Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Durchs Mittelmeer zum Indischen Ozean.

Auf dem Bahnsteig der Wildparkstation bei Potsdam, dem ehemaligen Fürstenbahnhofe Kaiser Wilhelms II., standen zwei schlanke Damen und fünf Herren, vier davon in praktischen Reiseanzügen, plaudernd zusammen und warteten auf den D-Zug, der sie nach Hamburg bringen sollte. Es waren die Ladys Wildermoore und Heresford, General Russe, Gerving, Kallory und Dr. Zönlund, der, wie wir wissen, als Arzt bzw. Naturwissenschaftler der Expedition sich angeschlossen hatte. Bei der Vorliebe Englands für Norwegen, das vielen Bewohnern des Inselkönigreiches geradezu als englische Filiale gilt, wurde Zönlund von den Damen und Herren liebenswürdigst aufgenommen, und, da er, wie wir wissen, ein tadelloses Englisch sprach, floß die Unterhaltung frei und lebhaft dahin. Der fünfte Herr in feierlichem Abendanzuge mit Frack und allem Zubehör war der bekannte Pressevertreter Karl Ising, der die Englandsachen seit Jahren bearbeitete, England, besonders London, genau kannte und sehr viele Beziehungen dort hatte.

Die Engländer, die sich sonst jedes offizielle Geleit höflichst verbeten hatten, waren entzückt von Berlin und Potsdam, das keiner von ihnen bis dahin kannte.

Besonders hatten es ihnen die großartigen, wissenschaftlichen Institute, das Laboratorium Hüttes in Charlottenburg und die astrophysikalischen Institute auf dem Telegraphenberge bei Potsdam angetan. Waren sie doch scheinbar nur zur Besichtigung dieser Anlagen nach Berlin gekommen!

In Potsdam hatten die Schlösser, die Parks, und die alte Architektur der Stadt mit ihrer einheitlichen Stilreinheit ihre Bewunderung erregt, und wenn sich auch in der Natur erst die schwächsten Zeichen des anrückenden Frühlings bemerkbar machten, so ließ sich doch die Schönheit der Parks in Laub und Blüte bereits ahnen.

Mit liebenswürdigen Worten wendete sich General Russe an den Pressevertreter, dankte ihm für die freundliche Führung und schloß dann mit den Worten:

»Wir waren nicht in offizieller Form hier, Herr Doktor, sondern ganz als Privatleute, und so dürfte die Öffentlichkeit unser Aufenthalt in Berlin nicht allzu sehr interessieren.«

Dr. Ising fühlte sofort den feinen Wink, der darin lag, parierte aber mit den Worten:

»Herr General, Sie können davon überzeugt sein, daß unser gebildetes Lesepublikum auch die kleinste Nachricht über England fesselt.«

Mit einigem Staunen vernahm Russe diese Worte. Nach einer kurzen Pause nahm er abermals das Wort und sprach sich ungemein lobend aus über die forsche Art, wie das deutsche Volk nach dem Kriege sich wieder heraufzuarbeiten suche. Da rollte der D-Zug ein, das reservierte Abteil wurde bestiegen, Ising schüttelte jedem der Fremden noch die Hand. Er und Dr. Zönlund sahen einander tief in die Augen, dann schob sich der Zug langsam zur Halle hinaus, bald verkleinerten sich seine roten Schlußlaternen in der Ferne und verschwanden schließlich gänzlich, da er die Kurve auf Wustermark machte, um Anschluß an die große Hauptlinie Berlin–Hamburg zu gewinnen.

Lange blickte Ising sinnend den Reisenden nach, bis sein alter Bekannter, der Stationsvorsteher, zu ihm trat und sagte:

»Na, Herr Doktor, das war wohl ganz was Feines? So etwas sind wir ja heute hier gar nicht mehr gewöhnt.«

Ising fuhr aus seinem Sinnen auf und erwiderte lächelnd:

»Ja, Werdersche mit Obstkiepen waren es nicht. Na, kommen Sie, Sie haben jetzt Zeit. Wir wollen unten in Erster Klasse einen »jrreifen!« Fröhlich lachend ging der Beamte, der seit Jahren des Doktors joviale Art kannte, mit. Bald stand köstliches Bier vor den beiden Herren, und die Gläser klangen aneinander. Dann aber kam der eifrige Pressevertreter bei Ising nochmals zum Vorschein, und er füllte schnell zwei Telegrammformulare in Geheimschrift aus, die der Stationsvorsteher sofort durch einen Angestellten aufgeben ließ. Jetzt erst konnten beide sich der Ruhe freuen und probten eifrig die Güte des Bieres. –

Durch die Nacht donnerte der D-Zug, Punkt 12 Uhr lief er in den riesigen Hamburger Hauptbahnhof ein, die Herrschaften stiegen im gegenüber gelegenen, prächtig eingerichteten »Berliner Hof« ab, und bald schliefen sie der morgigen Einschiffung entgegen. Ihr Abendessen hatten sie im Speisewagen des Zuges eingenommen, und die verwöhnten Töchter und Söhne Großbritanniens zeigten sich von allem Gebotenen sehr befriedigt.

Auch mit den Apparaten, die sie unter Beistand Dr. Zönlunds gekauft hatten, waren sie nicht nur zufrieden, sondern, wie General Russe lächelnd sagte, in ihren Erwartungen weit übertroffen.

Am anderen Morgen meldete sich Kjel, der alle Aufträge auf das beste ausgeführt hatte, um 8 Uhr bei seinem Herrn. Dem ehrlichen, treuen Menschen leuchtete die Freude aus den Augen, als er dem Dr. Zönlund gegenüberstand. Nochmals schärfte ihm dieser größte Vorsicht ein. Er hatte ihn in Berlin bereits auf das genaueste instruiert, wie er sich den Engländern gegenüber zu benehmen habe. Als Ziel der Reise hatte er ihm zunächst Ostindien angegeben, und Kjel war darüber hocherfreut.

»Dat is doch 'ne Reis' für 'n ollen seebefohren Minschen,« sagte er immer wieder und wieder zu dem Doktor. Gegen 10 Uhr frühstückten die Reisenden zusammen, und die Ladys und Gentlemen taten den ihnen vorgesetzten Speisen und Getränken alle Ehre an. Kjel durfte mit aufwarten und sein gebrochenes Englisch erregte bei den vornehmen Kindern des stolzen Inselreiches stille Heiterkeit. In bester Stimmung bestieg man dann die vorgefahrenen Kraftwagen und sauste durch die prachtvolle Mönckebergstraße und weiter zum Hafen hinunter, wo an St. Pauli Landungsbrücken der elegante englische Hochseedampfer »Viktory« festgemacht hatte. Nach kurzer Besichtigung und Bewunderung des Elbtunnels bestieg man das Schiff, wo, nach entsprechender Meldung die Damen, englischer Sitte gemäß, sich sofort in ihre Kabinen begaben, während die Herren noch an Deck blieben und das gewaltige Bild des mächtigen Hafens in sich aufzunehmen suchten. Besonders die Werften von Blohm und Boß und »Vulkan« auf dem Grasbrook, links elbseits gelegen, erregten ihre Aufmerksamkeit. Eifrig wurde dort an mächtigen Schiffskörpern gearbeitet, und den geübten Augen der Briten entging es nicht, wie rastlos die deutsche Industrie bei der Arbeit war, die durch den Krieg verloren gegangene Tonnage zu ersetzen. Auf der anderen Seite des Stromes, in den der nun langsam sich in Bewegung setzende Dampfer hinglitt, dehnte sich die größte Handelsstadt des Deutschen Reiches, die alte Hansaherrin Hamburg. Die prachtvolle Michaeliskirche, das alte Wahrzeichen der Stadt, war wie ein Phönix aus der Asche wieder entstanden, seitdem sie zum zweiten Male abgebrannt war. Auf dem Hamburger Berge aber ragte, ein Erinnerungsmal vergangener Größe, der riesige Bismarck in Rolandsgestalt. Weiter ging die Fahrt stromabwärts: rechts an Blankenese der preußischen Nachbarstadt Hamburgs entlang. Fortwährend wechselte das Bild, und auf dem mächtigen Elbstrome herrschte regster Verkehr. Dr. Zönlund konnte es nicht entgehen, wie die englischen Herren von der Großartigkeit des Geschauten betroffen staunten. Stade linksseits war passiert, rechts tauchten die mächtigen Molenanlagen mit ihren Leuchttürmen bei Brunsbüttel an der Einfahrt des Kaiser-Wilhelm-Kanals auf, jenes gewaltigen Denkmals deutschen Fleißes, das Nord- und Ostsee durch deutsches Land hindurch mit einander verbindet. Immer breiter wogten die gelben Wasser der Elbe dahin, denn bald galt es der Vermählung des Stromes mit dem Meere. Die Elbmündung bei Cuxhaven war erreicht. An dem bekannten Bollwerk »Alte Liebe« machte der Dampfer noch einmal fest: ein Lotse kam an Bord, und der Kapitän ließ noch frische Lebensmittel übernehmen, die bestellt und bereitgehalten waren. Dann ging es unter Führung des Lotsen hinaus, denn wenn auch die Elbe auf das Sorgfältigste betonnt ist, so ist doch das Passieren der Mündung sehr schwierig, da die Fahrrinne sich fortwährend ändert. Links lagen die Kugelbaake und die Insel Neuwerk mit ihrem alten Leuchtturm, rechts die vier Feuerschiffe. Als das letzte passiert war, ging der Lotse von Bord, und der Kapitän übernahm wieder selbst die Führung seines Schiffes, das nun mit sich stets steigernder Schnelligkeit die blauen Fluten der Nordsee durchschnitt und auf den Kanal zueilte.

Zwei Tage waren verstrichen: längst waren die weißen Kreidefelsen von Dover passiert, war die »Victory« ohne Unfall durch das Schiffsgewimmel des Ärmelmeeres geglitten. Die Seekrankheit hatte ihre Opfer gefordert, die Passagiere wurden allmählich miteinander bekannt, obwohl General Russe und seine Reisegefährten sich aus bekannten Gründen möglichst zurückhaltend bewegten.

Die Passagiere der 1. und 2. Kajüte waren, mit Ausnahme von drei indischen Gelehrten ausnahmslos Engländer, Beamte, Geistliche, Offiziere, Kaufleute und Pflanzer mit ihren Familien. Teilweise gingen sie zum ersten Male nach Indien hinaus, teilweise hatten sie den üblichen Heimatsurlaub von einem Jahre in England verbracht und kehrten nun in ihren Wirkungskreis in Indien zurück. Im Zwischendeck fuhren chinesische Kulis, Arbeiter und sonstige einfache Leute, die aber mit den vornehmeren Passagieren naturgemäß in keine Berührung kamen. Außerdem waren englische Soldaten dort eingeschifft, die nach Indien gingen, und deren Offiziere in der 1. Kajüte untergebracht waren.

Das Schiff war in die gefürchtete Biskaja eingebogen: Kurs auf Gibraltar, um von da die Einfahrt in das Mittelmeer zu gewinnen. Dieser Teil des Meeres ist bei den Schiffern mit Recht verrufen, denn oft tosen dort gewaltige Stürme, besonders zur Frühjahrs- und Herbstzeit. Manches Schiff ist an den turmhohen Klippen der Küste dort schon zerschellt und mit Mann und Maus in die Tiefe gesunken. Besonders gefährlich werden die Südweststürme, weil sie, über den Atlantischen Ozean hinfegend, dessen ungeheure Wassermassen aufpeitschen und sie mit gigantischem Wogenschwall in den Golf von Biskaja hineindrängen. Dort brechen sich die Wasserberge an den Felswänden der Küste, und wehe dem Schiffe, das in dieses Tosen der entfesselten Elemente hineingerät; es ist meist verloren.

Am Vormittage des dritten Reisetages traf Dr. Zönlund mit dem Kapitän Mister Brook, dem Führer des schönen Schiffes, in der 1. Kajüte zusammen. Anscheinend hatte der Kapitän, der den Arzt schon am ersten Tage der Reise persönlich kennen gelernt hatte, und der ihm offenbar gefiel, ihn gesucht. Kapitän Brook war ein ausgezeichneter Seemann, stahlhart, der Typus des englischen Schiffsoffiziers bester Sorte.

Nachdem beide Herren sich begrüßt hatten, fragte Dr. Zönlund: »Sie sehen ernst aus, Kapitän?«

»Ja,« erwiderte dieser. »Wir haben vor einer Stunde einen Funkspruch bekommen, der schweren Südweststurm im Atlantik meldet. Faßt der meine »Viktory«, so kommen wir wahrscheinlich in ernste Lagen. Ich habe nur einen Schiffsarzt an Bord. Kann ich im Notfall auch auf Sie rechnen?«

Zönlund verbeugte sich und erwiderte: »Selbstverständlich, Kapitän. Ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung und zu der meines Kollegen, den ich übrigens gestern abend kennen lernte und mit dem ich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, sofort mich in Verbindung setzen werde.

»Ich danke Ihnen,« sagte der Kapitän. Dann fuhr er fort: »Für jetzt werde ich den Passagieren gegenüber, um unnütze Unruhe zu vermeiden, schweigen. Sobald Gefahr droht, muß ich ja sprechen. Sie bitte ich, Ihre speziellen Reisegefährten in aller Stille zu unterrichten und auch den Damen gegenüber nichts zu verheimlichen.«

Zönlund versprach alles und ging nach Verabschiedung von dem Kapitän zunächst an Deck, um den Schiffsarzt aufzusuchen und mit dem Einiges zu besprechen. Sodann teilte er den Reisegefährten das Nötige mit und sah mit Bewunderung, wie letztere ruhig und bewußt die Nachricht aufnahmen. Es waren eben alle stahlharte Menschen.

Der Kapitän hatte sich nicht geirrt: der Sturm war plötzlich da. Man kann nicht sagen, er kam, sondern das Meer kochte plötzlich so erregt auf, das rings umher Wellenberge mit Gischtkämmen aufstiegen, die das gute Schiff in seinen Grundfesten erschütterten.

»Alle Mann auf,« gellten die Pfeifen der Bootsleute, und wie ein entfesselter Strom eilte die Mannschaft, die dienstfrei im Raume geruht hatte, aus den Luken herauf, und jeder stürmte an den ihm durch die Kommandierrolle angewiesenen und längst bekannten Posten. Durch die Jahrhunderte alte Gewohnheit ist die Manneszucht auch auf den englischen Kauffahrern eine sehr strenge, die unwillkürlich an die eines Kriegsschiffes erinnert. Wenn auch der englische Matrose an Land sich nicht immer gerade sehr musterhaft benimmt, so muß ihm doch der Kenner die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er im Dienste musterhaft ist. –

Auch die englischen Offiziere waren zu ihren Transporten geeilt, um dort vor allen Dingen Ordnung und Disziplin aufrecht zu erhalten. Dr. Zönlund war mit dem Schiffsarzte in einem als Verbandsraum ihnen angewiesenen Abteil zusammengetroffen, und Kapitän Brook stand, umgeben von seinen ersten Offizieren, hoch oben auf der Kommandobrücke und leitete den Lauf seines guten Schiffes.

Und wahrlich, ein Mann mit Nerven wie Stahl war nötig, um im Tosen der Elemente des Schiffes Lauf und Gang zum guten Ziele zu führen. Blitz auf Blitz zuckte, und der Wogen Gebrüll übertönte noch das Rollen des Donners. Noch fiel kein Regen. Fahlgelb stand am Himmel die Wetterwand im unheimlichen Lichte.

Das Schiff hatte zwei Maste. »Wir müssen sie kürzen und die Raaen herunternehmen,« sagte Mister Brook zu seinen ersten Offizieren, die ihm aufs Tiefste ergeben waren und sofort die entsprechenden Befehle gaben. Wußten sie doch, daß dann das Schiff dem Sturme eine geringere Angriffsfläche bot.

Auf die entsprechenden Pfeifensignale flogen die dazu bestimmten Mannschaften die Wanten empor, und auf den Pferden stehend, gingen sie mit weit vorgeneigtem Oberkörper an die Abnahme der Raaen. Alles schien gut zu gehen. Plötzlich tönte ein Schrei: ein Tau war vom Sturme zertrümmert worden, drei Matrosen stürzten auf das Deck hinunter, während es sieben andern gelang, sich zu halten. Die wackeren Leute führten ihre Arbeit, ohne rechts und links zu schauen, weiter und brachten sie zum guten Ende.

Auf den ersten Schrei der Verunglückten waren der Schiffsarzt und Dr. Zönlund hinausgeeilt und trugen die bedauernswerten Leute in den Verbandsraum. Plötzlich standen Martha Heresford und Alice Wildermoore bei den beiden Ärzten, die sie erstaunt ansahen und baten, helfen zu dürfen, was die Ärzte dankend annahmen. Der eine der Leute hatte anscheinend eine Gehirnerschütterung davongetragen. Er atmete leise, seufzte zuweilen, und sein Bewußtsein war völlig erloschen. Es galt, ihn gut zu lagern und kalte Umschläge um den Kopf zu machen, die öfter erneuert wurden. Die eine der Damen machte sich sofort daran. Von den beiden anderen Matrosen hatte der eine drei Rippen gebrochen, da er mit der Seite auf eins der auf Deck aufgestellten Rettungsboote aufgeschlagen war, der andere hatte einen Knochenbruch beider Unterarmknochen links erlitten.

Die armen Verwundeten erhielten zunächst mit einem Labetrunke ein schmerzlinderndes Mittel, und dann kam das Verbinden, Einrichten, Einschienen usw., bei dem es noch manchen Schmerzenslaut zu hören gab. Tapfer taten aber die beiden freiwilligen Helferinnen das Ihrige und erwarben sich Dank und Bewunderung bei Ärzten und Patienten.

Fast zwei Stunden waren vergangen, ehe die Opfer des Sturmes versorgt waren. Letzteren hatte die im Dienste der leidenden Mitmenschen Stehenden völlig vergessen. Jetzt aber dachten sie daran, und Dr. Zönlund ging einmal an Deck, um zu sehen, wie es stünde.

Er traf General Russe mit seinen Reisegefährten an der großen Luke. Alle machten ernste Gesichter. Kallory gab Zönlund ein Fernrohr und wies mit der Rechten nach Osten. Noch immer regnete es nicht, obwohl das Gewitter an Heftigkeit nachgelassen zu haben schien. Aber das Meer tobte mit unbeschreiblicher Wildheit und immer riesigere Wellenberge brachen vom Atlantik her in die Biskaja vor. In geringer Entfernung von der »Viktory« trieb eine Dreimastbrigg. Ihre Masten waren gekappt. Das Notzeichen, eine geknotete holländische Flagge, flehte um Hilfe. Wer sollte sie bringen? Und nun hatte Dr. Zönlund erblickt, was der Engländer meinte. In etwa sechs Kilometer Entfernung raste an den Felsen der Küste eine turmhohe Brandung. Wenn die Maschinen des Schiffes nicht mehr imstande waren, gegen den vom Atlantik anwütenden Wogenschwall erfolgreich anzukämpfen, wurde die »Viktory« allmählich in die Brandung gedrängt und war rettungslos verloren. Schon hatte Kapitän Brook, wie die Engländer mitteilten, die Rettungsgürtel an die Passagiere ausgeben lassen wollen. Doch er hatte, um eine Panik zu vermeiden, zunächst noch davon abgesehen. Immer wieder gab der elektrische Telegraph von der Kommandobrücke herab dem ersten Ingenieur den Befehl: »Mehr Dampf!« Aber, wenn auch dicke Rauchschwaden den riesigen Schornsteinen entquollen, so genügte die erzeugte Dampfspannung immer noch nicht, um die Schraube erfolgreich gegen den Wogendruck das Schiff anzutreiben.

Da gab Kapitän Brook seinem 2. Offizier einen Befehl, nachdem er mit finsterer Entschlossenheit den Herren seines Stabes kurz einige Darlegungen mitgeteilt hatte. Der Offizier eilte sofort zu der Herrengruppe und sprach: »Meine Herren, wir wollen auf Befehl von Mister Brook das Letzte versuchen, um das Schiff zu retten. Alles verfügbare Öl und Fett kommt in die Maschinen. Die entbehrlichen Decksaufbauten werden zerschlagen und verfeuert. Aber wir brauchen Hände, Freiwillige, sowohl an Deck, wie vor den Feuern!«

»Sofort stehen wir zur Verfügung,« riefen alle, und auf Bitten des Offiziers eilte General Russe durch die Kajüten und rief ebenfalls Freiwillige auf, die sofort folgten. An Deck wurden die Leute gesammelt, abgeteilt, mit den nötigen Anweisungen versehen und dann von Offizieren an die Arbeitsplätze geführt. Die Hälfte sollte ruhen, die andern die erschöpften Matrosen und Heizer ablösen oder unterstützen.

Auf Deck begann sofort das Zerstörungswerk: alles nur irgend entbehrliche Holzwerk wurde zerschlagen und wanderte in die gierigen Kesselfeuerungen.

Eine Stunde verging, noch eine: es war nachmittags vier Uhr. Noch immer kämpfte »Viktory« vergebens gegen den Wasserdruck. Zönlund, der neben seinen Gefährten wacker Axt und Säge handhabte, sah wiederholt in den kurzen Arbeitspausen nach Osten hinüber, und es schien ihm, als käme die Küste näher und näher. Die Maschinen arbeiteten fieberhaft, wie das Herz eines Rennpferdes, so daß die Erschütterung in allen Teilen des stolzen Baues als leises Beben, Zittern und Schüttern wahrzunehmen war. Die Manometer standen auf äußerster, nicht mehr zu steigernder Kraft im Dampfdruck. Da, plötzlich, mit einem Schlage, ging es wie ein Ruck durch die »Viktory«!

Volldampf voraus!« gellten und klingelten die Signalapparate, und siegreich überschnitt das prächtige Schiff die Wogen: die Gefahr, die Katastrophe war überwunden, hunderte von Menschenleben gerettet. Donnernde Hurras grüßten den wackeren Kapitän. Bald darauf setzte Regen ein: die ungeheuere Spannung in der Natur war gelöst.

Während die Passagiere, von denen die meisten keine Ahnung von der schweren Gefahr hatten, die an ihnen vorbeigezogen war, ihr Essen einnahmen, wachten die braven Schiffsoffiziere und Mannschaften weiter die Nacht durch für die Sicherheit der ihnen anvertrauten Schiffsinsassen. In mächtiger Fahrt brauste die »Viktory« nach Süden, um endlich in gewaltigem Bogen nach Westen zu wenden. Nach Mitternacht löste sich das Brausen des Sturmes in sanfteres Wehen auf, und wenn auch das Meer noch immer, einmal aufgewühlt, in starker Bewegung war, so war es doch kein Fahrthindernis mehr. Als die Sonne aufging, lag die Straße von Gibraltar vor den Blicken der Schiffsoffiziere, die Säulen des Herkules, wie die alten Griechen und Römer sie nannten. Glaubten sie doch, an dieser Stelle seien die äußersten Grenzen der Erde. Immer deutlicher trat der gewaltige Felsen von Gibraltar, den die Engländer wie einen Bienenkorb für ihre Galeriebatterien ausgehöhlt haben, und aus deren Schießöffnungen sie mit den Armstrongriesengeschützen den Zugang zum Mittelmeer beherrschen, hervor. Um 10 Uhr morgens fuhr die »Viktory« um die lange Mole, an der einst unser schönes Kadettenschulschiff Gneisenau strandete, und so mancher hoffnungsfreudige junge Seemann für die Flagge schwarz-weiß-rot sein Leben ließ. – Kurze Zeit darauf fiel der Anker: »Viktory« war am ersten Ziele der Reise.

Nach Erledigung der üblichen Formalitäten gab Kapitän Brook den Verkehr an Land frei. Er selbst konnte nicht sein Schiff betreten lassen, da erst die notwendigen Reparaturen an Deck auszuführen waren. Der Schiffsarzt hatte, nach Konferenz mit Dr. Zönlund, dem Kapitän gemeldet, daß die Verunglückten, denen er freigestellt hatte, im englischen Lazarett in Gibraltar zu bleiben, an Bord behandelt zu werden wünschten. Den Leuten mit den Knochenbrüchen ging es gut; nur sollte der Mann mit dem Armbruch an Land gehen und im Lazarett durchleuchtet werden, ob die eingestellten Knochenenden sich in guter, richtiger Lage befänden. Der dritte Abgestürzte war unter der Pflege der Damen allmählich wieder zum Bewußtsein gelangt, so daß seine völlige Wiederherstellung zu erwarten war.

Während nun – in Gibraltar beginnt bereits der Süden seine Schönheit und Eigenart zu zeigen, ja, selbst orientalische Einflüsse machen sich dort bemerkbar – ganze Scharen von Booten das Schiff umschwärmten, und ihre Insassen Früchte, Wein und Kuriositäten zum Kaufe anboten, von deren letzteren viele deutschen Fabriken entstammten, kamen englische Pioniersektionen von der Garnison an Bord und begannen unter Leitung der Schiffszimmerleute die geopferten Deckbauten wiederherzustellen. Geschnittenes Holz in Brettern, Balken und Stäben war genug vorhanden, und so wuchsen bei vieler anstelliger Männer fleißiger Arbeit die Pavillons und Kioske, Ruhebänke und Schutzwände bald empor. Hie und da begannen schon die Maler ihre verschönernde Arbeit, und es war zu sehen, daß in höchstens zwei Tagen die Wunden des schönen Schiffes geheilt sein würden. Die faulen Spanier aber glotzten vom Lande herüber, pafften ihre Zigarillos und schüttelten die dicken, dunkelhaarigen Köpfe, als sie die Engländer so fleißig arbeiten sahen. Kaum an einer anderen Stelle wird der Unterschied zwischen der germanischen und romanischen Bevölkerung so stark zum Ausdrucke gebracht, wie in Gibraltar. Unten in der Stadt wimmelt die kleine, dunkelhäutige, spanische Bevölkerung, jähzornig, leidenschaftlich, genußsüchtig, aber träge zur Arbeit. Oben, auf dem Felsen wohnt der stolze, schlanke, rotröckige Soldat, der Sohn und Krieger des fleißigen Britenvolkes, des seebeherrschenden Albions, der Germane!

Während auf der »Viktory« nun fleißig gearbeitet wurde, gingen viele der Passagiere an Land, um nach Briefen und Zeitungen zu fragen und dabei die Sehenswürdigkeiten des interessanten Ortes zu besichtigen.

Auch unsere Bekannten waren dabei, und auf Dr. Zönlunds Bitten war es Kjel gestattet worden, als Diener die Herrschaften zu begleiten. Seit der gemeinsam durchlebten Gefahr und der Hilfe, welche die Damen dem Dr. Zönlund geleistet hatten, war der ganze Umgangston des kleinen Kreises noch herzlicher und frischer geworden, als er es schon vorher war.

Die Gesellschaft durchschritt Gibraltar, und Zönlund blieb mit Kjel einen kurzen Augenblick zurück, um Blumen für die Damen zu kaufen. Kjel sprach nun sofort plattdeutsch zu seinem Herrn:

»Na, Dokting, dat wir ne orndliche Mütz' voll Wind in de olle Biskaja. Söben olle Wiwer können dorbi nich en Besenstiel to Höcht hollen.«

Zönlund lächelte, sagte dann aber, während beide der Gesellschaft nacheilten: »Sprich hier nicht deutsch. Unter der englischen Besatzung sind sicher Deutsche, und der Zufall könnte uns hier einen Streich spielen.«

Die Damen freuten sich über die Blumen, und dann wurde der mächtige Felsen bestiegen, für die geübten und sportgewohnten Reisenden ein Kinderspiel. Oben sahen sie das eingezäunte, von englischen Rotröcken bewachte Gebiet, in dem die letzte Herde europäischer Affen gehegt wird. Die Tiere sind völlig an den Anblick der Menschen gewöhnt und daher sehr zahm. Es dauerte denn auch nicht lange, so erschien an der Umzäunung eine Affenfamilie und bettelte mit Gebärden und freundlichem Gemurmel unsere Reisenden an. Der »Vater«, mit würdigem Barte, ging am Stocke, »Mutter« hat ein »Baby« auf dem Arme, einige andere, schon größere Jungen, balgten sich an der Erde. Einige Zucker- und Schokoladestückchen wurden verteilt, dann trollten sich die Affen wieder, wobei ihre widerlichen roten Gesäßschwielen in Erscheinung traten. Daß Kjel durch einige seiner treffenden Bemerkungen in drolligem Englisch einen Lacherfolg hatte, bedarf keiner besonderen Bemerkung. Sein Englisch wurde übrigens, wie er selbst hervorhob, durch die Übung und Umgebung von Tag zu Tag besser.

Nach der Besichtigung des Affengeheges betraten unsere Reisenden unter Führung eines liebenswürdigen englischen Offiziers die berühmten Felsenbatterien. General Russe, Kallory und Gerving kannten sie schon, die anderen sahen sie zum ersten Male.

In den Felsen sind drei übereinanderliegende Galerien von bedeutender, räumlicher Ausdehnung eingesprengt. Von Zeit zu Zeit führt eine mächtige bogenartige Schießscharte in das Freie, und an jeder Scharte steht eins der riesigen Geschütze, die durch ihre weittragenden Granaten den Fels sofort in einen feuerspeienden Berg verwandeln können. Munition, Lebensmittel sind in Massen aufgespeichert, vorzügliches Trinkwasser ist vorhanden, ebenso wie elektrische Beleuchtung und Ventilation.

Von den Schießscharten bot sich ein herrlicher Ausblick, der namentlich bei den Damen laute Ausrufe des Entzückens hervorrief. Über die Stadt hinweg schweifte der Blick auf das blaue Meer, und drüben schimmerte die afrikanische Küste.

Nach der Besichtigung der Felsenfestung, mit deren Besitz England den Ein- und Ausgang zum Mittelmeer vollkommen beherrscht, fühlten unsere Reisenden das Bedürfnis nach Ruhe. Sie fanden im englischen Hafenhotel sowohl eine vorzügliche Küche, wie gleichzeitig die Möglichkeit für die Damen, sich zurückzuziehen und einige Stunden zu ruhen. An Bord wollte man noch nicht zurückkehren, denn dort war es wegen der Wiederherstellungsarbeiten und des damit verbundenen Lärmes sehr unbehaglich. Außerdem wollte aber der General seinen Begleitern noch das fesselnde Schauspiel des englischen Zapfenstreiches zeigen, der täglich um 6 Uhr abends durch die Straßen von Gibraltar schreitet. Und nun war es so weit: die Gesellschaft hatte an einem kleinen, freien Platze Aufstellung genommen. Es wird gegen Abend kühl in Gibraltar, und so standen denn die kleinen, frostigen Spanier in ihre Ponchos gehüllt da. Der Zapfenstreich kam heran. Voran schritt mit betroddeltem Stocke der Regimentstambour, neben ihm ein Neger mit der Pauke. Dann kam die Musik, die einen schmetternden Marsch spielte, und hinter ihr schritt eine Abteilung der riesigen Schotten, die in Gibraltar garnisonieren. Unter den mächtigen, mit wallenden Straußenfedern geschmückten Bärenmützen blickten die kühnen, oft von rotblonden Vollbärten umrahmten Gesichter der Soldaten hervor. Scharlachrot waren die weißbesetzton Röcke, blendendweiß Lederzeug und Gamaschen, und als die Truppe so stolz an den scheu beiseite stehenden kleinen Spaniern mit stolzem Schritt vorüberzog, war sie so recht der lebendige Ausdruck Englands, der Herrscherin der Meere. –

Zwei Tage waren verstrichen, die Viktory furchte die blauen Wasser des Mittelmeeres, über die sie wie ein weißer Schwan dahinzuschweben schien. Am Abende des 3. Fahrtages erschien am Himmel eine mächtige Feuersäule: der Vulkan Stromboli war in Tätigkeit. Malta wurde noch angelaufen, wo Post an Bord kam, und eine Kompanie englischer Soldaten, die nach Indien ging. Fort St. Elmo, das den Hafeneingang von Malta bewacht und wie ein Nagel an riesiger Tigerkralle von oben gesehen sich ausnimmt, und ebenso die ungeheuren Felsenwerke von La Vallette, alle von englischen Rotröcken bewacht, nötigten denen, die sie zuerst sahen, Staunen und Verwunderung ab. Im Hafen lagen englische Kriegsschiffe von der Dreadnoughtklasse, überall zeigte sich die Macht des Inselreiches. An Alexandrien, wo einst der mächtige Leuchtturm Pharus ragte, wo jeder Stein gewaltig Weltgeschichte predigt, ging es in grader Richtung auf den Suezkanal zu.

Es war einer jener zauberhaften Abende, wie sie der Reisende im Mittelmeere um diese Zeit voll Entzücken genießt. Größer und glänzender schienen die Sterne zu leuchten, goldglänzend stand der Mond am Himmel, weich und mild war die Luft. Unsere Reisenden hatten sich in bequemen Stühlen an Bord gruppiert, lebhaft ging die Unterhaltung.

Plötzlich wendete sich Alice Wildermoore an General Russe und sagte freundlich lächelnd:

»General, ich habe zugleich im Namen meiner Freundin eine Bitte an Sie.«

»Die ist, wenn sie in meiner Macht liegt, schon im voraus gewährt,« antwortete galant der General.

»Würden Sie die Güte haben, uns einige Mitteilungen über den Suezkanal zu machen? Seine Bedeutung ist uns als Engländerinnen bekannt. Wir hören, daß wir morgen in ihn einfahren sollen und möchten doch gern noch einiges über ihn wissen.«

Der General dachte eine kurze Zeit nach, dann begann er nach einer leichten Verbeugung gegen die Damen:

»Ich muß Ihre Aufmerksamkeit da für einige Zeit erbitten. Schon die Alten versuchten immer und immer wieder Kanalanlagen, die Mittelmeer und Indischen Ozean verbinden sollten. Teils scheiterten aber diese Arbeiten an der Unzulänglichkeit der technischen Hilfsmittel, teils versandete das Geschaffene wieder und wurde unbrauchbar. Ich will Sie da nicht mit Einzelheiten und Zahlen behelligen, nur das sei mir erlaubt anzuführen, daß bereits im 14. Jahrhundert vor Christi Geburt von den Ägyptern derartige Arbeiten ausgeführt wurden. Im Jahre 1798 ließ Napoleon I. durch den Ingenieur Lepère Vermessungsarbeiten für einen Durchstich durch den 112 Kilometer breiten Isthmus von Suez vornehmen. Lepère kam aber zu dem unglaublichen Resultat, das der Spiegel des Roten Meeres 9,308 Meter höher liege, als der des Mittelmeeres. Durch diese irrige Vorstellung wurde auf Jahrzehnte jeder Kanalplan fallen gelassen. Im Jahre 1841 wiesen englische Offiziere an der Hand neuer Arbeiten nach, daß Lepère sich geirrt habe. Im Anschlusse daran legte der Österreicher Negrelli nach zahlreichen Jahre hindurch durchgeführten Messungen in Paris 1856 einer Kommission seine Pläne vor, und als diese allgemein gebilligt wurden, wurde Negrelli 1858 vom Vizekönig Said zum Generalinspektor der Suezarbeiten ernannt. Nach seinem am 1. Oktober 1858 erfolgten Tode brachte Ferdinand von Lesseps im nächsten Jahre seine Pläne durch Kauf an sich, bildete eine Aktiengesellschaft, und am 25. April 1859 erfolgte am Nordende bei Port Said der erste Spatenstich. Am 18. März 1869 traten die Mittelmeerwässer in die Bitterseen, und am 19. November 1869 erfolgte die Eröffnung des Kanals in Gegenwart vieler Fürstlichkeiten, besonders des Kaisers Napoleon III., der damals auf dem Gipfel seiner Macht stand. Die Festlichkeiten kosteten den Chediven 20 Millionen Franks.«

Der General machte eine kurze Pause und griff dann mit einer Entschuldigung, daß jetzt »zu viel Zahlen« kämen, zu einem Taschenbuche, in das er von Zeit zu Zeit einen Blick warf. Er fuhr fort: »Die Länge des Kanals beträgt 160 Kilometer, die Breite am Wasserspiegel 60-110 Meter, an der Sohle 22 Meter, seine Tiefe 8 Meter. Der Kanal beginnt am Mittelmeer bei Port Said, wo zwei ins Meer gebaute Molen in Länge von rund 2 Kilometer ihn vor Verschlammung schützen, tritt dann in den Mensalehsee, verläßt ihn bei Kilometer 45 und durchschneidet die Bodenerhebung El Kantara. Ferner durchfließt er den Balah- und Timsahsee und durchbricht dann die 16 Kilometer lange Felsenschwelle des Serapeums. Bei Kilometer 95 tritt er in die Bitterseen, an deren Südseite die Ebbe und Flut des Roten Meeres bereits in Erscheinung tritt. Bei Kilometer 156 ist letzteres erreicht. Am Südende des Kanals liegt Suez, von wo aus die Fahrtrinne, noch 4 Kilometer in das Rote Meer geleitet ist. Etwa in der Mitte des Kanales, am Timsahsee, liegt Ismailia. Dort unterhält die Kanalgesellschaft eine Lotsenstation mit kleinen Dampfbooten, Dampfbaggerschiffen, Baggern, Schleppern und Wassertankschiffen. Die Baukosten des Kanals beliefen sich auf 19 Millionen Pfund Sterling, eine für damalige Zeiten außerordentlich große Summe. Davon wurden durch Aktien bei der Gesellschaft 12 800 000 aufgebracht, den Rest deckte der Khedive. England kaufte letzterem 1875 die übernommenen Aktien im Werte von 4 Millionen Pfund ab. Schon 1872, also drei Jahre nach der Eröffnung des Kanals, hatte die Gesellschaft einen Überschuß von 100 000 Pfund. Alljährlich passieren ihn rund 5000 Schiffe, davon etwa die Hälfte englische. Der Kanal ist internationalisiert, das heißt, die Benutzung ist allen Nationen gestattet. Er ist bei der Dunkelheit elektrisch beleuchtet, so daß der Verkehr ohne Störung Tag und Nacht sich abspielen kann. Dadurch ist die früher auf 48-1/2 Stunde angesetzte Durchfahrtzeit auf 15-20 Stunden gesunken. Die Zahl der Reisenden, die den Kanal im Jahre passieren beträgt etwa 500 000. Die Entfernung nach den östlichen Ländern ist, da nicht mehr ganz Afrika umfahren werden braucht, durch den Suezkanal ganz bedeutend abgekürzt. Es werden erspart an der Dampferfahrt nach Bombay in Ostindien von Hamburg, Amsterdam, London, Liverpool oder Bordeaux 24 Tage, von Marseille 31, von Genua 32 und von Triest und Brindisi 37 Tage. Das, meine Damen,« schloß der Oberst, indem er sein Taschenbuch wegsteckte, »wäre das Wichtigste, was ich Ihnen über den Suezkanal sagen kann. Morgen von Port Said an werden wir ihn ja selbst sehen.«

Dank und Beifall lohnte General Russe für seine klaren und knappen Ausführungen. Dann aber erbat Marta Heresford noch einmal bei Russe Gehör und sagte: »Sie wissen, General, daß ich ein Soldatenkind bin, und mein Vater 1918 am Kemmel fiel. Schon 1916 war er in Sorge, daß die Deutschen den Suezkanal nehmen könnten, weil dies für uns den Verlust des Krieges bedeutete.«

Der General sah eine Weile sehr ernst vor sich hin, während Zönlunds Herz beinahe hörbar klopfte, und sein Blut in wilden Wellen durch die Adern kreiste. Zum ersten Male fühlte er, daß er als Deutscher unter Engländern saß. Doch er verlor keinen Augenblick die Erinnerung an die hohe Aufgabe, die er sich gestellt hatte. So hatte er sich völlig im Zaume, und niemand merkte ihm seine innere Bewegung an.

»Verehrte Lady,« sprach Russe nach einer Pause, während aller Blicke an seinen Lippen hingen, »mein Freund Gerving wird Ihnen ein Wort Bismarcks sagen, daß dieser einmal vor dem deutschen Reichstage ausgesprochen hat.«

Gerving verbeugte sich leicht und sagte dann: »Wer den Suezkanal erobert, zerbricht dem englischen Weltreiche das Rückgrat.«

»Ja,« fiel Kallory ein, »Gefahr bestand, doch« –

»England hat sie überwunden,« schloß Russe. Darauf trennte man sich und ging in die Kabinen.

Kjel erwartete seinen Herrn und half ihm aus den Kleidern. Dabei sprach er mit feinem Lachen:

»Dokting, ick hef allens hürt. Gott, de Englischmän. Wenn de Amerikaner nich kam, hatten wir se doch eins vertobackt.«

Zönlund lachte und sagte: »Nu slop gut, min Jünging. Morgen früh sin wir in Port Said.«

Zwei Tage waren verstrichen.

In Port Said sowohl wie in Suez hatte die Viktory nur kurzen Aufenthalt genommen. Kohlen, Wasser und frische Gemüse waren an Bord gebracht worden.

Unsere Reisenden hatten nur von der Reeling aus das Treiben an Land beobachtet, das lebhaft genug war. Hier ist der Orient mit seiner Buntheit der Gestalten und Trachten, hier sind die Lebhaftigkeit auf der einen, die Würde auf der anderen Seite. Hier sind aber auch der Schmutz und die Faulheit des Orients, und nur wo der Engländer mit eiserner Faust die Zügel hält, herrschen europäische Kultur und Ordnung. –

Wieder waren zwei Tage dahin, und die Viktory fuhr auf Bab el Mandeb zu, um durch das gefürchtete Tor der Tränen den Meergolf von Aden und dann den indischen Ozean zu gewinnen. Ist doch bei Bab el Mandeb einer der größten Schiffsfriedhöfe der Erde.

Im Roten Meer herrscht in dieser Zeit eine entsetzliche, brütende Hitze. Von den trostlosen Felswüsten der Gestade, über denen unbarmherzig die Sonne brennt, kommt kein erquickender Lufthauch. Das Wasser strahlt Hitze aus, wie die Luft, und oft überfällt dort Europäer eine quälende Hautkrankheit mit Brennen und Jucken, genannt der »rote Hund«. Am Nachmittage des zweiten Tages hatten unsere Reisenden unter einem von Kjel geschickt befestigten Sonnensegel es sich bequem gemacht, alle in leichten, weißen Anzügen. Kjel reichte kühlende Erfrischungen, aber niemand wollte recht etwas nehmen, und nur ab und zu lebte die Unterhaltung etwas auf. »Die armen Heizer vor den Feuern unten tun mir besonders leid«, sagte Lady Alice halblaut vor sich hin.

»Ja,« erwiderte Russe, »ich habe einmal einen Heizer zu einem Geistlichen sagen hören, daß er und seine Kameraden vor der Hölle keine Angst hätten, denn die hätten sie schon auf Erden.«

Ernst nickte Dr. Zönlund vor sich hin und sprach dann: »Es kommt gar nicht selten vor, daß ein Heizer auf diesen Dampfern plötzlich wahnsinnig wird und über Bord springt.«

Wieder schlief die Unterhaltung ein. Russe fragte noch, wie es den Verwundeten aus der Biskaja gehe, und der Arzt gab guten Bescheid, dann träumte wieder jeder still vor sich hin. Bleiern lastete die furchtbare Hitze auf jedem.

Da wurde es plötzlich im Innern des Schiffes unruhig: Rufe erschallten, Menschen schienen miteinander zu ringen, dann ertönte plötzlich in der Nähe unserer Bekannten ein Geheul, das nichts Menschenähnliches mehr an sich trug. Alle waren emporgeschreckt, die Damen hatten aus ihren Liegestühlen sich aufgerichtet, Kjel, der auf einem Haufen aufgeschossener Taue saß und vor sich hin gedämmert hatte, sprang auf und spähte zu der Stelle hin, wo das Geheul aus dem Schiffe, mit jeder Sekunde näher kommend, ertönte. Und nun war das Entsetzliche da: ein Mensch, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, die sonst sichtbaren Körperteile blaurot verfärbt, stürzte, wie ein wildes Tier heulend, an Deck, blickte einige Sekunden um sich, warf die Arme hoch in die Luft, sprang mit katzenartiger Gewandtheit auf die Reeling und stürzte sich von dort hinab in das Rote Meer.

Das Entsetzliche, von dem Dr. Zönlund gesprochen hatte, war zur Wahrheit geworden: bei einem der Heizer war der Wahnsinn ausgebrochen!

Sofort füllte sich das Deck mit Menschen! Alles schaute über die Reeling! Der Ruf »Mann über Bord!« gellte, und der wachhabende Offizier gab sofort das Kommando: »Stopp, Maschinist! Wenden!« Wenn auch das Kommando natürlich sofort ausgeführt wurde, so ist es doch nie möglich, daß in Sekunden das Verlangte sich vollzieht. Das Schiff ist mit Schnellzugsgeschwindigkeit in vollstem Laufe. Ehe die Schnelligkeit sich mindert, und das Schiff wendet, um zur Unglücksstelle zurückzufahren, vergehen Minuten, denn es gilt stets, eine ganze Anzahl Kilometer zurückzulegen. Noch war, als das Schiff gewendet hatte und Gegenkurs nahm, der Verunglückte deutlich zu sehen. Er kämpfte mit den Wellen. Das Meer war verhältnismäßig ruhig. Schon wurden Rettungsboote klar gemacht, um sofort zu Wasser gelassen zu werden, schon stand Mannschaft zu ihrer Besetzung bereit. Da sprang plötzlich Kjel auf den Klüver des Schiffes. Er hatte die Oberkleider und Schuhe abgeworfen und mit dem Rufe: »Dokting, ick möt den armen Kirl helpen!« sprang er kopfüber ins Meer und schwamm auf den Verunglückten zu. Dr. Zönlund erstarrte das Blut in den Adern! Er fürchtete nicht etwa, daß jemand auf dem Schiffe die wenigen, plattdeutschen Worte gehört und verstanden hätte, nein, er sah weit Entsetzlicheres voraus. Er wußte als Naturwissenschaftler, daß sehr häufig vom indischen Ozean riesige Menschenhaie in das Rote Meer eintreten. Die vielen Schiffbrüche bei Bab el Mandeb, bei denen seit Jahrhunderten zahlreiche Leichen in den Ozean hineintrieben, haben die Bestien dorthin gezogen.

Der sofort vom Wachhabenden ausgestoßene Ruf: »Mann über Bord!« brachte das ganze Schiff in Aufruhr: aus allen Luken quollen die dienstfreien Matrosen und nach ihnen, wie erzählt, die Passagiere an Deck. Es herrschte dort die größte Verwirrung, und Zönlund mit seinen Gefährten konnten nur mit Mühe einen Platz an der Reeling behaupten, von wo sie die Unglücksstelle beobachten konnten. Allmählich kam Ruhe in das Chaos, und die Schiffsoffiziere, die ihre Mannschaften entsprechend aufgestellt hatten, vermochten auch die Passagiere zur Ordnung zu bringen. Gleichzeitig führte das vorzüglich geleitete Schiff in elegantem Bogen seine Wendung aus und hielt nun auf die Stelle zu, wo Kjel und der unglückliche Heizer im Wasser rangen. Man konnte das grausige Schauspiel jetzt schon deutlich erkennen.

Der kranke Heizer, selbst Schwimmer, hatte sofort nach dem Sprunge begonnen, zu schwimmen. Natürlich war der Mann von der Arbeit ermattet und konnte sich nicht allzu lange auf dem Wasser halten. Kjel, der wie eine Ente schwamm und tauchte, war gar bald an ihn herangekommen. Der kranke Mensch stieß gräßliche Flüche und Verwünschungen aus, spie nach Kjel, in dem er in seiner Krankheit nicht einen Retter, sondern nur einen Verfolger sah, und suchte sich jeder Hilfeleistung zu entziehen. Kjel mußte jetzt – er wußte dies aus langjähriger Erfahrung – die größte Vorsicht beobachten. Es kommt sehr oft vor, daß Menschen, die mit dem Wasser kämpfen, sich an den Retter klammern, in ihrer Angst ihn dadurch zu jeder Bewegung unfähig machen und es dadurch verschulden, daß Beide, der Verunglückte und der, der ihm helfen will, Opfer der Tiefe werden.

Kjel versuchte nun, um den Kranken herumzuschwimmen, um ihn mit dem linken Arme von hinten zu umfassen, mit Festhaltung von dessen Armen ihn an sich zu pressen und dann durch Schwimmen mit dem rechten Arme und den Beinen das Schiff zu erreichen. Schon rauschte die Viktory, die inzwischen ihre Wendung ausgeführt hatte, mit Volldampf heran, da beschloß Kjel, mit einem Gewaltstreiche der Sache ein Ende zu machen.

»Töw, ick will di kreegen!« rief er halblaut, und dann führte er mit seiner gewaltigen Rechten einen mächtigen Faustschlag auf den Kopf des Heizers. Dieser war dadurch wie betäubt und ließ nun willenlos alles mit sich geschehen. Jetzt packte ihn Kjel mit der Linken, zog ihn hinter sich her und schwamm auf die Viktory, die etwa l00 Meter von ihm abgestoppt lag, los.

Er war etwa um 30 Meter noch vom Schiffe entfernt. Boote waren nicht mehr zu Wasser gebracht worden, da der leitende Offizier sah, wie ruhig und gut Kjel schwamm und voraussichtlich eher am Schiffe wäre, ehe die Boote eingreifen könnten. Er hatte daher Befehl gegeben, es sollten an mehreren Stellen starke Trossen hinabgelassen werden, an denen genügend Mannschaften bereit ständen, um Kjel, wenn ihm beim Hinaufklettern die Kraft ausginge, mit dem Kranken hochzuziehen, oder seemännisch gesprochen, »einzuholen«. Da gellte plötzlich der Schrei an Deck: »Hai! Hai!«

Kjel verdoppelte seine Schnelligkeit beim Schwimmen. Die Zuschauer sahen, wie ein dreieckiger, schwarzer Gegenstand, der fast wie ein kleines Segel aussah, mit furchtbarer Schnelligkeit hinter Kjel herschoß und mit jeder Sekunde dem braven Manne und dem von ihm Geretteten näher kam. Jeder Kundige wußte, daß dieser seltsame Gegenstand die Rückenflosse eines furchtbaren Haifisches sei, und daß Kjel und der Gerettete in letzter Sekunde noch seine Beute werden konnten.

An Deck herrschte größte Unruhe. Nicht nur Zönlund, sondern auch die sonst so ruhigen Engländer waren erregt. Hatten sie doch hier eine Mannestat gesehen, und das löst bei jedem guten Engländer Achtung und Respekt aus. Und das sollte alles nichts sein, alles umsonst getan sein noch im letzten Augenblick?!

General Russe rief nach Gewehren. Ja, die eingeschifften Soldaten besaßen wohl welche, aber die Munition war verpackt. Sie hätte erst mühsam gesucht werden, und es handelte sich um Sekunden!

Kjel war dicht am Schiffe. Kundige Leute von der Besatzung warfen Holzstücke und sonstige schwere Gegenstände nach des Meeres Hyäne, dessen mächtiger, schwarzer Körper jetzt ihn deutlich als einen Riesen seiner Gattung erkennen ließ, da er wenige Meter von Kjel entfernt vom Schiffe deutlich sichtbar war. Die Schraube angehen zu lassen, um ihn durch den Strudel zu scheuchen, unterließ man ebenso, wie das vorgeschlagene Abblasen von Dampf, um Kjel nicht zu stören oder zu verletzen. Man rief dem Wackeren nur ermutigende Worte zu, und er arbeitete mit allen Kräften. Jetzt hatte er eine Trosse erfaßt und klomm daran empor. Starke Hände oben hatten zugepackt und zogen ihn an der Bordwand hoch. Schon war er aus dem Wasser etwa einen Meter hoch empor gehoben, da war der Hai heran! Das Ungeheuer warf sich im Wasser herum, so daß sein weißglänzender Bauch zu sehen war, dann öffnete sich der riesige Rachen und zeigte in jedem Kiefer die drei Reihen furchtbarer Zähne.

»Zieht, zieht!« brüllte man oben, höher schwebte Kjel mit seinem Geretteten im Arme, da schnellte sich der Hai in gewaltigem Sprunge aus dem Wasser, um sein Wild womöglich noch zu erschnappen. Totenstille herrschte an Deck, denn den Zuschauern sträubten sich die Haare vor Entsetzen. Sollte der Tapfere wirklich noch das Opfer des gefräßigen Ungeheuers der entsetzlichen Tiefe werden?

Da sauste plötzlich, von Kallorys Eisenarm geschleudert, eine schwere, eisenbeschlagene Handspake von der Reeling herab und fuhr dem Hai tief in den geöffneten Rachen und Schlund hinein, ihn tödlich verletzend. Rasend peitschte das Untier das Meer, und bald färbte Blut das Wasser, während Kjel mit seiner Beute unter dem Jubel der Schiffsgenossen, besonders seiner Gefährten, unversehrt an Deck gezogen wurde. Mit heißen Worten des Dankes hatte sich Zönlund an Kallory gewendet, der durch seine Geistesgegenwart und Geschicklichkeit in letzter Sekunde beide Menschen gerettet. Stolz sahen seine Freunde auf ihn, und in Martha Heresfords Augen schimmerte eine Träne. Dann mußte aber für den Geretteten und für Kjel, der, wie verständlich, furchtbar erschöpft war, gesorgt werden. Ersterer kam in das Lazarett, wo der Schiffsarzt sich seiner annahm. Kjel aber wurde in die Koje Zönlunds gebracht, wo dieser ihn bettete, mit Stärkungsmitteln versah und ihn mit einer Sorgfalt pflegte, wie eine Mutter ihr krankes Kind. –

Die Tage gingen dahin. Längst war die Straße von Bab-el-Mandeb ohne Unfall passiert, der Golf von Aden durchquert, die Insel Sokotora mit ihrer eigenartigen Form steuerbord erschienen und wieder am Horizont versunken, und die Fahrt ging in fliegender Eile über die blaugrünen Wellen des Indischen Ozeans.

Der Indische Ozean ist in seinen Nordteilen um diese Zeit verhältnismäßig ruhig, da die gefürchteten Taifune oder Wirbelstürme erst später im Jahre, besonders im August aufzutreten pflegen. Ihr Hauptgebiet sind ja auch die Gewässer ostwärts, südlich von Hinterindien und China.

Die Mitglieder der Expedition schlossen sich immer enger aneinander an. Selbstverständlich blieb nach englischer Sitte und besonders der Anwesenheit der beiden Damen wegen der Ton im allgemeinen ein förmlicher, aber das ganze Verhalten der übrigen zu Zönlund war ein herzlicheres geworden. Der Sturm in der Biskaja, Kjels und Kallorys wackere Tat hatten, wie stets überstandene Gefahren, die Herzen einander näher gebracht, das Vertrauen gefestigt. Zönlund sah dies an den Augen und fühlte es am Händedruck seiner Gefährten.

Es war, wie angedeutet, von den Expeditionsmitgliedern verabredet worden, nie etwas von dem eigentlichen Ziel und Zweck der Reise zu erwähnen. Wenn sie abends an Deck saßen und den Zauber der Tropen auf sich einwirken ließen, so sprachen sie von England, Norwegen, den Alpen, von Jagd und Sport, ab und zu von Kunst und Wissenschaft. Hier war Dr. Zönlund meist der Vortragende, denn er konnte aus dem überreichen Born der Naturwissenschaften schöpfen, und da gibt es ja immer Neues und Fesselndes, das auch den Nichtfachmann, und Damen interessiert, besonders wenn der Redner, wie es bei Zönlund der Fall war, sprach- und ausdrucksgewandt ist und so von jedem verstanden wird.

An den letzten Abenden war es aber Zönlund aufgefallen, daß er und seine Gefährten stets von einem der mitfahrenden vornehmen Inder beobachtet wurden. Er hatte mit Kjel darüber gesprochen, der auf der Lauer lag und ihm eines Tages meldete, er habe gesehen, wie einer der Inder eine Zeitung aus der Tasche zog, und zu zwei anderen unter Hindeuten auf die Gruppe der Reisenden sprach. Zönlund meldete diese Dinge Russe, der auch darüber betreten war. »Sollte vielleicht dies oder jenes Exemplar des seiner Zeit ausgegebenen Extrablattes erhalten und in die Hände der Inder gelangt sein?« meinte er nachdenklich. Und dann wurde nochmals jedem der Expeditionsmitglieder größte Vorsicht zur Pflicht gemacht. –

Etwa eine Woche war noch zu reisen, bis die palmenumrauschten Küsten Indiens auftauchen mußten. Der Dampfer war im Arabischen Meere, wo er in gerader Fahrt leicht nach Nordost auf Bombay, das erste Reiseziel, zuhielt. Dr. Zönlund war in den Morgenstunden, wenn die meisten Passagiere noch schliefen, mit Kjel an Deck beschäftigt. Er hatte sich ein Schleppnetz beschafft und holte mit Hilfe einiger Matrosen, die er dazu angelernt hatte, diese oder jene seltsamen Seetiere an Bord, wie sie in jenen Breiten mit eigenartigen Formen und Farben vorkommen und dem Beobachter stets neuen Stoff zu staunendem Bewundern geben. Besonders sind es die von Haeckel als »Staatsquallen« benannten Weichtiere, die mit ihren herrlichen Formen und berauschenden Farben immer wieder neues Entzücken erregen. Muntere Schweinfische tummelten sich spielend um das Schiff, das sie viele Kilometer weit geleiteten. Ab und zu tauchten auch die gräßlichen Rückenflossen von Haien auf, die beutegierig auf Schiffsabfälle lauern. Dann wieder schwangen sich fliegende Fische aus dem feuchten Element in die Luft, ab und zu fiel einer an Deck nieder, oder der bunte, runde Mondfisch, der aussieht, als wäre er nur ein riesiger Kopf, glotzte mit seinen ausdruckslosen Augen über das papageienschnabelartige Maul das Schiff an. Kleinere, für mikroskopische Beobachtung geeignete Gebilde bereitete Zönlund für die Damen vor, die sie dann später zu Übungszwecken weiter entwickelten und beobachteten. An einem solchen Morgen schrie plötzlich einer der Matrosen, der schon lange in den ostasiatischen Gewässern fuhr, sie gut kannte und besonders gern dem Arzte bei den Schleppnetzarbeiten half: »Alles weg vom Schleppnetz! Größte Vorsicht! Deckung suchen!«

Dabei war der sonst so ruhige und mutige Mann auf das höchste erregt und winkte und rief allen, sich hinter Aufbauten, Ventilatoren und dergleichen zu verstecken. Schnell genug leistete jeder dem Rufe Folge und gleich darauf erfolgte ein Ereignis, daß den nächsten Beobachtern Entsetzen und Grausen einjagte. Von Backbord, wo das Schleppnetz hing, schossen zwei armdicke, widerlich rot aussehende, schlangenartige Gebilde an Deck. Am vorderen Ende saßen zwei sensenförmige Ansätze, mehr als meterlang, die mit dicken, knolligen Auswüchsen etwa in Teetassengröße reihenweise dicht bedeckt waren. Diese seltsamen Gebilde schossen an Deck hin und her, packten plötzlich eine Eisenstange in Armesdicke und bogen sie wie eine Gerte zusammen. Überall sahen entsetzte Augen auf das greuliche Schauspiel hin.

Da rief der Matrose, der die Leute vorher gewarnt hatte:

»Rühre sich niemand vom Platze! Das sind die langen Fangarme eines riesigen Tintenfisches, der sich anscheinend in unserem Schleppnetz verwickelt hat. Ich will sehen, wie ich der Bestie beikomme!«

Gleichzeitig stürzte er mit ungeheurer Schnelligkeit auf die gräßlichen Schlangen los und hieb sie mit einem scharfen Zimmermannsbeile dicht an der Reeling durch. Dann eilte er ebenso schnell aus dem Gebiete der Fangarme, die noch einige Minuten zuckten und endlich still lagen. Das Eisenstück hielten sie aber noch fest gepackt. Jetzt hatte das Schiff seine Fahrt verlangsamt und man hörte da, wo das Schleppnetz außenbords hing, ein fürchterliches Getöse im Wasser. Gleichzeitig wurde die Luft von einem durchdringenden Moschusgeruch angefüllt. Mit größter Vorsicht näherte sich Dr. Zönlund mit seinen Mitarbeitern der Reeling und hatte nun ein gräßliches Schauspiel vor sich. Der erfahrene Matrose hatte vollkommen Recht gehabt: im Schleppnetz steckte ein riesiger Kopffüßler und tobte mit den acht Armen und den Stümpfen der beiden abgehauenen rasend gegen die Fesseln, um loszukommen. Fürchterlich wild war der Blick der starren, tellergroßen Augen, den er auf seine Feinde richtete.

»Wir müssen das Schleppnetz opfern,« sagte Zönlund dann zu dem Matrosen, »aber erst möchte ich das Ungeheuer noch photographieren.« Schnell holte Kjel den Apparat herbei und es gelang Zönlund, trotz des Rasens des Ungeheuers, einige gute Aufnahmen zu machen. Dann wurden die Halteschnüre des Schleppnetzes gekappt, das schwer verwundete Scheusal schoß in die Tiefe, und der Dampfer nahm seine Fahrt wieder auf.

Allmählich füllte sich das Deck mit Fahrgästen, die ihre Morgenpromenade machten und Zönlunds Reisegefährten hörten erstaunt, welch Abenteuer sich schon am frühen Morgen abgespielt hatte. Die abgehauenen Fangarme maßen 10 Meter, ihre ganze Länge mußte also mindestens 18 bis 20 Meter betragen haben. Die Saugnäpfe, mit denen die Arme die Eisenstange gepackt hatten, waren so groß wie Teetassen und an jedem Arme zählte Zönlund vorn an dem kolbigen Ansatze 200 Stück. Es handelte sich also um ein ganz besonders großes Tier. –

Am Abend saßen unsere Freunde wieder in bekannter Weise zusammen und General Russe hatte an Dr. Zönlund, besonders auf Wunsch der Damen, die Frage gerichtet, was es denn mit dem Seeungeheuer am Morgen Näheres auf sich gehabt habe.

Zönlund dachte einen kurzen Moment nach, dann begann er:

»Ich muß die Aufmerksamkeit der Herrschaften einige Zeit in Anspruch nehmen, da der Stoff ein umfangreicher ist. Doch werde ich mich möglichst kurz fassen und Sie vor allem nicht mit gelehrten Namen und Daten behelligen.« Während die Engländer, besonders die Damen, freundlich lächelnd ihm zunickten, fuhr der Arzt fort:

»Seit Jahrtausenden haben Riesentintenfische die Phantasie der Küstenvölker beschäftigt. Griechen und Römer berichten davon, und im Mittelalter erscheint in Norwegen bereits ein Buch darüber. Immer wieder wurde ihre Existenz aber angezweifelt, und als der Franzose Jules Verne 1867 in seinem bekannten Roman »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meere«, in dem er das U-Boot voraussagte, einen Kampf mit Riesentintenfischen schilderte, da lachte man über die Phantasie des Dichters, ging aber über die Sache selbst zur Tagesordnung über. Die Naturwissenschaft reihte diese Tiere in die Weichtiere ein und nannte sie Kopffüßler. Um den ziemlich dicken, scharf abgesetzten Kopf mit großen, starren Augen stehen acht Arme im Kreise herum, die mit Saugnäpfen besetzt sind. In der Mitte dieses scheußlichen Medusenhauptes liegt die Mundöffnung, die Arme sind untereinander durch Hautfalten verbunden. Packt das Tier ein Opfer – sämtliche Arten sind Raubtiere schlimmster Sorte und auch untereinander unverträglich – so saugt es sich mit den Drüsen fest und zieht die Armverbindungen wie einen Mantel über die Beute, die wehrlos erstickt und dann langsam verzehrt wird. Der Leib ist walzenförmig, eine Schwanzflosse besteht bei manchen Arten. Die kleinen, etwa handgroßen Kopffüßler werden in Italien auf Kohlenfeuern geröstet und dann als »Meerfrüchte« ( frutti di mare) verspeist. Ihr Geschmack ähnelt dem des Schweinsohres. In den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts trieben an verschiedenen Küsten, besonders an den Neufundlandbänken riesige Tintenfische an. Leider vernichtete sie meist die Bevölkerung, so daß wissenschaftliche Bearbeitung der Frage immer noch ausblieb. Erst die neueste Zeit brachte Licht in das Dunkel. Bei St. Helena, wo sehr bedeutende Wassertiefen des Ozeans sind, riß ein solches Ungeheuer einen Matrosen von einem englischen Kriegsschiff herab. Es waren drei Mann auf einem Hängegerüst beschäftigt, die Außenwand des Schiffes zu malen. Plötzlich schossen aus dem Wasser zwei schlangenartige Gebilde, genau wie heute früh, empor. Das eine riß einen Matrosen in die Tiefe für immer, das andere ringelte sich um einen zweiten Mann, der durch Axthiebe befreit und gerettet werden konnte. Er hatte zahlreiche Wunden am Oberkörper, in die offenbar ein Gift eingetreten war, denn er wurde mehrere Stunden danach tobsüchtig und starb in der Nacht.«

Die Zuhörer sahen Zönlund entsetzt an, so daß dieser fragte:

»Soll ich aufhören?«

»O, nein,« riefen die Damen. »Das ist ja außerordentlich interessant, wenn auch schauerlich.«

»Der eben geschilderte Vorgang lenkte nun die Aufmerksamkeit der Naturforscher sehr energisch auf die seltsamen Ungeheuer. Der Fürst von Monaco entdeckte bei seinen Tiefseeforschungen neue Arten, und auf der chinesischen Expedition im Boxeraufstande 1900 wurde ebenfalls wertvolles Material gesammelt. In Japan spielt im Bilderbuche der Kopffüßler die Rolle eines Kinderschreckens, so oft kommt er vor. Der Fischer dort führt im Nachen stets eine Waffe bei sich, die einer gerade gestreckten Sense, aber mit sehr breiter, haarscharfer Klinge gleicht, ähnelt den Sensenspeeren der polnischen Aufständischen, zum Abhacken der Fangarme, falls ein solches Ungeheuer ein Boot angreift. Daß ein Riesenkopffüßler ein Boot mit mehreren Männern angreifen und vernichten kann, ist kaum anzuzweifeln. Im Jahre 1911, als die Titanic von einem Eisberge zerschnitten und mit 1200 Menschen im Atlantic in die Tiefe gesunken war, erschien kurz darauf im Hafen von Toulon ein riesiger Kopffüßler. Der Taucher Ledu, der mit Unterwasserarbeiten beschäftigt war, bemerkte, von einem plötzlichen Grausen gepackt, daß das Ungeheuer hinter ihm stand. Es gelang ihm, ein Kabel um das Scheusal zu werfen und gleichzeitig das Signal zum Aufziehen zu geben, so daß das greuliche Geschöpf an Bord gezogen, getötet und wissenschaftlich bearbeitet werden konnte.

All diese Funde – ich habe, um nicht zu weitschweifig zu werden, – nur einige von hunderten genannt, haben folgendes ergeben: Der Riesenkopffüßler, den die Wissenschaft Architheutis nennt, und der das Spitzengeschöpf seiner Entwicklungsreihe darstellt, lebt in den tiefsten Meerestiefen, besonders in der Umgebung von St. Helena und der chinesisch-japanischen See. Aus bisher unaufgeklärten Gründen tritt er bisweilen an die Meeresoberfläche, anscheinend stets, wenn er Menschenfleisch als Beute erlangen kann. Er gehört zu den wildesten und stärksten Geschöpfen, die auf unserem Planeten vorkommen und greift ohne weiteres jedes größere Tier, das ihm begegnet, an. Es sind Beweise von Kämpfen mit riesigen Schwert- und Walfischen vorhanden, die stets mit der Niederlage der letztgenannten endeten. Dabei ist schon den kleineren Arten hochentwickelte Intelligenz nicht abstreiten. Im deutschen biologischen Institut für Meereskunde in Neapel war in einem der oben offenen Bassins ein Tintenfisch von etwa 30 Zentimeter Größe zu einem riesigen Hummer gesetzt worden. Sofort griff das Weichtier den Kruster an, um ihn zu ersticken. Letzterer aber verstand keinen Spaß, packte mit einer seiner Riesenscheren den frechen Angreifer an einem seiner Arme und schleuderte ihn wütend gegen die Bassinwände. Der Arm aber riß nicht ab, die Zange schnitt nicht, und nachdem der Kampf über eine Stunde getobt hatte, trennte der Wärter die beiden Kämpen und setzte den Hummer in das nebenanliegende Bassin. Wieder vergingen einige Stunden. Plötzlich schnellte sich der Tintenfisch über die Bassinwand in den Raum, in dem der Hummer saß, packte diesen an Kopf und Schwanzende mit seinen Armen und riß ihn mitten auseinander! – Die Riesentintenfische haben statt der Mundöffnung einen mächtigen Papageienschnabel. Außerdem – ich habe dies ja den Herrschaften heute an den abgehauenen Fangarmen gezeigt – tragen die Saugnäpfe eine gezahnte Querleiste. Mit dieser schlägt die Bestie in das Opfer Wunden, wie mit Schröpfköpfen, und spritzt dann offenbar ein lähmendes Gift ein. Ich erwähnte dies schon bei der Erzählung von dem englischen Matrosen bei St. Helena; bewiesen ist diese Annahme allerdings noch nicht. Ebensowenig ist man sich völlig darüber im klaren, ob der Tintenfisch, wie oft erzählt wird, im Zorn oder in Gefahr das Wasser trübe, nur das ist beobachtet, daß bei kleineren Arten die Körperfarbe bei Erregungen dauernd wellenförmig sich ändert. Das steht jedenfalls fest und habe ich heute selbst beobachtet, daß starker Moschusgeruch nach der Verwundung des Untieres sich bemerkbar machte.«

»Was sind das nun für ungeheure Fangarme, die Sie uns zeigten,« fragte Gerving, der ebenso wie die anderen Herrschaften mit größter Teilnahme zugehört hatte.

»Das sind noch besonders furchtbare Waffen, die bei den kleinen Sorten sich finden, aber erst bei Architheutis in ihrer ganzen Gefährlichkeit zum Ausdrucke kommen. Außer den acht Armen, die übrigens bei manchen Arten auf dem Meeresboden auch zum Gehen benutzt werden, so daß der etwas schiefe Name Kopffüßler oder Cephalopode nicht ganz unberechtigt geführt wird, liegen am Kopfe rechts und links in besonderen Höhlen, wahrscheinlich wie aufgeschossene Taue, die mächtigen Haftarme oder Tentakeln, meist vier- bis fünfmal so lang als das Tier selbst. Diese wirft letzteres mit fabelhafter Geschwindigkeit auf das erspähte Opfer, saugt sich daran fest und zieht es entweder mit seinen gigantischen Kräften an sich, oder zieht sich, wie beim Kampf mit dem Wale, selbst heran und beginnt dann seine Arbeit mit dem Riesenschnabel. Wäre heute an Deck in Greifnähe der Tentakeln ein Mensch gewesen, so war er verloren. Die entsetzlich wilden, starren Augen des Tieres halten stärksten Wasserdruck aus und können durch besondere, durchsichtige Knochenplatten geschützt werden. Anatomisch sind sie hochentwickelt.«

Der Arzt schloß, und seine Zuhörer dankten ihm in herzlicher Weise mit Wort und Handschlag. Ein besonders freundlicher Blick aus den schönen Augen von Lady Alice belohnte ihn noch besonders. Dann suchten die Reisenden die Kabinen auf.

»Dokting,« meinte Kjel, als er seinem Herrn noch einige Handreichungen leistete, »ick heff nie glövt, wenn de ollen Lüd' in Land Norwegen von'n Kraken verteilt hewwen. Nu hewwen wie eenen siehn!«

»Jau, min Jung,« lachte der Doktor, »dorin hest du recht, dat wir'n Kraken.«

»Ick glöv,« flüsterte Kjel, »de olen Engländers het doch grust. Aber, Herring, de ol gäl Taters, de Inder, hewwen all wedder uppaßt.«

»Dat mak wie ook,« schloß der Doktor. –

Ungestört ging die Fahrt über den herrlichen Indischen Ozean weiter. Da tauchte, einem Streifen gleich am Horizonte, stets höher werdend, die indische Küste auf.

Am nächsten Morgen lag die »Viktory« auf der Reede von Bombay vor Anker.

Der Kampf um dem Riesen rückte näher und näher.


 << zurück weiter >>