalterlichen Inschrift.

Wir trafen hier zwei Landmädchen, die hübsche Hauben trugen, wie sie zur Tracht der Gegend gehören. Als Soldaten waren wir sehr beliebt und konnten leicht ein Gespräch beginnen. Das eine Mädchen trug Trauerkleider und erzählte, daß ihr Vater schon in dem Kriege gefallen sei. Beide hatten mehrere Brüder im Felde. Wir gingen noch gemeinsam in ein Kaffeehaus, verpaßten deshalb den Zug und kamen zu spät in unserem Standort an.

Als wir uns dem Lager von hinten nähern wollten, um unsere Baracke unbemerkt zu erreichen, hörten wir Lärm von der Straße: » O biondino capriccio, garibaldino« tönte es an unser Ohr, und wir erkannten den Baß unsers Castiliers. Der Schweizer mit der unvermeidlichen Zigarette war mit ihm. Sie standen vor einer Kneipe und wollten sich Eintritt verschaffen, obwohl längst geschlossen war. Sie ließen sich nicht überreden, mit uns zum Lager zu kommen. So kletterten wir allein über den Bahndamm. Am nächsten Morgen hörten wir, daß unsere Kameraden von einer Patrouille aufgegriffen worden waren. Sie bekamen dafür zwei Tage strengen Arrest, sollten ihn aber erst nach der Rückkehr in Lyon verbüßen, da hier zu so etwas keine Zeit war.

Kurz vor der Besichtigung kam von unserer Truppe auch ein Teil, der in dem Standort Lyon nicht Platz hatte, nach La Valbonne. Es waren gerade die Griechen der Legion. Von diesen ist noch einiges zu sagen. Viele Komitatschi hatten sich freiwillig gemeldet. In Lyon erregten sie mit ihren seltsamen Uniformen großes Aufsehen. Sie trugen Schnabelschuhe mit einem schwarzen Quast auf der Spitze, kleine Röckchen mit Bügelfalten und kurze Hosen. Weniger als über die Kleidung wunderte man sich darüber, daß auch Griechen sich zur Fremdenlegion gedrängt hatten; die Franzosen hatten längst die Überzeugung gewonnen, daß die ganze Welt ihnen gegen die »ungerechte Sache Deutschlands« helfe.

Den Griechen waren zur Ausbildung mehrere Soldaten Erster Klasse zugeteilt, die entsetzt schilderten, eine wie ungefügige Gesellschaft das war. Vor allem wollte es den Griechen nicht in den Kopf, daß eine Uniform einheitlich sein müsse. Sie trugen immer wieder ihre alten Kleidungsstücke zu denen der Legionsuniform.

Die einzige Übung, die ihnen lag, war das Heranschleichen bei der Felddienstübung; dabei machten sie sehr viel Theater. Auch einige griechische Offiziere waren da. Ihnen war zugesichert worden, sie sollten ihren Hauptmannsrang behalten; es stellte sich aber heraus, daß ihre militärischen Kenntnisse zu dürftig waren, deshalb wurden sie zu Unterleutnants zurückbefördert. Darüber waren die Griechen sehr empört, und eines Tages erlebte das militärische La Valbonne etwas, was es wohl noch nie gesehen hatte. Die gesamten Griechen zogen in geschlossener Schar zum Bahnhof. Die französischen Sergeanten wußten nicht, was sie machen sollten, und liefen händeringend hinterher. Es blieb nichts anderes übrig, als den Griechen eine Zahl französischer Soldaten entgegenzustellen, die sie auf ihrem Wege mit Gewalt aufhielten.


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