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Tod und Leben.

Der General hatte, als er seine sieges- und hoffnungsfrohen Worte sprach, nicht gesehen, wie die Kulis höhnisch grinsten. Zönlund hatte es aber wohl beobachtet und wechselte mit Kjel einen Blick des Einverständnisses.

»Wir wollen«, fuhr der General fort, »jetzt für einige Zeit die Beobachtungen einstellen und uns zum Essen rüsten. Es ist die Mittagszeit, und wir müssen gerade hier in der Kälte reichlich Nahrung zu uns nehmen, um allen Anstrengungen, die unser vielleicht noch harren, gewachsen zu sein.«

Kjel ging sofort an die Arbeit, während Lady Heresford noch einmal an das Fernrohr trat und den Blick auf den Nordostgrat richtete. Es dauerte nicht lange, und sie hatte den Steigertrupp wieder im Rohrbilde und konnte genau verfolgen, wie die wackeren Männer rüstig aufwärts klommen. Wenn so der Marsch weiter ging, mußten sie noch am selben Tage das ersehnte Ziel erreichen.

Lady Alice stand neben der Freundin. Sie ahnte, was diese immer und immer wieder an das Fernrohr trieb. Martha fühlte wohl für Gerving tief in der Seele jene heiligen Empfindungen, die auch ihr für einen der Herren der Expedition nicht fremd waren. –

Plötzlich schrie Lady Heresford laut auf und hielt sich nur schwankend an der Freundin fest:

»Herr General! Ein entsetzliches Unglück! Lawinen!«

Der General und Zönlund, die noch an der Karte einige Eintragungen gemacht hatten, stürzten entsetzt herbei. Der General sah durch das Fernrohr und rief gleich darauf zu Zönlund:

»Doktor, sehen Sie selbst. Unsere Freunde sind verschüttet!«

Zönlund stellte selbst das Fernrohr ein und sagte dann:

»Ein gräßliches Unglück ist geschehen. An der Stelle, wo unser Trupp war, decken Schneemassen den Grat. Schneestaub wirbelt dicht auf. Von den Männern ist nichts zu sehen!«

In schweigendem Entsetzen standen die Herrschaften da. Plötzlich sprang Kjel auf einen der Kulis los und schlug ihn mit der geballten Rechten in das Gesicht, daß der Mongole heulend vornüber zur Erde fiel, und ihm das Blut aus Mund und Nase schoß. Dann rief der ehrliche Pommer:

»Täuw, du Krott! Di will ick dien Grinsen betolen.«

»Ist keine Hilfe möglich?« fragte nach einigen Minuten sprachlosen Harrens Alice Wildermoore den General. Der General trat mit Zönlund einige Schritte zur Seite und sprach mit diesem lebhaft. Dieser antwortete schnell und sachlich, dann ging Russe zu den Damen zurück und sagte:

»Ich will es versuchen. Treten wir mit Erlaubnis der Damen in das Zelt. Kjel stellt sich an den Eingang und beobachtet die Kulis, soll aber alles hören, was wir besprechen. Wir unterhalten uns norwegisch.«

Im Handumdrehen waren die Befehle ausgeführt. Dann sprach der General: »Wir müssen knapp und schnell handeln. Die Damen sind in der Handhabung der Feuerwaffen geübt. Können wir Sie allein hier mit den 8 Kulis lassen? Denn wir müssen zu dem Rettungsversuch, wie es Dr. Zönlund mir vorgeschlagen hat, und wie ich es allein für möglich halte, Kjel mitnehmen. Wollen Sie es wagen, meine teuren Ladys, allein mit den Mongolen hier zu bleiben und sie in Schach zu halten?«

»Wir sind Engländerinnen, General Russe«, erwiderte Lady Alice stolz und Martha Heresford fuhr eifrig fort, indem sie der Freundin in das Wort fiel, – »und fürchten nicht die Gelben! Vergessen Sie uns! Retten Sie nur unsere Helden!«

»Nun denn,« sprach Russe, »Eile ist das Gebot der Stunde! Dr. Zönlund hat mir einen Rettungsplan vorgeschlagen, den ich für den einzig ausführbaren halte. Er, ich und auch Kjel brechen sofort auf. Da wir außer unserem Proviant keine Lasten tragen, können wir auf Skiern, die wir ja bei uns führen, quer über die Felder auf den Grat zu laufen. Retten wir unsere Freunde, so finden wir in deren Lasten auch Lebensmittel für sie. Unsere Ladys –«

»– werden sich selbst schützen«, sagte Alice stolz.

Sofort legten nun die Herren und Kjel die schon von letzterem bereit gehaltene Hochtouristentracht an und schnallten die Schneeschuhe unter. Auf Rat des Generals steckten die Ladys Revolver in die Gürtel, die sie in Gegenwart der Kulis scharf luden. Ebenso luden sie mehrere Gewehre und gaben auch, wie zum Spiele, einige Schüsse ab. Alle erstaunten, wie wenig laut die Schüsse in der dünnen Luft zu hören waren.

Als die Kulis sahen, wie gut die Ladys mit den Feuerwaffen umzugehen wußten, duckten sie sich nach ihrer Weise ängstlich zusammen, und Kjel rief ihnen noch ein paar kräftige Worte in der Art Tejbirs zu.

Jetzt waren die Rettungsleute fertig. Ein kurzer Abschied von den Damen, und dann marschierten sie ab. Zunächst erstiegen sie einen bedeutenden Hügel, an dessen Fuße das Lager errichtet war, damit es gegen den Sturm etwas geschützt wäre. Da der Schneesturm aber in der vorigen Nacht von Nord kam, hatte der Hügel so gut wie keinen Schutz gewähren können. Jenseits dieses Hügels dehnten sich mächtige Schneefelder aus, und jetzt, nachdem der gewaltige Schneesturm der letzten Nacht heruntergebraust war, war dort eine nicht zu übertreffende Skiföhre zu erwarten. Als Kenner Norwegens hatte Zönlund sofort diesen Vorteil begriffen und dem General diesen Angriffsplan unterbreitet. Sie wollten damit den Bogen über den Paß sparen und hofften in wenigen Stunden die Unglücksstelle auf dem Grate zu erreichen. Dann war die Hoffnung, wenn die Verschütteten, was unbedingt anzunehmen war, sich selbst zu befreien versucht hätten, sie noch zu retten.

Russe hatte dem Vorschlage des Arztes ohne weiteres zugestimmt, da er der einzige war, der einen Erfolg versprach.

Die drei Männer marschierten ab, verfolgt von den Blicken der Ladys. Beide begleiteten sie mit ihren Herzen, denn Martha Heresford hoffte noch auf Gervings Rettung, und Alice Wildermoore sah Zönlund nach. Sie wußte jetzt, was er für ihr Leben bedeutete, und daß sein Dasein ihr eigenes nur erhalten und verschönen konnte. –

Die tapfren Männer hatten den Hügel zur Hälfte erstiegen. Zönlund hatte die Spitze genommen, der General skierte in der Mitte, Kjel schloß.

»Un ick glöv doch,« sagte der treue Mann immer wieder vor sich hin, »dat de jelen Kulis wat mit de Damens utfräten. Na, ick paß Achtung!« Und wo es nur anging, blickte er sich um und sah mit seinen scharfen Seemannsaugen zurück. Noch konnte er ohne Fernglas das Lager gerade sehen, nichts Besonderes schien sich abzuspielen.

Jetzt bogen die Skier um eine Ecke. Da schrie plötzlich, vom Lager war nichts mehr zu sehen, Kjel plötzlich auf:

»Herring! Wie möten toruck! Ick hew Scheeten hürt! Kümmens snell! Ick glöw, de ollen Kulis ha'n unsre Damens öwerfallen!«

Die beiden Herren, die den schwachen Knall der Schüsse in der dünnen Luft nicht gehört hatten, da sie schon höher aufgestiegen waren, als Kjel, kamen sofort zurückgesaust und eilten mit ihm zu der Stelle zurück, von der sie zuletzt einen Blick auf das Lager hatten werfen können. Sofort hatten – es drangen noch immer die schwachen Widerhalle der Schüsse zu ihnen hinauf – sie mit den Ferngläsern einen gräßlichen Anblick vor Augen.

Die Kulis drangen auf die beiden Damen ein, die sich verzweifelnd wehrten. Sie standen mit den Rücken aneinander gelehnt am Eingange des Zeltes, und gaben Schuß auf Schuß aus den Revolvern ab. Zwei von den Mongolen wälzten sich bereits, anscheinend schwer verwundet, am Boden, drei drangen mit Feuerbränden in den Händen auf die Damen ein, drei waren nicht zu sehen.

»Herr General,« rief Zönlund mit vor Entsetzen bebender Stimme, »fahren Sie mit Kjel weiter. Ich rette unsere Ladys!«

»Vorwärts«, rief der General und kehrte sofort mit Kjel, der auf einen Wink Zönlunds folgte, zum weiteren Anstieg auf den letzten Gipfel des Mount Everest zurück.

Zönlund fuhr in rasender Eile hinab zu dem Lager. Im Fahren feuerte er verschiedene Schüsse in die Luft ab, um den Ladys durch den naturgemäß stärker werdenden Knall zu zeigen, daß Hilfe nahe. Wie eisige Krallen packte die Sorge das Herz des sonst so ruhigen Mannes, daß er zu spät käme.

Immer deutlicher wurde das Kampfbild vor seinen Augen. Mit Grausen sah er, wie einer der Kulis an Lady Alice heranschlich und sie mit einem Feuerbrande verwunden wollte. Aber das tapfere Mädchen hatte den heimtückischen Angriffsversuch des feigen Mongolen gesehen und schlug letzteren mit dem umgedrehten Gewehr über den Schädel, daß er zu Boden stürzte. »Der Sieg der Germanin«, dachte Zönlund mit innerlichem Triumphe, während er weiter zu Tale sauste.

Da hatte er plötzlich, schon war er auf etwa 300 Meter dem Lager nahe, schon hörte er das Heulen der Mongolen, das Kreischen der Verwundeten, schon hätte er den Damen zurufen können, wenn die Gesichtsmaske, die er des Sauerstoffapparates wegen tragen mußte, dies nicht verhindert hätte, einen gräßlichen Anblick.

Das Zelt, vor dem die Damen ihre Verteidigungsstellung halten, sank in sich zusammen. Vier Kulis, dieselben Träger, die bis jetzt dem Auge des heranbrausenden Doktors verborgen gewesen waren, hatten offenbar die Zeltleinen durchschnitten und wälzten nun von hinten das Zelttuch über die beiden heldenhaften Mädchen, sie gewissermaßen unter den Falten des schweren Tuches erstickend.

Mit einem Geheul, das nichts Menschliches mehr hatte, stürzten die übrigen noch unverwundeten Kulis ebenfalls auf das zusammenstürzende Zelt zu und suchten die tapferen Damen, vor denen sie gezittert hatten, durch die gewaltige Decke wehrlos zu machen.

Einen Augenblick war es, als ob Zönlund das Blut in seinen Adern erstarrte. Dann aber sauste er weiter den Hang hinab, und nun stand er an einem jähen Absturze, unmittelbar unter ihm befand sich das Lager, befanden sich die herrlichen Mädchen in schwerster Not. Der letzte Plan des Lamapriesters war erfüllt: die Tibetaner halten die Ladys als unschätzbare Pfänder in ihren Händen!

Etwa 60 Meter hoch stand der Doktor über der furchtbaren Szene. Da sprach eine innere Stimme zu ihm: »Telemarkenschwung!«

Und dem Befehle des Herzens folgend, sauste er mit riesigem Schwunge in die gähnende Tiefe.

Das furchtbare Wagnis gelang. Zönlund stand auf seinen Skiern fest auf dem Boden. Einige der Kulis hatten ihn durch die Luft gleichsam fliegen sehen. Erstarrt standen sie da und schauten auf das, was für ihre Sinne als Wunder sich vollzog. Der Doktor brauste auf seinen Schneeschuhen heran. Der nächste der Tibetaner stürzte mit gespaltenem Schädel zur Erde, denn ein Hieb mit dem Eispickel aus der muskelgeübten Rechten Zönlunds hatte ihm für immer das Handwerk zu weiteren Schandtaten gelegt. Wie ein Berserker wütete Zönlund unter den Kulis. Sein Revolver krachte, sein Eispickel schlug zu, und die feigen Mordbuben lagen bald teils tot, teils schwer verwundet auf dem Boden.

Dann warf, um besser arbeiten zu können, Zönlund die Hochtourenausrüstung ab. Alles spielte sich in wenigen Minuten ab. Er sah, daß die Ladys leben mußten, denn unter den Zeltbahnen war lebhafte Bewegung.

Und bald war sein Befreiungswerk gelungen!

Er bekam an einer Stelle – nach Abwerfen des Sauerstoffapparates konnte er ja wieder rufen, und hatte wiederholt den Damen zugeschrien, sie möchten nur kurze Zeit noch sich gedulden, die Befreiung sei da, – eine Schicht der Zeltbahnen, die nur einfach, also verhältnismäßig leicht war, in die Hand. Diese Stelle konnte er heben und mit seinem Eispickel und dem Skierstab stützen, so daß eine Art von Tunnel entstand, und aus ihm stiegen die beiden Heldinnen wieder an das Tageslicht.

Zuerst kam Martha Heresford, die ihrem Retter nur stumm die Hand reichte. Dann aber stürmte Lady Alice heraus. Sie fiel, vor Freude lachend und weinend, Zönlund um den Hals und rief:

»Mein Retter! Mein Freund! Mein Gefährte für das Leben!«

Und Zönlund preßte die schöne, schlanke Engländerin an sich und rief: »Aus Not und Tod habe ich dich mir erobert! Du bist mein!« Innig umschlungen standen die beiden schönen Menschen da. Lady Alice wurde nicht müde, in das feine, durchgeistigte Gesicht ihres Verlobten zu sehen, sein schönes, volles Haar, das von den Anstrengungen triefte, zu streicheln und sogar seine Hände küßte sie. Als er, bewundernd in ihr Athenegesicht mit den prachtvollen, braunen Augen, die von Glück und Lebensfreude strahlten, sah und dies abwehrte, sprach sie: »Deine feinen Gelehrtenhände sind die eines Kriegers. Sie muß ich küssen!«

Und nun sahen sich beide plötzlich erstaunt an, denn die Worte, mit denen sie sich fanden, hatten sie deutsch gesprochen. Einen kurzen Augenblick schwiegen beide, wie erstarrt. Zuerst faßte sich Zönlund und sagte:

»Alice! Ein Wunder! – Doch davon später. Sieh, dorthin!«

Er wies auf Martha Heresford. Starr und stumm wie ein Marmorbild stand das schöne Mädchen und sah in die Ferne. Sie hatte, während die beiden Glücklichen mitten in Schnee und Eis und in den ungeheuren Wüsten des Hochgebirges, nahe dem Tode alles vergessen hatten und nur das blühende, herrliche Leben fühlten, während für sie die Gletscherwelt zum Paradiese wurde, das Fernrohr wieder eingestellt und suchte die Stelle, wo sie selbst vor wenigen Stunden gesehen hatte, wie der Sturmtrupp im Lawinentreiben verschüttet wurde, und wohl der Mensch den Tod fand, der ihrem Herzen so nahe stand, wie Zönlund Alice, Gerving.

Sie hatte die Stelle gefunden. Alles war noch unverändert! Was war geschehen?

Und doch regte in ihrem Herzen sich noch die Hoffnung. Konnte nicht auch hier ein Wunder geschehen, wie bei der Freundin und Zönlund? »Es hofft der Mensch, so lang' er strebt.«

Zönlund trat zu ihr und suchte nach Worten der Ermunterung und Ermutigung. Er erzählte kurz, daß Russe und Kjel weiter vorgedrungen seien, während er umgekehrt sei, als sie vom Marsche aus gesehen hätten, was im Lager vorginge.

»Dann werden die Tibetaner auch dort oben den Lawinensturz veranlaßt haben, wie es der Plan im Grottentempel war«, sagte Martha tonlos.

Zönlund zuckte die Achseln. Dann sagte er:

»Die Ladys wollen mich entschuldigen. Ich muß nach den verwundeten Kulis sehen. Ich bin Arzt und – sie sind Menschen!«

»Und du bist ein Deutscher«, sagte Alice, »daran erkenne ich den Deutschen! Und ich helfe dir! Martha«, fuhr sie englisch fort, denn sie hatte zu ihrem Verlobten zur Verwunderung der Freundin deutsch gesprochen, »bleibe am Fernrohr. Sobald du etwas Besonderes siehst, rufe uns. Ich muß dem Doktor helfen, weißt du noch, wie in der Biscaja?«

Wenige Minuten darauf hatte Zönlund aus den Lasten die herausgesucht, welche die ärztlichen Instrumente, Verband- und sonstige Hilfsmittel enthielten. Von den acht Kulis, die den Angriff auf die Ladys gewagt hatten, waren drei tot. Der eine war dem Hiebe des Doktors, zwei den Kugeln seines schweren Revolvers erlegen. Die anderen fünf waren mehr oder weniger schwer verwundet. Die sportgewohnten Engländerinnen hatten sich wahrhaft heldenmäßig verteidigt. Der Kuli, den Alice mit dem Gewehrkolben über den Schädel geschlagen hatte, war noch verhältnismäßig am besten weggekommen. Er war nur betäubt gewesen und kam jetzt schon zum Bewußtsein. Um jede Untat des Mannes zu verhüten, fesselte ihn Zönlund mit starken Zeltleinen an Händen und Füßen. Den übrigen Leuten legte er sachgemäße Verbände an. Wie es bei derartigen Leuten üblich und bekannt ist, – unsere deutschen Ärzte haben dies zu Anfang des Weltkrieges bei manchen Gefangenen oft erlebt, – schrien und zeterten die Kulis entsetzlich, wenn ihnen Zönlund mit seinen Instrumenten nahte. Sie glaubten, nun sei ihr letztes Stündlein gekommen, und ein martervoller Tod stünde ihnen bevor. Um so mehr erstaunten sie, als milde, linde, sanfte Hände ihre Wunden versorgten, und stärkender Trunk von feiner Damenhand ihnen gereicht wurde.

Aus den schiefgeschlitzten Augen der Mongolen flog mancher Dankesblick zu dem Arzte und seiner Helferin auf, und, wie so oft, senkte die Wissenschaft Keime in unberührte, träge Herzen, die einst aufgehen sollten und sprießen, auf daß aus ihnen erwachse der weltüberschattende Baum der Menschenliebe. –

Die Stunden vergingen, der Abend nahte. Zönlund hatte die Opfer des Kampfes versorgt. Lady Alice sorgte für alle, auch für die Kranken, für Essen. Ab und zu warf sie einen Blick unaussprechlichen Glückes auf den Arzt, der jetzt wieder als Pionier arbeitete. Lady Heresford hatte ihre Beobachtungen einstellen müssen, da die nahende Dunkelheit von selbst dies verbot.

Sie hatte nichts erspähen können. Stumm, wie ein seelenloses Wesen ging sie der Freundin bei der Bereitung des Essens zur Hand. Dann half sie ihr, die Verwundeten zu speisen, und dem Gefesselten reichte sie selbst die Nahrung.

Zönlund war unterdessen geschäftig tätig. Der Mann mußte Nerven wie Stahldraht haben, denn rastlos war er beschäftigt. Es war wohl der Goldquell des Glückes, der ihn durchströmte, seit er wußte, daß sein heißes Empfinden von Lady Alice erwidert wurde. Nur eins beschäftigte ihn immer wieder als Rätsel: »woher konnte seine Verlobte deutsch und wie hatte sie ihn als Deutschen erkannt?« Doch all diese Gedanken mußten jetzt zurücktreten, denn er mußte für die Nacht für ein Unterkommen für die Damen und für seine Kranken, denn das waren die Kulis jetzt, sorgen.

So baute er zunächst aus dem größeren, zusammengerissenen Zelte ein kleines für die Damen. Sein Eispickel und Skierstock dienten als Zeltstäbe. Die Schlafsäcke wurden hineingeschafft, so war für die Ladys gesorgt. Aus den übrigen Zeltbahnen schuf er eine große Decke für die Verwundeten, die eng aneinander krochen. Den Gefesselten trug er selbst dorthin, verstärkte aber seine Bande noch erheblich.

Dann aß er zu Abend. Lady Alice kredenzte ihm freudestrahlend den Tee und reichte ihm die Büchse mit Konserven. Beider Augen begegneten sich immer wieder und wieder mit Blicken innigsten Glückes. Nur fiel in ihren Freudenbecher, wie es stets auf Erden ist, ein Tropfen Wermut: Martha Heresfords Trauer. Beide fühlten, wie des armen Mädchens Herz zerrissen sein mußte. Gerade sie, die Glücklichen, verstanden dies vollkommen. –

Das Wetter war ruhig. Die Kälte hatte nachgelassen, hie und da blinkte der Mond durch die dünnen Wolkenschichten.

Die Ladys hatten sich in das kleine Zelt zurückgezogen, die Verwundeten schliefen. Zönlund hatte noch jedem ein schmerzstillendes und damit beruhigendes und schlafbringendes Mittel eingegeben.

Das kleine Lager war ruhig. Zönlund hatte aus den Trümmern der Stangen des großen Zeltes und aus einem von ihm zerschlagenen Klapptisch und zwei Feldstühlen gegen Mitternacht ein Feuer entzündet. Er ging daran auf und ab, und die Gedanken kamen und gingen.

Lebten Russe und Kjel noch? War es ihnen gelungen, Kallory, Gerving und den treuen Gurkha, ja, vielleicht auch die Kulis zu retten? Und dabei durchbrauste ihn immer wieder und wieder der Frühlingssturm seligen Empfindens, daß Alice nun die Seine würde, für die sein Herz schlug seit der Nacht im unterirdischen Felsentempel. –

Die Stunden der Nacht flossen eine nach der anderen als Tropfen in das Meer der Ewigkeit. Die Sterne wandelten, schon neigte der Himmelswagen die Deichsel. Das erste Frühlicht kam im Dämmerscheine, Zönlunds Feuer war im Erlöschen.

Da hörte er Rufe, nicht weit von sich. Es war Kjel, der schrie: »Herring, schürens dat Füer! Der Herr General un ick finn'n süst nicht!«

Wie von einem elektrischen Schlage getroffen fuhr Zönlund zusammen. Er schürte das Feuer, so gut er konnte.

Wenige Minuten danach standen Russe und Kjel bei ihm.

»Der Riese hat uns besiegt«, sagte Russe. »Unsere Freunde liegen unter Schnee nicht nur, nein, auch unter Felsschutt und Geröll. Die Verschwörung hat das Ihre getan. Aber, unsere Regierung wird die Rache finden!«

»Un min oll Tejbir is ok dot«, flüsterte Kjel traurig.

»Meine besten Leute, Kallory und Gerving, sind nicht mehr«, sprach der General mit zitternder Stimme. Und der eisenfeste Mann konnte die Rührung nicht unterdrücken, und Tränen liefen aus seinen Löwenaugen. –

Zönlund sorgte für Nahrung für beide und erzählte dann, wie er im Lager aufgeräumt hatte. »Die Ladys sind gerettet«, so schloß er seinen bescheidenen Bericht.

Der General schüttelte ihm die Hand und sprach:

»Das wird Ihnen England gedenken!«

Still saßen die drei Männer. Ab und zu stand Zönlund auf und sah nach den Verwundeten. Da, es war Morgen geworden, knirschte der Schnee unter den Tritten eines Mannes, der näher und näher kam.

Noch war er im Morgendämmern kaum zu unterscheiden. Da rief Kjel: »Tejbir!« Und gleich darauf stand der Riese vor dem General. Er hielt sich nur mühsam aufrecht, dann meldete er: »Als einziger vom Sturmtrupp zurück. Ich marschierte als letzter. Alles ging gut. Die Nacht verbrachten wir in einer Eisgrotte, so daß wir alle frisch zum Marsch waren. Auch die Kulis waren wackere, ehrliche Leute. Ich marschierte hinter ihnen und konnte sie wohl beobachten. Rüstig kamen wir vorwärts. Der Sieg mußte unser werden. Da hörte ich plötzlich über uns tibetanische Flüche, und gleich daraus stürzte eine Lawine auf uns. Ich, als letzter, war nur unter Schnee begraben, und es gelang mir, nach schwersten Anstrengungen, mich frei zu machen. Etwa eine Stunde habe ich gebraucht, um mich herauszuarbeiten. Sofort eilte ich dahin, wo ich die Spitze des Zuges vermutete, wo also die Herren Kallory und Gerving verschüttet sein mußten. Hier war alle Mühe vergebens, denn« – dem starken, riesigen Manne drohte die Stimme zu versagen – »Steinmassen waren mit dem Schnee herabgestürzt. Ich gab mir die größte Mühe, die Herren zu retten, Herr General,« und dabei stürzte der gewaltige Mann mit dem treuen Herzen in die Knie und umklammerte wie ein Kind die Hüften seines Vorgesetzten, »Herr Kallory und Gerving sind tot!«

Ein furchtbarer Aufschrei ertönte, als der Gurkha diese Worte sprach. Die Damen hatten das Sprechen gehört und waren aus dem Zelte getreten, dem die Herren den Rücken zudrehten. So hatte Martha Heresford die Schmerzenskunde von Gervings Tode unvermittelt vernommen. Das ruhige, tapfre Mädchen, das den Kampf gegen die Natur, die Bestie des Dschungels und gegen die meuternden Kulis mutig durchgefochten hatte, brach zusammen, als der Tod des Mannes, der in ihrem Herzen lebte, als wahr dastand. Sie schrie auf und stürzte dann zu Boden, sofort betreut von Zönlund und Alice Wildermoore.

»Wo kommen Sie her,« fragte Russe den Gurkha, der inzwischen auf seinen Wink die schwere Hochtourenrüstung abgelegt und Platz genommen hatte.

»Ich kam auf dem Wege, auf dem wir gingen. Helfen konnte ich dort doch nicht mehr. So wollte ich warnen und vielleicht die Ladys retten. Ich bin ohne Pause gelaufen!«

»Sie sind ein braver Mann. Unsere Regierung wird Sie und Kjel nicht vergessen«, entgegnete Russe.

Plötzlich hörte man Pferdegetrappel, das schnell näher kam. Es war nun völlig Tag geworden, und mit Erstaunen sah Russe, wie der Dschongpen von Tingri auf einem der kleinen Bergpferde vor ihm hielt. Der Beamte war in kostbar goldgestickte, blauseidene Gewänder gekleidet. Er sprang vom Pferde, kniete vor Russe nieder und sprach händeringend mit jammernder Stimme:

»Mein Gebieter! Vor drei Tagen sind die Kulis entflohen!«

»Und das meldet der Schuft jetzt, Herr General«, brüllte Tejbir. »Diese Kerle haben unseren Sturmtrupp vernichtet! Und du Bestie hast darum gewußt! Da, nimm das!« Mit seiner Riesenfaust schlug er den Mongolen auf den rasierten Schädel, und tot stürzte der Verräter zur Erde.

»Sie haben vorschnell gehandelt, Unteroffizier Tejbir, aber Sie taten recht!« sagte Russe ernst.

Die nächsten Stunden vergingen in stiller Tätigkeit, nachdem die überanstrengten Menschen geruht und sich an Speise und Trank gestärkt hatten. Über allen lag der furchtbare Ernst der Lage.

Die leichter verwundeten Kulis mußten die Toten begraben, dann brach man auf. Die Lasten sollten liegen bleiben und erst mit den nötigen Trägern von Tingri aus unter Tejbirs und Kjels Leitung abgeholt werden.

Den Gefallenen ließ der General aus Felsblöcken einen Denkstein errichten. Jeder half dabei mit, auch die Damen. Den letzten Stein fügte Martha für Gerving ein und sprach dabei feierlich:

»Ruhe in Frieden! Mein Leben gehört nur noch dem Andenken an dich und der Krönung des Werkes, das du fast vollendetest!«

Alice und Zönlund hatten eine lange Unterredung, wobei die Lady dem Verlobten erzählte, daß ihre Großmutter eine Hamburgerin gewesen sei. Dadurch habe sie deutsch und plattdeutsch gelernt und habe wiederholt zufällig verstanden, was er und Kjel gesprochen hätten. »Übrigens,« schloß sie, »ich hätte an deinem Wissen und an deinem Wesen dich auch so als Deutschen erkannt. Solche Träumer und dabei wahre Männer gibt es nur im Lande Goethes.«

Der General hatte inzwischen den gefesselten Kuli vor sich führen lassen.

»Ihr habt alle den Strick verdient«, sagte er zu dem zitternden Mongolen. »Ich will sehen, was ich für euch noch tun kann. Du sorgst hier für die Verwundeten. Proviant ist vorhanden. Ich lasse euch alle abholen. Habt ihr euch bis dahin – Unteroffizier Tejbir wird sich davon überzeugen – gut benommen, so schenke ich euch das Leben. Die leicht an den Armen Verwundeten, die Dr. Zönlund bestimmt hat, marschieren mit uns!«

Der Gurkha donnerte den Mongolen noch einige Befehle und Drohungen zu, dann war auch das erledigt.

Und nun traten vor den General Alice und Zönlund als Brautpaar, und letzterer gab sich als Deutscher zu erkennen. Er erzählte ihm, daß die toten Freunde ihn für einen Norweger gehalten hätten, und daß er zunächst die Expedition mitgemacht habe, um der deutschen Sache zu dienen. Immer mehr habe er gesehen, welch ungeheure Güter der Zivilisation auf dem Spiele stünden. Da habe er sich ganz der Sache gewidmet und habe ihr zu dienen gesucht, so gut er konnte. Freilich habe auch, in der Nacht nach der Tempelversammlung in Lhasa sei ihm das klar geworden, sein Herz mitgesprochen.

Über die ernsten Züge des Generals lief ein Lächeln. Dann sagte er: »Manche Engländerin wurde ja schon eines deutschen Mannes Frau. Ich erinnere nur an die Gattin Moltkes. Wollten sich doch die germanischen Völker verstehen und sich die Hand reichen. England, Deutschland, Skandinavien, Nordamerika: sie gehören zusammen. Halten sie zueinander, kann es nie mehr einen Krieg geben. Unsere Zivilisation und Kultur wird dann die Völker zum glücklichen Zeitalter führen!

Auf denn, nach Tingri! Seht Freunde, goldgleißend liegt Tschomo-lungma im Sonnenglanz da. Schlaft wohl, ihr Brüder! Ihr fielet nicht nur für England, nein, auch für die Menschheit.

»Der Riese« – und er drohte mit der Faust zu dem Gipfel – »schlug im Kampfe unseren Angriff ab! Wir kehren um! Aber: wir kommen wieder!«


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