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General Russe.

Im großen Sitzungssaale des Kultusministeriums in London hatten die Mitglieder der geographischen Gesellschaft am nächsten Tage ihre Plätze eingenommen. Keiner fehlte, und es war für den Beobachter ein Genuss, die feingeschnittenen Gesichter der Gelehrten zu beobachten. Mehrere Minister waren anwesend, und damit erklärte sich die Regierung mit der Tagesordnung einverstanden. Letztere konnte ja natürlich nur einen Punkt enthalten: den gestern angeregten Plan.

Der Sprecher des Hauses, in dem auch Russe, Gerving und Kallory als Gäste sich befanden, begrüßte mit einer zündenden, aber dabei rein sachlich klaren Ansprache die erschienenen Herren. Dann wies er darauf hin, dass zunächst eine umfassende Übersicht über das bis jetzt in der Sache Geschehene zu geben sei, und betonte, dass niemand von den Anwesenden dazu wohl besser im Stande wäre, als Oberst Russe. Ihn bäte er, als Berichterstatter in dieser Sache zu wählen.

Allseitiger Beifall gab die Zustimmung zu dem Vorschlage, der Vorsitzende erteilte Oberst Russe das Wort, und dieser erhob sich sofort von seinem Platze und begab sich auf die Rednerbühne. Mit soldatischem Freimut, ohne Künstelei und gelehrten Aufputz begann er seine schlichte Darstellung, die aber gerade in diesem Kreise um so eindringlicher wirkte:

»Meine sehr geehrten Herren! Wer die Geschichte Ostindiens kennt, weiß, wie am Himalaja entlang und von ihm herab immer neue Völkerwellen in das Wunderland erobernd, verwüstend, wieder aufbauend herniederbrausten.

Aber der Himalaja hat auch Indien wie eine ungeheure Mauer, ein riesiges, nur einmal auf Erden bestehendes Bollwerk geschirmt. Das tibetisch-chinesische Hochasien wurde durch ihn von dem völkerwimmelnden Süden fast gänzlich abgeschlossen. Keine Heeresmacht hat den Übergang über die vereisten Bergpässe der 2400 Kilometer langen Bergmassen durchführen können. Einmal, im Jahre 1337, hat Sultan Mohammed Ibn Toghluk den Versuch gemacht, China auf diesem Wege zu überfallen; ohne Rettung ging sein gesamtes Heer in den furchtbaren Eiswüsten zugrunde. Nur die Gedanken des Buddhismus stiegen auch in jene Höhen hinaus und faßten dort festen Fuß, und Reste der häßlichen Urbevölkerung des Landes flohen in jene Wüsten, wo ihre Nachkommen heute noch leben.

Die gewaltige Riesengröße der Berggipfel hat aber immer und immer wieder die Völker zu inniger Anbetung in ihren Bann gezogen. Für sie sind die Gebirge mit ihren in der Sonne goldstrahlenden Eisflächen und Gletschern die Throne der Götter, und die Phantasie der Orientalen verlegt dorthin die Kostbarkeiten und geheimnisvollen Schönheiten des Paradieses.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die wissenschaftliche Erforschung der Gebirge ein. Genaue Messungen ergaben, daß der bis dahin als höchster Gipfel der Erde angesehene, wundervoll geformte Gaurisankar, dessen Höhe 7144 Meter beträgt, übertroffen wurde von einem 64 Kilometer von ihm entfernten Berge, dem 8882,2 Meter hohen Tschomo-lungma, wie ihn die Eingeborenen nannten. Letzteres aber bedeutet die Mutter, die Allernährerin. Sir Andrew Waugh, der Leiter der englischen Vermessungsarbeiten im Jahre 1852, bestimmte, daß der Berg nach seinem früheren Vorgesetzten, dem berühmten Geodäten Sir George Everest, »Mount Everest« genannt werde. Beide Namen aber, Tschomo-lungma und Mount Everest werden heute als gleichberechtigt nebeneinander geführt.

Es galt nun, den gewaltigen Bergriesen zu erforschen, ihn durch Besteigung zu erobern. Es sind bis jetzt dazu einige recht tatkräftige Versuche gemacht worden, durchgreifende und abschließende Erfolge brachten sie nicht.

Sie, meine sehr geehrten Herren, hatten die große Güte, meinen bisherigen Versuchen Ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Im Jahre 1893 hielt ich mich im Lande Tschitral, am Fuße des Hindukusch, auf. Dort tauchte unter Bergsteigern, mit denen ich zusammentraf, der mich sofort mitreißende Gedanke zur Erforschung des Riesen auf. Aber es ging damals an der Grenze unruhig zu, und so zerschlugen sich die kühnen Entwürfe.

Später, nach Jahren, kamen wir im hiesigen Alpenklub auf unseren Plan zurück, doch bedeutete uns die Regierung, es möchte von jeglichen derartigen Unternehmen abgesehen werden, da man die Tibetaner nicht zu beunruhigen wünschte.

Im Jahre 1907 machte ich abermals einen Versuch, das Unternehmen in Fluß zu bringen. Ich hielt mich damals in Nepal auf, und als ich die Sprache auf meine Absichten brachte, fand ich geradezu begeisterten Widerhall. Schon begann ich des Erfolges mich zu freuen, als plötzlich die sogenannte öffentliche Meinung umschlug. Es hieß die Gurkhas wollten von der Sache nichts wissen. So kam alles ins Stocken, es wurde nichts.

Ein Deutscher, Dr. Kurt Boeck, machte dann im Winter 1899 bis 1900 mit Erlaubnis des Ministers von Nepal den Versuch, den Berg von der Südseite her zu ersteigen. Aber auch hier traten die Gurkhas wieder dazwischen, die offenbar dort noch seltsame Geheimnisse hüten. Er durfte nur bis zur Höhe von 3000 Meiern aufsteigen und mußte dann unverrichteter Sache wieder umkehren. Einige Bilder waren die einzige Ausbeute, die er von seiner Forschungsreise mitbrachte.

Im Jahre 1913 wollte unser Landsmann Noel gegen den Berg von Osten angehen. Die Tibetaner aber verhinderten jedes Vordringen.

Aber meine Freunde Younghusband, Rawling, Kellas und ich selbst konnten von dem alten Plane nicht mehr los und suchten immer und immer wieder nach neuen Möglichkeiten, ihn zu verwirklichen. Im Alpenklub hier und in der Gesellschaft, vor der zu sprechen ich die hohe Ehre habe, bildete sich das Mount-Everest-Komitee. Alles schien gut zu gehen, als uns plötzlich und unerwartet Nepal wieder einen Strich durch die Rechnung machte: es verbot uns jeden Durchzug durch sein Gebiet.

Da kam uns der Gedanke, einen alten Plan wieder aufzunehmen: Umkreisen des Berges im Osten durch Sikkim und dann weiter Angriff von Norden durch Tibet.

Wir hatten anscheinend Glück. Der Engländer Bell wurde in besonderer Mission nach Lhasa zum Dalai-Lama geschickt, der sofort einen Geleitbrief für die Expedition ausstellte und jegliche Unterstützung versprach.

Der Aufstieg von Norden bot, trotz scheinbaren Umweges, doch zwei große Vorteile. Einmal lag dort das Hochland schon so bedeutend dem Gipfel nahe, daß der hochtouristische Aufstieg auf letzteren verhältnismäßig kurz ist. Zweitens, und das erscheint mir noch wichtiger, wurde als einmütige Beobachtung gemeldet, daß die Witterung dort weit beständiger und sogar während der wilden Monsunzeit meist klar und trocken sei. Es wurden Trägerkolonnen mit Tragochsen aus Kulis und Yaks zusammengestellt, und am 18. und 19. Mai 1921 brach man in zwei Trupps von je 50 Tragtieren und 20 Kulis bei strömendem Regen bergan auf. Kallory war einer der tätigsten. Wir kamen durch Gegenden, die wie ein Märchenland uns anmuteten, und der Blick auf die in der Sonne wie Gold gleißenden Riesengletscher riß uns immer zu neuen Anstrengungen hin. Schwer hatten wir zu kämpfen. Unsere Sauerstoffapparate, die man nun einmal in jenen Luftschichten noch nötiger braucht, als das tägliche Brot, waren auch nicht die besten. Auch hatten die Kulis immer noch nicht, trotz aller Übungen, gelernt, damit umzugehen. Entweder sie trauten den ihnen unverständlichen Geräten überhaupt nicht, oder sie nahmen zu viel Sauerstoff ein. Lasten mußten zurückgelassen worden. Die besten Leute versagten, selbst Kallory und Gerving klagten, daß sie sich matt fühlten. Eis und Hagel schleuderte der beizend scharfe Wind auf uns: wir mußten umkehren! Immerhin war die Möglichkeit der Besteigung erwiesen, ferner waren rund 33 Quadratkilometer eines bis dahin völlig unbekannten Landes erforscht und kartographisch festgelegt. Photographien, geologische und botanische Sammlungen wurden in reicher Menge mitgebracht, und als die Karawane am 24. Oktober wieder in Darschilling einzog, konnten die Führer immerhin mit dem Erreichten zufrieden sein.

Im vorigen Jahre versuchten wir den Sturm auf den Riesen wieder! Sorgfältig hatten wir uns ausgerüstet, – alles half uns nichts. Die Stürme und die in ihnen rasenden Schneemassen tobten weit toller als im vorigen Jahre! Wir verloren mehrere von unseren Kulis im Wirbel der Lawinen. Ohne die Siegeskrone mußten wir zurück!

Doch, ein Engländer läßt nicht aus der Hand, was er einmal angepackt hat, was er für sein geliebtes Vaterland erobern will. Alt-England gehört jeder Tropfen Blut in uns, seiner Größe, seinem Ruhme, seiner Macht wollen wir leben und sterben!«

Oberst Russe verbeugte sich und schritt ruhig von der Tribüne, umjubelt von dem Beifalle seiner Zuhörer.

Der Sprecher des Hauses dankte ihm in vollendet schöner Rede. Über dem gesamten Hause lag eine stolze, gehobene, freudige Stimmung. Es liegt nun einmal im englischen Volkscharakter, daß der einzelne Engländer still und verschlossen, wir sagen »zugeknöpft«, sich verhält. Wenn aber einmal die Vaterlandsliebe sich äußert, wenn die patriotische Begeisterung in hellen Flammen emporlodert, dann sind die scheinbar so steifen und gefühllosen Herren nicht mehr wiederzuerkennen. Dann sucht jeder den anderen an Hingebung, Opfermut und Jubel zu übertreffen.

Im Anschlusse an die Rede des Sprechers erhob sich der Regierungsvertreter. Er teilte zunächst im Auftrage des Königs mit, daß letzterer den Obersten Russe in Anerkennung seiner großen Verdienste um das gesamte Unternehmen zum General ernannt habe. Sodann bat er, die Sitzung sofort als Geheimsitzung zu erklären, da er noch wichtige Mitteilungen im Auftrage der Regierung machen werde.

Schnell waren Diener, Stenographen, Berichterstatter usw. aus dem Saale entfernt, die Türen geschlossen und der hohe Beamte fuhr nun fort:

Meine Herren! Die Regierung wird dem Unternehmen jede nur denkbare Förderung gewähren. Doch stellt sie eine Bedingung: dem Auslande gegenüber muß zunächst der Schleier des Geheimnisses über das Ganze gebreitet werden. Die Gründe dafür kennen Sie alle, ich brauche daher nur andeutend zu sagen: sie liegen in der Politik. Die Presse werden wir dementsprechend, soweit dies noch nicht unsererseits geschehen ist, instruieren. Die wenigen Extrablätter, die heute Nacht verteilt worden sind, – wir ließen ihre Ausgabe sofort unterbrechen –, bedeuten nichts. Im Strudel der Riesenstadt London sind sie aufgeschlürft. Nächst dieser Bedingung, die Sie zweifellos alle billigen werden, habe ich noch zwei Bitten hinzuzufügen. Es ist wohl eine sich selbst bejahende Frage, daß General Russe Expeditionsführer wird, und daß die Herren Kallory und Gerving ihm zur Seite stehen!«

Allgemeiner Jubel und Beifallklatschen ertönten bei diesen Worten. Sämtliche Herren erhoben sich zur Ehre der Genannten von ihren Plätzen. Lächelnd ließ der Regierungsvertreter den Sturm austoben, dann fuhr er unter leichter Verneigung gegen den Vorsitzenden fort:

»Wie wir zu unserer Freude hören, beabsichtigen die Herren vor Antritt der Überfahrt nach Indien nach Berlin zu fahren, um dort noch einige wissenschaftliche Neuheiten einzusehen und auch die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Plane abzulenken, besonders das Ausland. Wir bitten die Herren, ganz inoffiziell dies zu tun, als einfache Reisende. Und damit dies um so wahrscheinlicher aussieht, schlagen wir folgendes vor: Die als berühmte und geübte Alpinistinnen bekannten Ladys Alice Wildermoore und Martha Heresford haben gebeten, sich unter General Russes Schutz der Expedition anschließen zu dürfen. Auch Englands Frauenwelt will zeigen, was sie in ihren Vertreterinnen für des Vaterlandes Ruhm und Größe leisten kann. Dies, meine Herren, sind die Wünsche der Regierung, die, wie gesagt, dem Unternehmen die größte Aufmerksamkeit schenkt und ihm den besten Erfolg wünscht. Stellen Sie sofort einen Organisationsausschuß auf, und möge Segen auf Ihrer Arbeit ruhen! Englands Regierung steht hinter Ihnen, wo es auch sei! Wenn Sie meinen schlichten Worten zustimmen, so erheben Sie sich von den Plätzen und stimmen Sie ein in den alten Huldigungsruf: England für immer! Es lebe seine Majestät, der König von Großbritannien und Irland, Kaiser von Indien, Hip, Hip, Hurra!«

Schon bei den ersten Worten des Regierungsvertreters, die auf das Ende seiner Rede hindeuteten, hatten sich sämtliche Anwesenden von ihren Plätzen erhoben. Jetzt fielen sie brausend in den Ruf ein. Ein Jubel, wie ihn dieser ernste Raum noch nicht erlebt hatte, durchhallte ihn, und lange noch standen in Gruppen die Teilnehmer der denkwürdigen Versammlung in begeistertem Gespräche beieinander, als der Vorsitzende kurz und formell die Sitzung geschlossen hatte. – Die mit der Leitung des mächtigen Unternehmens betrauten Männer gingen sofort an die Vorarbeiten. Die beiden Damen waren in kameradschaftlicher Weise, wie dies in England in so schöner, vorbildlicher Weise üblich ist, von den Herren begrüßt worden und beteiligten sich eifrig an allem Nötigen. Vor allen Dingen lernten sie genau die Verwendung und den Gebrauch all der zahlreichen Instrumente kennen und übten sich darauf ein, wie eine solche Expedition sie nun einmal als unentbehrliches Hilfsmittel braucht.

Da waren meteorologische, barometrische, optische, Vermessungsinstrumente zu bedienen. Das Photographieren mußte gründlich gelernt werden, und auch der Apparat für kinematographische Aufnahmen forderte sein Recht.

Für Pelzkleidung mußte Sorge getragen werden, Waffen wurden beschafft, Reitzeug besorgt, alles in besten Stoffen und besten Ausführung; die reichen Mittel, die zu Gebote standen, erlaubten jeden Luxus. Zelte, Schlafsäcke, Kochapparate, Konserven in reichem Maße wurden bestellt und prompt geliefert. All die hundert und aberhundert Einzelheiten wurden in entsprechende Schiffslasten verteilt und sofort nach Indien transportiert. Als alles »schwamm«, fuhr General Russe mit den beiden Damen und seinen treuen Begleitern nach Berlin, wo er am 10. März eintraf und im Esplanadehotel abstieg.

Am anderen Tage vormittag 10 Uhr saß der berühmte Gelehrte Professor Dr. Hütte in seinem Arbeitszimmer neben dem Staatslaboratorium, als sein dritter Assistent, Dr. Zönlund, sich bei ihm melden ließ und sofort empfangen wurde.

Dr. Zönlund, Arzt von Beruf, den er aber nicht ausübte, sondern sich mit allgemein naturwissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte, war ein schlanker, kräftiger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Er hatte hellblondes Haar und hellblaue, blitzende Augen, so daß er unwillkürlich an einen Norweger erinnerte. Dies war auch berechtigt, denn sein Urgroßvater war Norweger gewesen, nach Deutschland gekommen und hatte sich dort als Kaufmann ansässig gemacht. Es war ihm geglückt, vorwärts zu kommen, und sein Sohn, der noch eine Norwegerin geheiratet hatte, brachte das Geschäft in Stettin zu hoher Blüte. Die weiteren Nachkommen heirateten dann deutsche Frauen, und die Mutter des Dr. Zönlund entstammte einer der ersten Stettiner Kaufmannsfamilien. Vom Norwegischen war an ihm außer dem Äußeren nur die Beherrschung der Sprache geblieben: er sprach das Norwegische ebenso fließend wie das Englische, so daß er tatsächlich oft von Engländern für einen Norweger gehalten wurde. Durch Zufall hatte er vor Jahren Kallory und Gerving auf einer Hochgebirgstour in den norwegischen Gletschern kennen gelernt, hatte ihnen einige kleine Dienste leisten können und allmählich hatten sich daraus freundschaftliche Beziehungen entwickelt. Den beiden Engländern galt er eben als Norweger. Während des Weltkrieges war Dr. Zönlund als Reservestabsarzt auf einem unserer Linienschiffe tätig, hatte an der Skagerrakschlacht teilgenommen, von seinen englischen Freunden aber nichts gehört. Im Jahre 1921 reiste er über Norwegen zum ersten Male wieder nach London und traf zu seiner Freude Kallory und Gerving kurz nach seiner Ankunft in einem Klub, die ihn mit offenen Armen aufnahmen. War er doch für sie Norweger. Am nächsten Abend führten sie ihn in den Alpenklub ein, und dort wohnte er den Besprechungen für die Besteigung des Mount Everest bei, die, wie wir aus der Rede des Generals Russe wissen, abgebrochen wurde. Dr. Zönlund hatte mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit an all dem teilgenommen, und der »Norweger« hatte sich so bei den übrigen Engländern auf das beste eingeführt.

Als er nach Berlin zurückgekehrt war, hatte er eifrig alle Nachrichten, die über die Expedition in die Öffentlichkeit gelangten, gesammelt. Da es ein alter Wunsch von ihm war, einmal Ostindien zu bereisen, hatte er in Berlin am orientalischen Seminar der Universität schon früher indische Sprachstudien getrieben, die er jetzt wieder eifrig aufnahm. Wie durch Zufall kam er auch auf das Tibetanische, und so trieb er neben seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten im Laboratorium des Geheimrat Hütte eifrig seine asiatischen Sprachübungen. Da er sehr fleißig und begabt war, machte er zum Erstaunen seiner Lehrer ganz außerordentliche Fortschritte.

Nun trat Dr. Zönlund in ziemlicher Erregung in das Zimmer seines Chefs, des Professors Hütte, der dem sonst so ruhigen und verschlossenen Mitarbeiter die außergewöhnliche Erregung sofort ansah.

»Nun, lieber Zönlund,« fragte der Gelehrte, »was bringen Sie? Nehmen Sie Platz und lassen Sie hören.«

Zönlund atmete einige Male tief auf, dann begann er. »Herr Geheimrat, Sie kennen meine Herkunft, meine Studien, meine Beziehungen zu Engländern. Ich hoffe, ich bin jetzt in der Lage, meinem geliebten Vaterlande, Deutschland, einen Dienst erweisen zu können. Es ist Ihnen bekannt, daß meine englischen Freunde mich sämtlich für einen Norweger halten?«

Der Geheimrat nickte. Zönlund fuhr fort: »Mit Hilfe dieser Ansicht, die ich bis jetzt habe bestehen lassen, hoffe ich der deutschen Sache nützen zu können.«

Der Geheimrat horchte hoch auf und fragte: »Wie das?«

»Ich saß gestern abend allein im Esplanadehotel. Plötzlich schlugen englische Laute an mein Ohr, ich sah auf; meine englischen Bekannten Kallory und Gerving, der mir aus dem Londoner Alpenklub bekannte Oberst, jetzige General Russe und zwei Damen waren in den Saal getreten. Ich begrüßte die Herren, die mich sofort mit den Damen bekannt machten, und wir nahmen zusammen Platz. Da erzählten mir dann, als das vortreffliche Essen und der gute Wein die Stimmung etwas lebendiger machten, die Herren, sie wollten mit den Damen hier Einiges besichtigen. Vor allen Dingen brauchten sie einige sehr feine physikalische Apparate, für Höhenmessungen geeignet, wie sie gerade in Ihrem Laboratorium, Herr Geheimrat, hergestellt und verwendet würden. Ferner wollten sie die neuen Sauerstoffapparate probieren, die Sie jetzt für Flieger zu Höhenrekorden hergestellt haben und möglicherweise eine Anzahl davon kaufen, und endlich wollten sie in Potsdam auf der Sonnenwarte die neuesten Fernrohre für Höhenmessungen einsehen. Ich hörte sehr aufmerksam zu und machte mir bald meinen Vers darauf, denn ich sagte mir, dass diese Vorbereitungen doch sicher auf eine Alpentour deuteten. Wohin konnten aber diese Engländer gerade ihre Ziele lenken, als wiederum zu einer Forschung nach dem Mount Everest.«

»Das ist sehr interessant,« fiel der Geheimrat erregt ein, »aber fahren Sie fort, Kollege. Sie sehen, mich fesseln Ihre Ausführungen auf das höchste.«

»Ich ging,« versetzte der Doktor, »auf alles ein und versprach den Herrschaften meine Unterstützung durch meine Beziehungen hier in jeder Weise zu leihen. Die Damen und Herren wurden zu mir, dem »Norweger«, immer zutraulicher, und ich erfuhr, daß die beiden Ladys Alice Wildermoore und Martha Heresford die Hochtour, welche man vorhätte, mitmachen würden. Ein Wort gab das andere, und schließlich erfuhr ich, daß die Herrschaften, nach den beschriebenen Studien und Einkäufen hier sofort nach Indien abgehen und dort eine Hochtourexpedition organisieren würden! Diese Expedition kann aber meiner festen Überzeugung nach nichts anderes sein, als die endliche Erschließung des Mount Everest!«

»Das wäre!« rief Geheimrat Hütte und erhob sich erregt halb in seinem Sessel. »Wenn der englischen Forschung dort ein solcher Erfolg glückte, so würde nicht nur im gesamten naturwissenschaftlichen Leben dadurch Großbritannien an die erste Stelle rücken, sondern es würde auch der englische Einfluß in Tibet und damit in Afghanistan der führende werden, und alle unsere mühsamen Arbeiten dort wären erledigt!«

»In der gleichen Erwägung, hochverehrter Herr Geheimrat,« sprach Dr. Zönlund weiter, »habe ich mich gestern den Herrschaften als Arzt und Naturforscher zur Verfügung gestellt. Sie haben den »Norweger« gern übernommen. Von meinen indisch-tibetanischen Sprachstudien haben sie keine Ahnung. So bin ich Teilnehmer der Expedition, und wenn es mir glückt, etwas dabei zu leisten, so wird die Stunde kommen, in der ich die Maske des »Norwegers« abwerfe und mit Stolz den Briten sage: »ein deutscher Mann half euch!«

»Zönlund, Sie sind ein Prachtmensch! Man könnte Sie umarmen und küssen, wenn dies unter deutschen Männern üblich wäre,« rief Geheimrat Hütte und schüttelte herzlichst mit beiden Händen die Rechte seines Assistenten. Dann fuhr er, ruhiger geworden, sinnend fort: »Haben Sie sich aber auch überlegt, junger Freund, in welches Abenteuer Sie sich da stürzen? Mit Leichtigkeit könnten Ihnen die Engländer da eine Spionagesache an den Hals hängen, und Sie wissen, daß die Söhne Albions in solchen Dingen keinen Spaß verstehen.«

»Alles das habe ich überlegt,« erwiderte «Zönlund. »Aber die Sache liegt doch so: ich habe mich nie für einen Norweger ausgegeben. Daß mich meine Bekannten jenseits des Kanals dafür halten, ist ihre Sache. Nun, und von Spionage kann doch kaum eine Rede sein, wenn ich einer Expedition helfe, die in letzter Linie nur England zugute kommt. Sie werden sich auch hüten, selbst wenn die Lache zum Äußersten käme, einen Deutschen einfach verschwinden zu lassen. Nun, und wenn es wirklich geschähe, Herr Geheimrat, dann fiele ich für mein deutsches Vaterland, für das ich im Weltkriege jeden Tag hätte den Tod erleiden können.«

Mit freundlichem Blicke sah Professor Hütte auf den Assistenten und sprach dann zu ihm:

»Wie behandeln wir aber die Sache dienstlich?«

»Auch daran habe ich gedacht, Herr Geheimrat,« entgegnete Zönlund. »Ich werde – es muß natürlich alles geheim geschehen –, von der Regierung auf unbestimmte Zeit zu einer Studienreise auf meine Kosten beurlaubt. Die höchsten Dienststellen im Reiche werden im Geheimen orientiert. Der Hauptvertreter der Presse für die englischen Angelegenheiten, Dr. Ising, wird von mir persönlich orientiert werden, so ist alles in bester Ordnung.«

»Sie handeln wie ein guter Feldherr und kluger Diplomat, lieber Kollege,« sagte Geheimrat Hütte zu dem jungen Gelehrten. »Nehmen Sie Ihren Diener mit?«

»Ich beabsichtige es, Herr Geheimrat,« lautete die Antwort. »Mein alter Franz Kjel stammt, gleich meinen Voreltern, aus Norwegen, ist in meinem Elternhause groß geworden und spricht norwegisch. Vom Englischen hat er auch etwas weg. Wenn er mit mir allein ist, spricht er plattdeutsch. Davon würden die Herren Engländer natürlich nie ein Wort verstehen. Ich habe ihn bereits heute früh mit einer großen Liste nach Hamburg geschickt, wo er noch Sachen zur Ausrüstung mir besorgen soll. Die Engländer kaufen heute ebenfalls ein, morgen wollen Sie Ihnen einen Besuch machen. Ich darf, falls ich dabei bin, darauf rechnen, daß wir uns nur ganz flüchtig kennen. Die übrigen Herren und das Unterpersonal erhalten vielleicht dementsprechende Winke. Der nächste Tag soll dann der Potsdamer Sternwarte gewidmet sein, am Abend erfolgt die Abfahrt nach Hamburg, und damit setzt die eigentliche Reise ein.«

Über die ernsten Züge des Geheimrat Hütte flog es, wie ein schalkhafter Zug, als er zu Zönlund sagte: »Na, dann mögen die Herren Engländer nur kommen. Ich werde ihnen schon Dinge hier vorführen, daß ihnen grün und blau vor Augen werden soll. Die Potsdamer Kollegen werde ich ebenfalls entsprechend verständigen. Bei dem Einkaufe der Apparate stehen Sie ihnen ja zur Seite, und meine neuen, vierzylindrigen Sauerstoffapparate sollen sie auch haben. Da sollen sie einmal sehen, was deutsche Technik, Industrie und Wissenschaft leisten können. Sorgen Sie auch für die besten Meßapparate. Vielleicht setzen Sie sich einmal in dieser Angelegenheit mit den Potsdamer Herren in Verbindung. Und nun: Auf Wiedersehen! Möge ein gütiges Schicksal Ihnen beistehen, und Segen aus Ihrem Vorhaben für unser armes, geliebtes, deutsches Vaterland in reichstem Maße erwachsen!«


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