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Bis zum Fuße des Riesen

Dr. Zönlund hatte eine fast schlaflose Nacht verbracht. Die ungeheure Aufregung, die die Entdeckung der Verschwörung in seinem Innern aufgestürmt hatte, ließ ihn die Ruhe nicht finden. Erst gegen Morgen fiel er in Schlummer, und als Kjel ihn weckte, war er wenig gestärkt. Er kämpfte einen schweren, inneren Kampf mit sich.

Als Deutscher hatte er erfahren, daß dem englischen Zuge gegen den Tschomo-lugma nicht nur schwere Gefahr drohe, sondern daß dem ganzen englischen Weltreiche in Indien grimme Feinde gegenüberstünden. Ein Aufstand drohte, der England vielleicht für immer Indien entrisse und damit die Macht des britischen Weltreiches vernichtete.

Da trat in seinem Innern alles wieder lebendig auf, was England im Weltkriege seinem geliebten Vaterlande Deutschland zugefügt hatte. Er dachte daran, wie König Eduard VII. als Geschäftsreisender seines Parlaments die einzelnen Höfe besucht hatte, um sie gegen Deutschland aufzuhetzen und es einzukreisen. Als Prinz von Wales hatte er seine Jugend in wüstester Weise als Spieler und Lebemann in Paris vertollt. Als König suchte er durch Hetzen gegen das aufblühende Deutschland, auf das England mit Neid sah, wieder gut zu machen, was er gesündigt hatte.

Und dann kam ihm in den Sinn, wie England den Weltkrieg entfesselt hatte. Er dachte an die Greuel der Zivilgefangenenlager, an die Wegnahme unserer blühenden Kolonien, an die Vernichtung unseres Kreuzergeschwaders bei den Falklandinseln. Er sah im Geiste die japanischen Linienschiffe auftauchen, die im Dienste Albions die deutschen Schiffe mit Mann und Maus in die Tiefe des Ozeans versenkten. Dann eilten die Gedanken weiter: die erbarmungslose Vernichtung der U-Bootbesatzungen trat vor sein geistiges Auge. Vorwurfsvoll sahen ihn die Züge des Helden Weddigen an, dessen Untergang wir noch heute nicht wissen. Und endlich kam das Furchtbare: der Hungerkrieg! Ein Volk von 70 Millionen Menschen, dessen Heere mit beispiellosem Heldenmute um den Sieg rangen, wurde langsam durch die Blockade abgewürgt! Greise und Kinder siechten zu Tausenden dahin. Die heranwachsende Jugend konnte sich körperlich und geistig nicht entwickeln, endlos waren die Leichenzüge in Dorf und Stadt, namenlos das Elend, das die Bevölkerung ertrug, bis der Zusammenbruch kam. Und England war es, das erbarmungslos an all dem Schuld trug!

Aber jetzt war Frieden. Er selbst hatte sich einer englischen Expedition angeschlossen, die eine der wichtigsten geographischen Aufgaben auf der Erde lösen wollte. Gewiß würde England seinen politischen Machtbereich, wenn die Expedition ihr Ziel erreichte, gewaltig ausdehnen. Ja, sogar die Anfänge deutschen Einflusses in Afghanistan würden wohl dann bedroht werden. Konnte das aber nicht England jetzt auch von Indien her schon durchsetzen? Von Afghanistan waren in vergangenen Tagen die Einbrüche in Indien erfolgt. Jetzt konnte ja dasselbe jeden Tag umgekehrt von Indien her erfolgen.

Hin und her wogte das Meer der Gedanken.

Und da tauchte plötzlich eine Lichtgestalt auf: Lady Alice.

Die Verschworenen wollten die reinen, edlen Mädchen, die mit begeisterter Hingabe sich der Arbeit der Expedition widmeten, rauben. Was das bedeutete, bei Asiaten, wußte der Arzt. Nie durfte das geschehen! Es wurde ihm bewußt, daß kein deutscher Mann auch nur die Möglichkeit solch ungeheuerlichen Verbrechens zugeben durfte. Die reine, edle Frau ist für den deutschen Jüngling, den deutschen Mann ein Heiligtum, zu dem er reinen Herzens aufblickt. Und da wurde ihm klar, daß Lady Alice die Frau war, neben der er weiter den Lebenspfad gehen wollte, nein, gehen mußte, wenn er als glücklicher Mann dieses Dasein durchpilgern sollte. Gleichviel, ob es eine Engländerin war, der sein Leben sich einte. Hatte doch auch sein norwegischer Ahne eine deutsche Frau geheiratet. Über der Nation steht das tiefe, heilige Gefühl, daß die untrennbare Brücke schlägt von Seele zu Seele! Ob Lady Wildermoore sein Empfinden teilte, konnte er nicht wissen. Das konnte er nur hoffen. Aber das war auch für jetzt nicht das Wichtigste! Er mußte die Mädchen vor der drohenden Gefahr retten! Das war die Ehrenpflicht des deutschen Mannes, des Mannes der weißen Rasse im Kampfe mit der gelben Gefahr, mit der Tücke der tibetanischen Mongolen.

Und damit war sein Entschluß gefaßt: sofort wollte er dem General Russe Meldung machen von dem ungeheuerlichen Verbrechen, das geplant war. –

Kurze Zeit daraus stand er im Zimmer des Generals. Aus seine Bitten hatte letzterer Kallory und Gerving rufen lassen und man bediente sich der norwegischen Sprache auf Zönlunds Wunsch, um vor jedem Lauscher sicher zu sein.

»Nun, lieber Freund«, fragte Russe lächelnd, »Sie wollen uns so Wichtiges meiden?«

Zönlund holte einen Augenblick tief Atem und sann nach. Nochmals kamen ihm in Fluge die Bedenken, die er vorher gehabt hatte. Dann aber gab er sich einen Ruck und begann:

»Meine Herren! Sie werden sich der Tatsache entsinnen, daß auf der Viktory Inder sich in unserer Nähe zu schaffen machten.«

Die Herren nickten, Kallory und Gerving wechselten Blicke. Dann fuhr der Arzt fort: »Bei der Prozession in Benares habe ich und mein Diener Kjel mit Bestimmtheit die Wahrnehmung gemacht, daß der Radschah, der die Pagode auf dem Elefanten umritt, dieselbe Persönlichkeit war, wie der Inder auf der Viktory.«

»Nun, daß wäre so bedeutend doch nicht einzuschätzen,« meinte Russe, »die englische Regierung lässt den Indern gewisse Freiheiten. Aber unsere Ketten halten fest!«

»Ihr Wort in Ehren, Herr General, ich bin aber zu meinem Bedauern in der unglücklichen Lage, Sie widerlegen zu müssen. Ich habe gestern Abend hier in einem unterirdischen Felsentempel einer geheimen Versammlung unbemerkt beigewohnt, bei der von Indern, Einwohnern von Nepal und Tibetanern die Vernichtung der Expedition und die Losreißung Indiens von England beschlossen wurde. Wie Ihnen bekannt ist, beherrsche ich das allgemein gebräuchliche Indisch und konnte somit die Verhandlungen voll verstehen. Leiter der ganzen Verschwörung ist der Inder vom Schiffe und von Benares. Die geistige Seele des Ganzen aber ist der Dalai Lama.« Und nun erzählte Zönlund den Herren mit möglichster Genauigkeit, was er erlebt hatte. Zum Schlusse gab er noch an, bah Sidi Abdallah aus Dankbarkeit das Ganze aufgedeckt und ihn geführt hatte.

Die Engländer waren zunächst starr vor Erstaunen. Hier lag ein Staatsgeheimnis verborgen, daß von schwerster Bedeutung für das britische Weltreich, ja, für die gesamte westliche Zivilisation war!

Kallory nahm zuerst das Wort und erzählte dem General, wie er und Gerving schon längst eine Sorge und Unruhe nicht hatten abschütteln können, und wie sie noch am Nachmittage des vorigen Tages ihre Ansichten darüber ausgetauscht hätten.

Jetzt nahm Russe die Unterredung auf und sprach: »Zunächst danke ich Ihnen, Doktor Zönlund, daß Sie durch Ihr mutiges und mannhaftes Auftreten England einen überaus wichtigen Dienst erwiesen haben. Es soll Ihnen das nicht vergessen, sondern hoch angerechnet werden. Ebenso werde ich dafür Sorge tragen, daß Ihr treuer Kjel und der wackere Sidi Abdallah ihre Belohnungen erhalten. Ich denke, daß sich für den braven Muhammedaner eine Stellung in unserem Staatsdienste finden wird. Selbstverständlich werde ich sofort einen unserer Agenten von hier mit geheimem Berichte nach Kalkutta schicken, damit von dort in aller Stille die nötigen Maßregeln getroffen werden, um jede Möglichkeit eines Aufstandes zu unterdrücken. Unsere Regierung kennt die Fürsten, die trotz aller europäischen Bildung uns hassen bis auf das Blut. Wir wissen, daß es in Indien gährt, und im Weltkriege waren wir darauf gefaßt und dazu gerüstet, daß Indien aufbrennen würde.«

Der General machte eine Pause und ging im Zimmer auf und nieder. Die Herren sahen ihm an, wie sehr die empfangene Nachricht ihn erregte. Dann blieb er plötzlich vor Zönlund stehen und fragte ihn: »Auf Ihren Kjel können wir uns verlassen, daß er schweigt?«

»Unbedingt, Herr General«, erwiderte Zönlund. »Erstens bürge ich für die Ehrenhaftigkeit des Mannes, den ich von Kind an kenne, und dann hat er sicher sehr wenig von den Verhandlungen verstanden, denn er kennt indisch nicht und kann nur aus den Bewegungen der Versammelten und daraus, daß er den Radschah wiederholt gesehen hat, seine Schlüsse ziehen. Das weiß ich, daß er der Ansicht ist, es sei gegen die Expedition etwas im Werke. Ich habe ihm aber strengstes Schweigen zu jedermann, auch zu Tejbir, befohlen und weiß, daß er dem Befehle folgt.«

»Ich danke Ihnen nochmals für alles, was Sie für die Expedition und damit für England getan haben«, sprach Russe und schüttelte Zönlund kräftig die Hand. Dann schwieg er eine Weile, sah starr vor sich hin und sprach dann:

»Was wird nun aber aus unserer Expedition! Kehren wir um? Was meinen Sie? Ihr Urteil, meine Herren! Kallory, sprechen Sie zuerst!«

Kallory verneigte sich und sagte: »Meine Meinung, Herr General, geht dahin, daß die Expedition unter allen Umständen durchgeführt wird. Kehren wir jetzt um, so würde dies unter den Indern das größte Hohngelächter erregen. Und ich glaube auch, daß trotz aller Knebelung unserer Presse Nachrichten über unser großes Werk in das Ausland gedrungen sind. Was würde Europa, was würde die Welt sagen, wenn England ein Unternehmen aufgäbe, das es einmal begonnen hat! Das ist ja das Große der Politik unseres Vaterlandes, daß sie jede Aufgabe mit unendlicher Zähigkeit durchgeführt hat! Und wir sollten am Fuße des Riesen, den wir bezwingen wollen, kehrt machen, weil vielleicht eine indische Verschwörung uns bedroht? Nur die Gewalten der Natur können Engländer bezwingen, niemals aber die Macht der Menschen!«

Der General sah voll Freude in das von Begeisterung strahlende, feine Gesicht Kallorys. Dann wandte er sich an Gerving und fragte:

»Nun, und Sie, lieber Gerving, was meinen Sie?«

In seiner ruhigen, stillen Art erwiderte der Angeredete:

»Ich bin Kallorys Ansicht. Nur meine ich, daß wir unter sicherem Geleite die Ladys zurücksenden. Für sie halte ich doch setzt die Grenzen der Gefahren für überschritten.«

»Derselben Ansicht bin auch ich«, sagte Zönlund eifrig. »Gerade wo die Verschworenen es planen, die Damen in ihre Gewalt zu bringen, ist meines Erachtens nach doppelte Vorsicht nötig.«

Russe sah vor sich sinnend hin. Dann sprach er: »Meine Herren! Die Ladys haben mit uns bis jetzt jede Gefahr mutig geteilt. Denken Sie an ihr Verhalten in der Biskaja im Sturme? Haben Sie ihre Ruhe vergessen, als der Tiger Mischen den Ladys und uns lag? Sie sind beide unsere guten Gefährten gewesen von Anfang des Kampfes an bis auf diese Stunde. Wir müssen sie einweihen in alles, was uns bedroht, und dann sollen sie selbst entscheiden, ob sie mit uns weiter gehen, und sei es bis zum letzten, bitteren Ende! Gerving, haben Sie die Güte und rufen Sie die Damen zu uns herein.«

Nach wenigen Minuten erschienen die beiden Freundinnen. Russe bat sie, Platz zu nehmen, und erzählte ihnen dann knapp und genau, was Zönlund erlauscht hatte. Absichtlich – er hatte sich mit dem Doktor deshalb vorher kurz verständigt, – teilte er nicht mit, daß Zönlund die Versammlung im Felsentempel belauscht hatte. Er gab vielmehr zu verstehen, daß man genaue Nachrichten erhalten habe, an deren Richtigkeit nicht zu zweifeln sei. Zum Schlusse schlug er den Damen vor, umzukehren und bat sie ihre Ansichten zu äußern.

Alice Wildermoore wechselte mit Martha Heresford nur einige Blicke. Dann erhob sie sich und sprach: »Herr General! Wir haben nur eine Antwort kurz und knapp auf ihre Frage, und ich weiß, daß meine Freundin genau meiner Ansicht ist. Wir nehmen an der Expedition so lange teil, so lange sie besteht. Geht sie zugrunde, so teilen wir ihr Los. Wir sind Engländerinnen und sind daran gewöhnt, ein einmal in das Auge gefaßtes Ziel so lange zu verfolgen, bis es erreicht ist. Und was würde es in Indien für einen Eindruck machen, wenn Sie uns zurückschickten. Man würde in Indien, man würde in der gesamten englischen Sportwelt sagen, wir hätten die uns gestellte Aufgabe nicht gelöst. Und diese Schmach werden die Herren uns doch ersparen?«

Mit blitzenden Augen, mit geröteten Wangen stand das tapfere Mädchen da, als sie gesprochen, in Zönlund kam unwillkürlich der Gedanke: wie eine Walküre sieht sie aus.

Dann erhob sich Lady Martha und sagte ruhig und fest: »Ich bin derselben Meinung wie meine Freundin und ihrer Bitte schließe ich mich an!«

Voll Bewunderung schauten die Männer auf die jungen Mädchen. Russe aber sprach: »Wohlan denn, es sei! Und nun, an die Arbeit. Ich werde zunächst den Bericht Dr. Zönlunds für Kalkutta ausarbeiten und ihn absenden. Sie, meine Herren, suchen die Leute aus, die Sie für geeignet zum Weitermarsche halten. In etwa einer Stunde bin ich im Lager. Auf Wiedersehen!«

Die Herren begaben sich in das Lager hinüber, wo der Gurkha und Kjel sich sofort meldeten. Kallory gab dem Gurkha den Befehl, daß sofort sämtliche Tibetaner gesammelt werden sollten. Es sollten nur letztere für den Aufstieg in das Hochgebirge verwendet werden, da die Söhne der indischen Tiefebene diesem Klima naturgemäß nicht gewachsen waren. Ferner sollten je 50 Maultiere und 50 Yaks für das Tragen der Lasten bereitgestellt werden.

Die Tiere waren verhältnismäßig schnell zu beschaffen. Die englischen Agenten, welche dies übernommen hatten, lösten ihre Aufgabe in ganz kurzer Zeit, da die Besitzer der Tiere dem Zauberklange des englischen Goldes nicht lange taube Ohren zeigten.

Schwieriger war schon die Beschaffung der nötigen Träger. Bis jetzt waren nicht allzu viel derartige Leute bei der Expedition gewesen. In Lhassa lebten einige, die frühere Himalajareisen mitgemacht hatten. Sie konnten nicht genug erzählen von den furchtbaren Stürmen, die dort droben beim Throne der Götter tobten und brausten, und von den Schnee- und Eismassen, die im Hochgebirge angehäuft wären. Dort oben sei der eisige Tod dem gewiß, der jenen verbotenen Gefilden sich zu nahen wage. Das schreckte denn die Leute ab, und so wichen sie den Werbern nur allzu gern aus.

Noch ein anderer, geradezu lächerlicher Grund trat aber dazu, daß die Tibetaner nicht in den Dienst der Expedition treten wollen. Der Tibetaner ist daran gewöhnt, stets ohne Fußbekleidung zu gehen. Nun wußten die Leute, daß sie in den Bergen Stiefel, ja, in den größeren Höhen, in den Regionen des ewigen Eises, sogar Pelzfußkleidung tragen mußten. Das war denn für sie ein weiteres Mittel, sich von dem Marsche fernzuhalten.

General Russe war inzwischen zum Lager gekommen und empfing von Kallory die einzelnen Meldungen. Er war sicher, daß doch die nötigen Träger zusammengebracht würden und ging zunächst an die Entlohnung der zu entlassenden Leute.

Mit englischer Großzügigkeit erhielt jeder Mann das Doppelte des ausbedungenen Lohnes. Außerdem wurde jedem, der nach Indien zurückwollte, die freie Heimreise gesichert. Sidi Abdallah, der gebeten hatte, nach Indien zurückgehen zu dürfen, erhielt außer einem namhaften Geldgeschenke noch einen Brief an die englischen Behörden, worin er als besonders brauchbar für die englische Polizeibeamtenlaufbahn empfohlen wurde. Dann ging die bisherige Expedition mit Heil- und Segensrufen auseinander, der schon begonnene Aufbau der neuen Truppe wurde fortgesetzt.

General Russe hatte recht vermutet: die Agenten brachten die nötigen Träger, die von nun an mit dem asiatischen Namen Kulis bezeichnet wurden, in wenigen Tagen zusammen. Die gute Entlohnung der bisherigen Expeditionsmitglieder hatte das Seine dazu getan. Um die Leute an die ungewohnten Stiefel zu gewöhnen, wurden einige Tage hindurch Übungsmärsche in die Umgegend von Lhassa gemacht, und dann erfolgte, als alles wohl vorbereitet war, der Aufbruch zum Kampfe.

Schon begann der Riese sich zu wehren, denn strömender Regen stürzte vom Himmel.


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