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Im Zauberlande Indien.

Die Reisegefährten der Expedition hatten in Bombay nur einen Rasttag gemacht. General Russe trieb mit fieberhafter Eile weiter, denn es mußten nach seinen Erfahrungen bestimmte Monate des Jahres zum »Kampfe mit dem Riesen« ausgenutzt werden. Verstrichen diese, ohne daß das ersehnte Ziel erreicht war, so setzen furchtbare Stürme ein, Regen schlug in ungeheuren Massen nieder, bald folgte Schnee, und damit war der Angriff auf den Tschomo-lugma abgeschlagen.

Das nächste Ziel der Reisenden war Benares, am Ganges, dem heiligen Strome Indiens gelegen, Ein reservierter Salonwagen nahm die Gesellschaft auf, und vor ihren Augen spielte sich nun das immer wieder neue, bunte, fesselnde Leben der indischen Eisenbahnfahrt ab.

Wohl in keinem Lande der Erde reisen die breiten Volksmassen so viel, wie im menschenwimmelnden Indien. Eine geradezu elementare Familienanhänglichkeit läßt die Inder unter einander zusammenhalten, und so ist denn zur Zeit der großen Feste ganz Indien in Bewegung wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Die Eisenbahnzüge sind überfüllt, Massen werden hin und her befördert, von denen der Europäer sich keine Vorstellung macht, und die Eisenbahnbeamten, zum großen Teile selbst Inder, haben alle Hände voll zu tun, um die Scharen der Reisenden zu befördern. Es ist ein sehr schöner Zug der indischen Volksseele, daß die Liebe zur Heimat, zur Stelle, wo der erste Schrei des Neugeborenen von den Lehmwänden der elenden Dorfhütte wiederhallte, nie erlischt. Die Eltern werden gleich Göttern verehrt. Das Knarren des Ziehbrunnens, der den Acker bewässert, die endlose Arbeit des indischen Bauern, tönt noch wie Musik in den Ohren des Dorfkindes, das vielleicht an der Universität in Kalkutta ein bedeutender Gelehrter wurde. Und das Gespräch der Männer abends unter dem Dorfbaume, wo die kleine Wasserpfeife, die Houkha dampft und gurgelt, erscheint oft in der Erinnerung interessanter, als die gelehrten Abhandlungen in der Akademie oder die feingeschliffenen Tischgespräche mit den vornehmen Ladys beim Galadiner.

Es kommt die Sehnsucht nach Hause. Es ist Frühlingsfest. Millionen Menschen sind in Bewegung. Da wirft der Gelehrte die elegante europäische Tracht ab. Ein sauberes Hüftentuch hüllt den Unterkörper, eine schmucke rote Jacke den Oberkörper ein. Der aus geknotetem Tuche gewundene Turban deckt das Haupt. Die eine Hand führt ein Bambus, die andere ein Päckchen Lebensmittel, und im Abteil 3. Klasse fährt des Kleinbauern Sohn heim und neigt sich in Demut und Liebe vor seinen Eltern. Wahrlich, die deutsche Jugend, die leider so wenig mehr Achtung vor einem grauen Haupte hat, sollte sich daran ein Beispiel nehmen! –

Auf den Bahnhöfen drängen die Massen. Ungeniert lagern die Familien auf den breiten Bahnsteigen, oft die ganze zaubervolle, indische Nacht hindurch. Man lebt von mitgebrachten Vorräten, denn die Hauseinrichtung an Geschirr wird mitgeschleppt. Bisweilen donnern und wettern die riesigen Gurkhapolizeisoldaten auf »die schwarzen Schweine« los, aber im allgemeinen geht es gemütlich mit Lachen und Scherzen ab. Nun fährt der Zug ein, der die Wartenden mitnehmen soll, und ein Lärm erhebt sich, als sei die Hölle losgelassen. Die Kinder kreischen, um nur die Eltern nicht zu verlieren, alles rennt, ruft, drängt, schreit. Ungeschickt können manche die Abteiltüren nicht öffnen, sie schieben die Kinder, auch wohl eine dicke Bauerfrau durch die Fenster. Beamte und Soldaten helfen den Zeternden nach. Endlich ist alles eingepackt, das Abfahrtszeichen ertönt, der Zug setzt sich in Bewegung. Trotz der Gluthitze, trotz der zum Teil entsetzlichen Luft in diesen Abteilen ist jeder vergnügt. Die Kinder bekommen Zuckerwerk, Kuchen wird genascht, die Zeit vergeht. Dieser oder jener schläft, so rast der Zug durch die indische Ebene mit ihren Dörfchen, uralten Tempeln, kleinen Wäldchen. Herden von Gazellen traben graziös davon, doch die breitgehörnten Ochsen, die der Bauer im Pfluge, wie vor Jahrtausenden seine Vorväter, führt, sehen nicht nach dem Zuge hin. Sie wissen, er kommt alle Tage und tut ihnen nichts zu Leide. –

Weiter und weiter donnert der Zug. Jetzt werden die Schläfer munter. Es ist in frühen Morgenstunden. Jeder sorgt für sein Äußeres, ohne sich um die Reisegefährten zu kümmern. Mächtige Bauten tauchen auf: die heiligen Tempel. Ein seeliges Erbeben durchschauert die Herzen der pilgernden Hindus: Benares liegt vor ihnen, und drüben schimmert, ein silbernes Band in der goldigen Morgensonne, der Ganges, der heilige Strom. –

Wie eine ungeheure Schutzmauer erhebt sich nördlich von Indien, es hütend und hegend, das Himalaja-Gebirge. General Russe hatte seine Bedeutung für Indien bereits in seinem Vortrage in der geographischen Gesellschaft in London erläutert. Jetzt, auf der Eisenbahnfahrt, hatte er auf Bitten seiner Gefährten noch Näheres darüber berichtet, das sich etwa in folgendem zusammenfassen läßt.

Ganz Asien ist mit mächtigen Gebirgen bedeckt. Ungeheure Gewalten müssen beim allmählichen Erkalten unserer Allmutter Erde die Verwerfungen und Falten in ihrem Antlitze hervorgebracht haben, welche wir heute als die riesigen Gebirge anstaunen. Im Pamir, dem Dach der Welt, strömen all diese Gebirgszüge zusammen. Von ihm gehen die mächtigen Gebirgsketten aus, Tianschan im Norden, Kuenlün in der Mitte, und durch den Karakorum mit dem Dach der Welt eng verkettet im Süden der Himalaja.

Das Wort kommt aus dem Indischen und bedeutet Heimat des Schnees, denn Him heißt Schnee und álaja Sitz. Das Dach der Welt weit überragend stehen diese ungeheuren Schutzmauern da. Ungeheure Gletscher dehnen sich auf ihnen, höllentiefe Abgründe und Schluchten sind in sie eingeschnitten. Verhältnismäßig jung sind diese Bergmassen, deren höchster der Mount Everest ist, der Tschomo-lugma, die Mutter der Erde. Hinter dem Himalaja, der ungeheuren Schutzwand für Nepal, Tibet und Indien erhebt sich noch eine zweite, niedrigere, der Transhimalaja. Dem großen Schweden Swen Hedin zu Ehren, der sich um die Erforschung dieser Lande unsterbliche Verdienste erworben hat, nennt die neuere Erdkunde diese Bergkette Swen-Hedingebirge. Beide Bergketten gehen in ihrer Richtung gleichlaufend von Osten nach Westen, aber in leichtem Bogen, der nach oben geöffnet ist. Die gesamten Verwerfungsfalten Innerasiens, die wir um diese Hauptketten gelagert finden, verlaufen sämtlich in einer Bogenform, wenn auch nach allen Richtungen der Windrose. Wir müssen uns den Vorgang etwa so erklären, wie wenn ein praller, schöner Apfel allmählich eintrocknet. Dann wird die vorher glatte und glänzende Oberhaut faltig, runzlig, »schrumplig« (von schrumpfen), wie man volkstümlich sagt. Die Verwerfungen, die Gebirge sind da. Und ist es denn beim menschlichen Antlitz anders? Sieh den Kopf des Kindes, des Jünglings, des blühenden, jungen Mädchens, und vergleiche damit die gekerbten Wangen des Greises, der ehrwürdigen Matrone. Das Leben schlug die Narben allmählich im langsamen Verbrauche der Kraft, im Erlöschen des Daseinslichtes, genau wie es bei der Mutter Erde geschieht. Aber, man denke nie, daß gewaltsame Ereignisse in wenigen Augenblicken sich abspielten. So wie der Apfel in Wochen eintrocknet, so wie das Antlitz des Menschen in 70 Jahren verrunzelt, so haben Jahrmillionen dazu gehört, jene Runzeln beim allmählichen Erkalten unseres Planeten zu schaffen, die wir heute als die ungeheuren Gebirge anstaunen, derem höchsten Gipfel die Expedition gilt, der Kampf mit dem Riesen!

Und seltsam: die jüngsten Berge der Erde, vor denen wir in Asien staunend stehen, sie sind am meisten der Verwitterung, dem Verfalle ausgesetzt. Die Wolken hängen an ihnen, Flügel riesiger Ungeheuer nach altindischer Schöpfungssage. Sie gießen ungeheure Wassermassen auf sie herab, welche die mächtigen Abgründe, Schluchten und Schrunde einschliffen. Sie geben die Wasser her zu den drei Riesenströmen, die das indische Flachland bewässern: im Westen der Indus, in der Mitte der heilige Ganges, und an der Ostecke der Brahmaputra, die Blume des Brahmanen. Alle drei ergießen ihre Wassermassen in den Indischen Ozean, die beiden letzteren – der Ganges mündet bei Kalkutta in das Meer – stehen oberhalb der Mündung in Verbindung miteinander. Da wo der Ganges aus der südlichen Richtung fast nach Osten umbiegt, liegt nicht weit das altberühmte Delhi.

Der Indus setzt sich am Fuße der Berge aus fünf Strömen zusammen. Das Land zwischen ihnen heißt Pandschab oder Fünfstromland. Die ungeheuren Wassermassen, die es durchströmen, die Feuchtigkeit aus den Niederschlägen, die dreizehnmal stärker sind im Jahre als die über Deutschland niedergehenden, die Sonnenglut Indiens haben in den ungeheuren Sumpfgebieten des Pandschab ein fabelhaftes Pflanzenwachstum erzeugt, und dieses Gebiet gilt als der Brutherd für alle Seuchen, die über die Erde gehen. Das Gleiche nimmt man an von dem Gangesdelta.

Großartig und wild sind die Landschaften oben in den Bergen, aus denen die Ströme entspringen.

Zwischen den beiden Mauern, dem Himalaja und dem Transhimalaja liegt jenes geheime Gebiet, das für Millionen von Menschen der Erde größte Heiligtümer birgt: der heilige See Manasarowar und der heilige Berg Kailas. Unweit dieser Stätten entspringen die Riesenströme.

Und gewaltig ist das organische Leben, das am und auf dem Himalaja sich entwickelt hat. Pflanzenwunder entsprießen an seinem Fuße, blühende Rhododendron, wie Bäume groß, duften, Edelweiß grüßt, die Rose lockt, während am übervollen Baume die köstliche Süßkirsche, und der Boden hundertfältige Frucht an Hirse, Reis, Mais, Tee und Kakao, Baumwolle und Arzneipflanzen spendet.

Mächtige Tannen ragen gleich schlanken Säulen empor, umrankt von farbig blühenden Lianen, deren duftende Blüten in der Nacht zauberhaft leuchten. Und im träumerischen, von smaragdgrünem Rasen umgebenen See steht die Wunderblume des Zauberlandes, die geheimnisvolle Lotus.

»Die Lotusblume ängstigt
Sich vor der Sonne Pracht,
Und mit gesenktem Haupte
Erwartet sie träumend die Nacht.

Der Mond, der ist ihr Buhle,
Er grüßt sie mit seinem Licht,
Und ihm entschleiert sie zagend
Ihr frommes Blumengesicht.

Sie blüht und glüht und leuchtet,
Und starret stumm in die Höh'.
Sie duftet und weinet und zittert
Vor Liebe und Liebesweh.«

So schildert in unnachahmlicher Schönheit der deutsche Dichter Heine die seltsame Blume, die dem Inder stets das Zeichen und Symbol des geheimnisvollen Lebens ist.

Höher hinauf werden die Pflanzen niedriger, sie passen den veränderten Lebensbedingungen sich an. Das Edelweiß wird zierlich, wie in den Alpen, endlich bedecken nur noch Moose und Flechten als dünner Überzug den Felsen, bis die ungeheuren Gletscher jedes organische Leben unter ihrer Eisdecke ersticken. Wie gewaltig aber doch im Herzen Asiens das organische Leben arbeitet, das beweist die Tatsache, daß auf den Moränen der Gletscher eine üppige Vegetation sprießt.

Die Tierwelt hat ebenfalls in den Flußgebieten zu hohem Leben sich entwickelt. Schwerfällig trottet der Elefant daher, den der Inder für weiser und klüger als den Menschen hält. Aus dem Dickicht brüllt nachts die furchtbare Stimme des Tigers, des entsetzlichen Räubers, der Mensch und Tier nicht schont, der aus Lust am Töten mordet und der nur eins nach Katzenart fürchtet: »die rote Blume«, das Feuer am Dorfe oder im Lager. Wehe dem Dorfe, das sein Feuer ausgehen läßt: Tod und Entsetzen dringen in seine armseligen Lehmmauern ein. Schlangen, darunter die gefürchtete Klapperschlange, die Brillenschlange ringeln sich im Grase oder von den Bäumen herab. Schreiend flüchten die Affen vor dem tötenden Bisse, den sie wohl kennen, besonders die als heilig gellende Art Hanuman. Wenn die Hitze zu sehr brütet, wenn die Giftdünste steigen, dann ziehen die Affen in die Berge. Mächtige Tausendfüße schleichen unheimlich daher, riesige Insekten flattern. Der kleine, bunte Fluchdrache, die geflügelte Eidechse, schwingt sich, Käfer haschend, von Ast zu Ast, der Webervogel baut sein Nest, wie vor Jahrtausenden, und in vielen hundert Metern Höhe schwebt scharfäugig der Geier, zu spähen, was drunten vorging. Beim Menschen aber, besonders beim Europäer, ist als Freund und Schützer der kleine Mongus, halb Füchschen, halb Eichkatze, mit rosiger Schnauze und klugen Schwarzaugen, neugierig, aufmerksam, mutig, gewandt, wohl das reizendste Haustier der Erde. Er nimmt mit der Giftschlange den Kampf auf und besiegt sie.

Höher hinauf in den Bergen finden sich Tiere, die vortrefflich der Umgebung angepaßt sind und dem Bewohner des Landes große Dienste leisten. Sie sollen auch im Kampfe um den Riesen wichtige Rollen spielen, denn ihnen muß teilweise bis zu gewissen Höhen die Beförderung des Proviants, der Geräte, kurz des großen Gepäcks der Expedition anvertraut werden. In den Dörfern werden zahme Schafe gezüchtet, die besonders gern zum Salztransport benutzt werden. In den geschlossenen Seen Hochtibets findet sich viel Salz, das die Landesbewohner zu gewinnen verstehen. Es wird auf Schafen in Säcken nach Indien hinabtransportiert und dient dort als Zahlungsmittel für Getreide und andere Gebrauchsartikel, die die geduldigen Schafe dann wieder auf ihrem Rücken in die Hochgebirgsdörfer hinaufschleppen.

Als ebenfalls nützliches Arbeitstier sowohl beim Landbau wie zum Transport dient der Jak oder Grunzochse. Er ist dunkelzottig behaart, hat einen Buckel und der Körper fällt nach der Hinterseite zu ziemlich flach ab. Seine Hörner sind stark und weit ausladend. Im allgemeinen lenksam und arbeitswillig, kann er, wenn er in Wut gerät, sehr gefährlich werden. In der Wildheit, wie er im nördlichen Tibet vorkommt, ist er außerordentlich gefürchtet, da er bisweilen ohne weiteres den Menschen angreift, ihn mit den Hörnern spießt oder den Niedergerannten mit den Hufen zertrampelt.

Ein weit sanfteres Geschöpf unter den Säugern des Himalaja ist das Argali, dessen Zähmung allerdings nur selten gelingt. Es spielt in der Natur Asiens etwa die Rolle, wie die Gemse in den Alpen Europas. Gewandte Kletterer, weiden die Argali in gewaltigen Höhen. Wundervoll sind ihre fast weißen, gewundenen Hörner, die gerippt sind, und entlang den Backen sich drehen. Bisweilen werden Exemplare beobachtet, bei denen zwischen den weißen Seitenhörnern noch von der Stirn nach oben zwei leicht gebogene, schwarze, glatte Hörner stehen, ein Naturspiel, das bisweilen auch bei unseren Ziegenböcken vorkommt.

Ein ganz seltsames Geschöpf des Himalaja ist das Moschustier, das im ersten Anblicke unserem Rehwilde zu ähneln scheint. Es weidet bis hoch hinauf in die Schneeregionen, kommt aber auch ganz regelmäßig in Rudeln zum Äsen in die tieferen Regionen herab. Ein Gehörn fehlt ihm, dafür stehen aber zwei gewaltige Ohren am Kopfe hoch empor und geben dem Tiere ein seltsames und wunderliches Aussehen. Eine besondere Eigentümlichkeit jedoch, um derentwillen dem Tiere auf das eifrigste nachgestellt wird, und dem es auch seinen Namen verdankt, ist eine Drüse, Moschusbeutel genannt. Letzterer, der im Handel teuer bezahlt wird, enthält jenen eigentümlichen Stoff, der als Parfüm und in der Arzneikunde verwendet wird und Moschus heißt. Sein durchdringender Geruch ist bekannt, und geringe Mengen davon genügen, um für lange Zeit Menschen oder Gegenstände damit zu sättigen. Als Waffen haben die männlichen Moschustiere im Oberkiefer zwei mächtige Eckzähne, die sichelartig hervorstehen.

Eine seltsame Bärenart, der Himalajabär, kommt ebenfalls bis in die Hochregionen vor. Er heißt wegen eines weißen Halskragens, den er vorn trägt, auch Kragenbär; die Bezeichnung Tibetbär ist ebenfalls eingebürgert. Auf den ersten Anblick macht er einen ganz gemütlichen Eindruck, doch kann er auch sehr unangenehm werden und hat schon manchen Jäger selbst zur Strecke gebracht. Was ihn vor anderen Bären auszeichnet, ist die Kunst des Kletterns, die ihn bis in die Wipfel der höchsten Bäume hinaufführt. Er ist im allgemeinen Krautfresser, wenn er auch bisweilen einmal ein Rind oder Schaf als gute Beute annimmt.

Neben den aufgezählten Säugern kommen auch die kleineren der Tropen- und arktischen Welt vor: Ratten, Hasen, Wölfe, Igel, Stachelschweine und sonst alles, was dorthin gehört, treibt auf dem gewaltigsten Berglande der Erde sein Wesen, findet seine Nahrung und ist auf Fortpflanzung der Art bedacht.

Die Vogelwelt ist zahlreich vertreten. Die farbenstrahlenden Pfauen wandeln stolz im Prunkgewande daher, Tauben gurren, und schnatternd watschelt die Ente neben dem gackernden Huhn. Doch in das Wasser der Flüsse dürfen sich Gänse und Enten nur vorsichtig wagen. Denn dort lebt das Ungeheuer der tropischen und besonders der indischen Wasseradern, das Krokodil. Still liegt es unter dem Wasser, träge wie ein Baumstumpf. Es hat sich bis zum Platze am Dörfchen herangeschoben, wo die jungen Frauen und Mädchen die Wäsche waschen und bisweilen ein Bad nehmen. Nur die Atemlöcher sind sichtbar als dunkle Flecken und die kleinen, schmalgeschlitzten, tückisch blickenden Augen.

Scheu sich umblickend steigt eine junge Frau in das Wasser. Sie ist vor kurzem zum ersten Male Mutter geworden. In der uralten, kleinen Kapelle des Dorfes hat sie der Göttin der Fruchtbarkeit gedankt und dem greisen Priester, dessen zitternde Hand sie segnete, in schön gearbeiteter Holzschale, die ihr Gatte in der langen Regenzeit schnitzte, die schönsten Früchte ihres Gartens und Feldes, gekochten Reis und kleine Fische gespendet. Nun will sie das Bad nehmen, das ihr Hinduglaube ihr vorschreibt. Frommen Herzens tritt sie auf die flachen Steine, die zum heiligen Gangeswasser führen. Schon netzt die geweihte Welle ihre zarten Schenkel. Sie denkt der Ururgroßmutter, die einst denselben Weg ging, froh schaut sie in ihres Kindes Zukunft, da rauscht das Wasser. Ein riesiger Hechtkopf erscheint. Zwei ungeheuere Kiefer, besetzt mit fürchterlichen Zähnen, öffnen sich, das Krokodil hat sein Opfer gepackt und schleppt es, während das Wasser sich rötet, zu einer kleinen Strominsel, um sein scheußlich Mahl zu halten. Wohl hörte man im Dörfchen der Unglücklichen markerschütternden Schrei: helfen konnte keiner. – –

Das alles hatte General Russe seinen Reisegefährten allmählich vorgetragen. Den Herren, besonders Kallory und Gerving, war ja das meiste bekannt. Die Damen aber standen hier vor etwas vollkommen Neuem, und sie versenkten sich mit ganzer Seele in das Studium des Zauberlandes.

Auch Kjel, der jetzt das Englisch fast vollkommen verstand, hatte stets aufmerksam den Vorträgen des Generals gelauscht. Alles hatte ihn auf das höchste interessiert. Als aber zum Schlusse warnend Russe von den Krokodilen erzählte, da sagte er doch in einer stillen Stunde zu Zönlund:

»Dunnerlüchting, so'n oll Krokodil! Wat is dat doch vörn Beest. Wenn ick denke, ick hatt' so bi Stettin in uns Oder gebad't un so'n Undirt hett mi packt! Brr!«

»Joa, mien Söhning,« lachte der Doktor, »dunn hattst du kein Zahnwehtag mihr! Süh di bloß vör!«

»Dat dau ick all,« meinte der treue Pommer. – Und nun war man in Benares. Autos standen bereit und trugen die Mitglieder der Expedition durch die menschenwimmelnden Straßen in das Europäerviertel, in dem ein völlig modernes Hotel sie aufnahm.

Schnell war der Reisestaub beseitigt, frische, weiße Anzüge waren angelegt, und die Damen und Herren versammelten sich zu gemeinsamem Mahle im Saale des Hotels. Bevor General Russe aber zu Tische ging, sollte ihm noch eine Freude werden. Einer der indischen Diener verneigte sich und flüsterte ihm etwas zu, worauf der General fröhlich rief: »Sofort kommen! Sofort!«

Gleich darauf meldete sich ein bildschöner, riesiger Gurkhaunteroffizier bei ihm. Die feingeschnittenen, blaßgelben Gesichtszüge umrahmte ein dunkler, gut gepflegter Bart. Der krebsrote Waffenrock mit den vergoldeten Knöpfen saß wie angegossen an dem wohlgebildeten Oberkörper, und selbst die Beine, sonst beim Inder dünn, ja im Unterschenkel häufig leicht gekrümmt, waren lanzengrade, mit gut entwickelter Wadenmuskulatur und in die dienstmäßige, tadellos sitzende Wickelgamasche gehüllt. Ein gewaltiger Turban deckte das Haupt und gab der imposanten Erscheinung nach oben hin einen prächtigen Abschluß. Blendend weiß war das Lederzeug, an dem das wie Gold gleißende Seitengewehr hing. So stand der Riese, das Urbild eines prächtigen Soldaten, vor dem General in strammster Haltung, der ihn mit freudigen Blicken musterte und ihm dann herzlich beide Hände entgegenstreckte, die der Inder schüchtern ergriff und küßte.

»Mein lieber Unteroffizier Tejbir! Sie treuer Mensch,« rief der General mit vor echter Herzensfreude bebender Stimme, »was bringt Sie zu mir in der ersten Stunde meines Aufenthaltes in der heiligen Stadt!?«

Es wird vielleicht befremden, daß der hohe englische Offizier hier mit dem armen Inder so herzlich verkehrt. Aber jeder gute Offizier –, auch in der preußischen Garde war es so, hat seine Leute lieb, schätzt und hütet sie als kostbares Gut, als die Manneskraft seines Volkes, die ihm anvertraut ist. In noch größerem Maße wird dies der Fall sein, wenn gemeinsame Gefahren von beiden geteilt sind. Das ist die Kriegskameradschaft, die einmal gewonnen, ein Seelenband für das Leben knüpft! Und Russe hatte mit Tejbir Seite an Seite gefochten, ebenso wie Kallory und Gerving. Hatten sie doch gemeinsam die ersten Vorstöße gegen Tschomo-lugma versucht, hatte doch Tejbir im Kampfe mit dem Riesen schon das Seine getan. Jetzt erwiderte er auf die Frage des Generals:

»Ich sah Sie mit den andern Herrschaften am Bahnhofe. Da mußte ich hierher eilen. Was kann wohl General Russe nach Indien rufen, was kann die anderen Herren hierher ziehen, als die Mutter der Erde? Und darf Tejbir da fehlen?«

Russe sah ihn ernst an. Dann sprach er: »Ich kenne Sie. Alles ist tiefstes Geheimnis! Das merken Sie vor allem! Sie kommen mit! Seien Sie morgen früh um 8 Uhr bei mir!«

Ein Händedruck, eine kurze Kehrtwendung, dann schritt der Inder stolzen, elastischen Schrittes aus der Vorhalle, Russe betrat den Speisesaal.

Lächelnd kamen ihm die Ladys entgegen, und die sonst ernste Martha Heresford sprach zu ihm, während Alice Wildermoore ihn heiter unter den rechten Arm faßte:

»General! Was soll das! Kaum sind wir recht in Indien, da geht das Geheimtun an! Was war das für ein Riese dort draußen im roten Rocke. Kallory und Gerving tun auch, als wüßten sie nichts, nun, und Dr. Zönlund ist erst recht ein Kind im Westerhemdchen!«

»Ja, meine Damen,« lachte der General, »das ist hier so. Sie sind im Zauberlande Indien. Ich habe für Sie auch noch eine Überraschung heute, und damit wird hoffentlich gut gemacht, was ich versäumte. Nun aber wollen wir das indische Nationalgericht Reis mit Huhn und Curry essen, wollen einen Whisky mit Soda trinken und dann –«

»Dann?« riefen die Damen. »Kommt die Überraschung,« schloß der General und führte die Ladys zum Tische, wo sich die Gesellschaft schnell niederließ und den von den Indern servierten, eigenartig schmeckenden Gerichten alle Ehre antat.

Den doch verwöhnten englischen Damen fiel die große Fülle der Dienerschaft auf, die zur Verfügung stand. Auf jeden Blick schon eilten die schneeweiß gekleideten, braunen Burschen heran und suchten jeden Wunsch den Gästen an den Augen abzulesen. Der Raum war verhältnismäßig kühl, denn mächtige Schalen mit Kunsteis waren allenthalben aufgestellt, und ebenso plätscherten verschiedene Fontänen im Saale.

Die Unterhaltung wurde der Inder wegen norwegisch geführt, und da kam denn von seiten der Damen die Frage zur Beantwortung, ob der Europäer sich so ruhig und ohne Sorge der indischen Dienerschaft überlassen könne. Kallory und Gerving machten bedenkliche Gesichter, auch Russe sah ernst darein und sprach nach einigem Nachdenken etwas zögernd:

»Ja, Myladys, diese Frage zu beantworten ist so ohne weiteres nicht leicht. Sehr viel kommt natürlich gerade wie bei uns zu Hause, auf die Behandlung der Leute an. Wer gerecht und gütig zu ihnen ist, wer an ihren kleinen und großen Leiden teilnimmt und zu lindern und zu helfen sucht, wo er kann, der wird auch unter der braunen Haut dankbare Herzen finden. Aber der Hindu schließt sich im allgemeinen an den Europäer schwer an, denn seine Seele trennt eine Welt von ihm: seine Religion! Für heute nur so viel: Vorsicht, größte Vorsicht im Verkehr mit den Eingeborenen. Unsere Gerichtsakten weisen da Dinge auf, vor denen uns Europäern die Haut schaudert, und an denen wir vor Abgründen der menschlichen Seele stehen, deren Tiefe wir nicht ermessen können. Der indische Diener ist vielleicht scheinbar der ergebenste Freund seines Herrn. Und doch lauert unter der Maske der Ergebenheit der Todfeind, der eines Tages, oft nach Jahren, den Herrn eines entsetzlichen Todes sterben läßt. Denn in vieler Inder Seele, in Millionen und Abermillionen lebt der gräßlichste Aberglaube!«

»Aberglaube?« echoten die beiden Damen mit erstauntem Fragen und sahen die Herren der Reihe nach an. Kallory und Gerving verbeugten sich zustimmend, und auf eine Aufforderung von General Russe erzählte Gerving, daß viele Inder an den bösen Blick glaubten. »Sie meinen,« fuhr er fort, »daß ein Blick eines Europäers ein Kind z. B. derartig bezaubern könne, daß es langsam dahinsieche, von einer Schlange gebissen, einem Tiger zerrissen oder einem Krokodil ins Wasser gezogen würde. Dann ist nach dem Glauben der Eltern, wenn solch ein Unglücksfall eintritt, der Europäer der Schuldige, und nun kommt die Rache. Und die ist oft furchtbar, nicht wahr, Kallory?«

»Allerdings,« bestätigte dieser. »Es kommen brutale Morde vor, oft genug, besonders wenn indisches Küchenpersonal dabei tätig ist, wird noch eine weit entsetzlichere Rache geübt. Doch das möchte ich bei Tische den Ladys nicht erzählen.«

»O, Mister Kallory,« sagte Lady Alice feurig, »wir sind zu Kampf und Gefahren ausgezogen. Wir können alles hören!«

»Und um so besser sind wir gewappnet,« fiel Martha Heresford ein, »wenn wir die Gefahren kennen, die uns umgeben und denen wir entgegengehen.«

»Nun, mit solcher Erlaubnis dürfen Sie schon sprechen,« schaltete Doktor Zönlund lächelnd ein. »Denn ich muß sagen, ich brenne auch vor Neugierde.«

»Wohlan denn,« sprach Kallory entschlossen. »Es gibt eine indische Pflanze, die die Eingeborenen genau kennen. Ihr hohler Stengel ist mit einer Innenhaut ausgekleidet, die feinste Stacheln trägt. Diese Stachelhaut wird sorgsam abgehäutet, fein zerkleinert, doch so, daß die Stacheln nicht leiden, und dann in kleinen Portionen den für die Europäer bestimmten Speisen, besonders Reis, Puddings und Kuchen beigemischt. Die kleinen Stacheln verwunden den Darm. Es kommt allmählich zu Entzündungen, Blutungen, Siechtum und allmählich geht das unschuldige Opfer des Aberglaubens unter schrecklichen Qualen zugrunde.«

Kallory schwieg und es herrschte an dem Tische eisiges Schweigen, denn auch die tapferen Ladys standen so Furchtbarem zunächst wie betäubt gegenüber.

Dann aber raffte sich Lady Alice gewaltsam auf und fragte:

»Und unsere Ärzte?«

»Sie fragen,« erwiderte Russe, »bei Darmkrankheiten heute zunächst nach etwa vorgekommenen Unglücksfällen bei der Dienerschaft und entfernen sofort das indische Küchen- und Pflegepersonal. Häufig gelingt dann die Rettung der Patienten. Aber, nun lassen wir das! Einen Schluck auf Altengland und dann –«

»Ihre Überraschung!« riefen die Damen.

Man stieß lachend mit den Gläsern an. Alle waren wie von einem Alb befreit, und der General rief heiter:

»Ja! Die soll Ihnen werden! Heute sind wir noch freie Leute auf Reisen im Zauberlande Indien. Morgen habe ich die Kommissare bestellt, das Personal bis Lhasa wird zusammengestellt, der Dienst beginnt. Es ist 6 Uhr nachmittags, um 7 Uhr ist es dunkel, denn schnell senkt die herrliche Tropennacht ihren silbergestickten Schleier über das Land der Sonne. Kleiden wir uns um, oft wird der Abend kühl, Myladys. Kleine Wagen stehen um 7 Uhr vor der Tür: wir fahren hinunter zum Ganges und sehen die heilige Prozession der Inder.«

Entzückt klatschten die Damen in die Hände und dann trennte man sich, um zur rechten Zeit in die Wagen zu steigen. Es waren europäisch gebaute Einspänner, von europäischen Kutschern, die lange Zeit in Indien lebten und Benares besser kannten, als London, gefahren. Im ersten Wagen nahmen Lady Alice, Russe und Zönlund Platz, Kjel saß neben dem Kutscher; im zweiten waren Lady Martha, Kallory und Gerving untergebracht. Auf dem Bock saß beim Kutscher der riesige Gurkha Tejbir. Er hatte, anhänglich wie ein Hund, von dem Plane des Generals erfahren und diesen so lange gebeten, bis er die Mitfahrt erlaubte. Doch hatte Tejbir den Rock des Königs ab- und dafür die Tracht seines Volkes anlegen müssen, was er mit dem Inder angeborenen Findigkeit und Schnelle fertiggebracht hatte.

Als die Reisenden aus dem Hotel in das Freie traten, empfing und umfing sie der unbeschreibliche Zauber der Tropennacht. Dunkelblauer Sammet schien das Himmelsgewölbe zu bekleiden, an dem rotgolden die mächtige Scheibe eines Mondes hing, wie das Auge des Europäers nie ihn sieht. Und der Sammet des Himmels war bestickt mit Sternen, deren Glanz in funkelnder Pracht das Auge blendete und immer wieder entzückt hinaufschauen ließ zu den geheimnisvollen Wundern des Weltalls. Aus den Gärten kamen Duftwellen von Blumen her, deren Farbenpracht im Glanze der Wagenlaternen aufleuchtete. Süßlautend sang die Nachtigall ihr schmelzendes Sehnsuchtslied, und über all dem Herrlichen auf Erden standen die scharfen, so unsagbar schönen Schattenrisse der Palmen mit ihren zartgefiederten, durchsichtigen Blättern!

O, Indien! Wonniges Zauberland! Heimat unseres arischen Volkes und darum unstillbare Quelle unserer Sehnsucht, unserer Träume! – –

Die Wagen rollten an. Geschickt wußten die Kutscher sie durch das Gewühl hindurchzulenken, denn ein Gewühl im wahrsten Sinne des Wortes war jetzt in der Hauptstraße, die direkt zum großen Tempel am Ganges hinabführte. Kaum zählbare Stände mit Verkaufsgegenständen faßten rechts und links den Weg ein. Da gab es Götterbilder, bunt bemalt und vergoldet. Ihre Geburtsstätte lag in Galizien, wo der strebsame Kaufmann sie herstellen ließ und sie dann nach Indien sandte, damit der fromme Hindu vor ihnen sein Gebet im Glauben auf Erhörung spreche. Zuckerwerk, Kuchen und sonstiges Naschwerk ist in großen Mengen aufgehängt. Es sind das vielbegehrte Artikel, denn der Inder liebt seine Kinder, die er zum Feste bei sich hat, und sie erhalten ebenso ihre Gaben, wie unsere Kleinen zu Weihnachten und Ostern.

»Ein Märchen aus tausendundeiner Nacht«, sagte Lady Heresford zu Gerving, der ihr schweigend zunickte.

Jetzt tönten aus dem Tempel donnernd und dröhnend die Gongs, die mächtigen, runden Metallplatten, die von den Priestern geschlagen, den Gläubigen anzeigten, daß die Stunde der Andacht gekommen sei.

Vor vielen Häusern, deren Tore mit Blumen geschmückt sind, bilden sich Festzüge. Die Dienerschaft oder eine gemietete Musikbande tritt an die Spitze. Hat das Haus, die Familie, noch alte Waffen aus vergangenen Tagen, am Festabende werden sie, köstlich geputzt, getragen. Der Hausvater, reich geschmückt, hilft der Ehefrau in die alte Sänfte, den Palankin. Sie ist geschminkt, so stark oft, daß es durch den Schleier zu sehen ist. Sind erwachsene Söhne im Hause, so ist es eine Ehre für sie, die Mutter zu tragen. Studiert gar ein Sohn in Kalkutta, so ist er in die Heimat geeilt. Lehrer und Freunde brachte er mit: alle, auch die Verwandten, jung und alt, von fern und nah, reich und arm, stellen stolz sich zum Zuge auf: heute sind alle gleich, denn es ist der Festtag der Menschen zu Ehren und durch die Gnade der Götter.

Und nun herrscht Schweigen. Die Blicke senken sich, viele fallen nieder: der alte Hauspriester naht und bringt die blumenbekränzte Statue des Gottes an. Sie wird auf ein mit Lämpchen beleuchtetes Brett am Ganges gesetzt. Schwimmt das Brett lange, bedeutet es Glück für das Haus, schwimmt es nur kurze Zeit, dann droht dem Hause Unheil. –

Alle segnet der Priester, dann tritt er in den Zug, und dieser setzt sich unter feierlicher Musik und Hymnengesang in Bewegung. Nachbarn und Freunde schließen sich an. Aus allen Straßen kommen die Züge. In der großen Straße treffen sie sich. Die Rinnsale werden zu Bächen, die Bäche zu Flüssen, die Flüsse zum Strome. So langt die gewaltige, tausende und abertausende von Menschen zählende Prozession am Ganges an.

Auf einem freien Platze, dem großen Tempel gegenüber, waren auf Befehl von General Russe die beiden Wagen aufgefahren. Es hielten dort noch zahlreiche Fahrzeuge, doch keine Autos. Die englische Regierung nimmt in sehr kluger Weise auf die Religion der Inder die größte Rücksicht und hat nur deren Auswüchse, z. B. die Witwenverbrennung verboten. Es wird keine Störung der Religionen durch Europäer geduldet, sondern jeder zur Anzeige kommende Fall wird streng bestraft. Weil die knatternden und oft qualmenden Autos die indischen Priester zu Beschwerden veranlaßten, auch auf den Aberglauben des Volkes Rücksicht zu nehmen war, wurde die Benutzung von Kraftwagen bei den Prozessionen für die Zuschauer untersagt.

Diese Erklärungen gab Russe seinen Begleitern, während diese, besonders die Damen, staunend das gewaltige Bild, das sich ihnen bot, in sich aufnahmen.

Der riesige Tempel, der auf einem gigantischen Bau von Treppenstufen sich erhob, war in all seinen Formen mit kleinen Lämpchen besetzt, in denen Butter brannte. Die Tempel der Inder sind an den Außenmauern mit außerordentlich viel Zierraten, die kunstvoll in die Steinwände gemeißelt sind, bedeckt. All diese zahlreichen und verschiedenen Formen waren nun mit den still glühenden Lämpchen bedeckt. In der stillen Tropennacht brannten sie ohne zu flackern und zu rußen, und zogen sich wie glühende Perlenschnüre um die Formen des ragenden Tempels, die dadurch um so schöner hervortraten.

Und nun wogte die Prozession straßenbreit heran. Schmetternd erschallte in uralten Weisen die Musik, jauchzend und jubelnd stieg der Gesang der Tausende zum Tropenhimmel empor. Ein besonders eigenartiges Bild aber zeigte sich am Ganges. Mächtige Stufen führten von einer Tempelfront zum Wasser hinunter. Tausende von Gläubigen bedeckten die Stufen. Langsam schoben die Massen sich hinunter zum heiligen Strom, um dort das Pilgerbad zu nehmen. Heute fürchtete niemand die greulichen Schuppenechsen der Tiefe, die Krokodile, denn die sonst so feigen Bestien zogen bei dem Lärm der Feier schnell stromaufwärts. Und zwischen den Badenden, unter denen viele Heilung von schweren, ekelerregenden Krankheiten gläubigen Herzens suchten, standen die Jünglinge mit den Lampenbrettchen. Der Hausgott, umstrahlt von den Butterflämmchen, ward vorsichtig auf das Wasser gesetzt, und dahin schwamm das zukunftkündende Brett. Immer dichter wurden diese kleinen Flotten, und wenn die Tausende von Lichtern so den heiligen Strom hinabglitten, so war es, als seien die Sterne vom Himmel hernieder gefallen und schwämmen nun auf dem heiligen Strome. –

»Geben Sie acht, Myladys«, rief jetzt der General den Damen zu, »jetzt kommt der Hauptmoment des Festes.«

Alle paßten auf diese Ankündigung scharf auf. Wußten sie doch, wie Russe mit allen Bräuchen Indiens auf das Engste vertraut war. Man sah es auch den Indern an, daß etwas Bedeutendes sich vorbereite. Die Musiker stellten sich in Reih und Glied, die Züge ordneten sich aufs neue, und alle nahmen das Gesicht nach der Hauptpforte des Tempels zu. Tiefste Stille trat ein.

Da zog singend ein Zug von schneeweiß gekleideten Priestern aus dem Tempel und besetzte, in zwei Reihen einander gegenübertretend, dessen Stufen. Ihr Gesang schwoll zum gewaltigen Chore an, und mitten hinein donnerten die Schläge der Riesengongs aus dem Inneren des Tempels. Weit öffneten sich dessen Pforten, und vor den Augen der gläubigen Menge lag nun das Innere mit seinen beleuchteten Götterbildern im strahlenden Glanze da. Hell tönte die Musik, und umgeben von reichgekleideten Dienern wurde jetzt ein riesiger Elefant herangeführt. Kostbare Decken, geschmückt mit blinkenden Steinen und goldigen Stickereien, Troddeln und Fransen zierten das gewaltige Tier, das jedem Winke seines Lenkers gehorchte. Dieser saß, den Ankus, den schweren dreigespitzten Stab, mit dem der Elefant geleitet wird, auf dem Kopfe des Dschungelriesen. Hinter ihm war auf dem Rücken des Tieres ein prachtvoller Tragstuhl, fast schon ein Häuschen zu nennen, befestigt. Jetzt kniete, während Totenstille eintrat, der Elephant nieder. Eine vergoldete, reich mit Edelsteinen besetzte Leiter wurde von geschäftigen Händen an die dem Tempel zugekehrte Seite des Riesentieres gelegt, und wie mit Zauberschnelle bedeckte die Treppenstufen vom Haupttore des Tempels hinab ein kostbarer Teppich.

Es war totenstill.

Da erschien in der Hauptpforte des Tempels ein greiser Priester, barhaupt, das Antlitz durchfurcht wie eine getrocknete Kirsche. An der rechten Hand führte er einen blendend schönen Inder in reichster Tracht. Kostbare Reiherfedern schmückten den seidenen Turban, an dem wie am Kleide des Mannes die herrlichsten Edelsteine glänzten und sprühten. Der vornehme Inder neigte sich tief vor dem Alten, der segnend die Hände über ihn breitete und ihn dann auf die Stirn küßte.

Dann wies er auf den Elefanten, und der Fürst, denn das mußte dem Äußeren nach der Inder sein, stieg zwischen dem Spalier der Priester langsam und würdevoll die Treppe hinab. Die Priester sangen und schlugen die Gongs.

Danach bestieg auf dem Leiterchen der Fürst den Elefanten, nahm in dem kostbaren Tragsessel Platz, und auf ein Zeichen seines Lenkers erhob sich das kluge Tier. Auf ein zweites Kommando setzte es sich in Bewegung und schritt gemessen und ruhig um den Tempel herum. Die ganze Prozession schloß sich an, alle Gongs wurden geschlagen, alle Kapellen spielten, alle sangen und jubelten.

»So, meine Herrschaften,« sagte Russe, »das Fest hat ein Ende. Das ist der berühmte Umritt des Radschah von Deirimpur um den Wischnutempel. Jetzt lösen die Prozessionen sich auf. Wenn es den Ladys recht ist, gehen wir einmal durch die Volksmassen. Sie werden dort noch manches Interessante beobachten können. Ich bitte nur, daß die Insassen jedes Wagens eng sich zusammenhalten, falls wir etwa auseinander kommen. In einer Stunde sind wir alle wieder hier.«

Der General sprach mit Tejbir noch einige Worte. Während dieser kurzen Zeit trat Kjel zu Zönlund und sagte leise zu ihm:

»Der Kirl up den Elefanten wir de oll jele Tater von de Viktory.«

»Ick heff dat ook siehn«, antwortete der Doktor. »Swieg bloß rein still.«

Man ging. Das religiöse Empfinden der Massen war befriedigt, nun trat die Lebensfreude hell hervor. Die Butterlämpchen erloschen allmählich, dafür leuchteten auf den vielen Plätzen am Ganges schnell zahlreiche Feuer auf, um die die Sippen und ihre Freunde sich lagerten und ihr mitgebrachtes Abendbrot verzehrten. Gaukler, Tänzer, Sänger und Bettelmusikanten, Wahrsager und Zauberer erschienen und übten ihre Künste. Würdevoll schritt hie und da ein Priester, voll Ehrfurcht von den Gläubigen begrüßt, durch die Menge. Es war wie ein großes Volksfest wie bei uns auch, nur trat das harmlos Heitre, das Gutmütige, das im allgemeinen im indischen Volkscharakter liegt, wohltuend zutage. Und vor allem fehlten die Betrunkenen, die ja gerade auf unseren deutschen Volksfesten, bei Männern und Frauen, ja, in letzter Zeit in unseren ernsten Tagen sogar bei jungen Mädchen, in so widerlicher Weise sich zeigen, ganz. Da kann der gesittete Europäer wahrlich vom Inder noch viel lernen! – –

Wie es in solchen Menschenmassen geht, und wie es Russe bei seinen Anordnungen ja schon vorausgesehen hatte, kam es hier auch: die Gesellschaft war getrennt. Russe war mit Lady Wildermoore, Zönlund und Kjel in der Nähe des Tempels geblieben. Alice hatte für Baukunst großes Interesse und wollte schnell noch für ihr Skizzenbuch einige Zeichnungen gewinnen. Auch wünschte sie den Staatselefanten, der von seinem Leiter stolz gezeigt wurde, noch in der Nähe zu sehen.

Die anderen Herrschaften waren auf Wunsch von Lady Heresford bald aus den Menschenmassen heraus und zum Ganges hinunter gegangen war. Während Alice eine lebhafte Dame war, war Marta still und sinnend. Sie hatte ein tiefes Gefühl für die Schönheit der Natur und liebte von Kind an deren Stille und Einsamkeit.

Am Gangesufer war es verhältnismäßig still. Auf dem Wasser schwammen mit Lampions beleuchtete Gondeln, und ab und zu kam leiser Gesang oder verlorener Lautenklang zu den Lustwandelnden hinüber. Der Gurkha machte kein allzufriedenes Gesicht, als die Herrschaften zum Flußufer abbogen. Ja, er machte zu Gerving noch in indischer Sprache eine warnende Bemerkung, die dieser aber mit einer ablehnenden Kopfbewegung zurückwies.

Jetzt lag vor den Wandelnden ein kleiner Palmenhain, und jenseits dessen qualmte ein trübes Feuer. Ein seltsam duftender Rauch zog zwischen den Bäumen hin, und es war deutlich das Summen von Menschenstimmen zu hören.

Was es dort gäbe, wollten die Engländer noch sehen und dann zum Wagen zurückkehren. Trotz nochmaliger Warnung Tejbirs gingen die Engländer schnell durch das kleine Gehölz und standen nun vor einem seltsamen Anblick.

Auf einem rohgetürmten Scheiterhaufen lag der unbekleidete Leichnam eines Mannes und wurde verbrannt, ringsumher hockten Männer und murmelten Gebete.

»Kommen Sie schnell zurück,« flüsterte der Gurkha englisch, »es ist ein alter Begräbnisplatz der hier wohnenden Tibetaner. Nie darf eine Frau das sehen. Bemerken uns die Kerle, stehe ich für nichts ein.« Die Warnung kam zu spät! Plötzlich loderten die Flammen höher auf, die Gruppe der Engländer, besonders die Lady, waren bemerkt.

Im Handumdrehen war aus der betenden Trauergemeinde eine Horde wilder Teufel geworden. Die Engländer sahen sich von den Tibetanern umringt, sahen in wutverzerrte Gesichter, wurden mit Fäusten bedroht und, wie man an den Lauten der vor Grimm bebenden Stimmen hörte, auf das gräßlichste beschimpft und verflucht.

Da rief Tejbir:

»Ich bitte um Verzeihung! Aber sonst sind wir verloren!« Mit diesen Worten nahm der riesige Unteroffizier Lady Marta auf den linken Arm und mit der Rechten teilte er nach allen Seiten furchtbare Faustschläge gegen die Tibetaner aus, daß diese heulend auseinanderstoben. Die sportgestählten Offiziere deckten ihm mit mächtigen Boxerhieben den Rücken, und bald genug krümmten sich eine ganze Menge der Angreifer winselnd am Boden.

»Schnell fort«, rief jetzt Tejbir und rannte mit seiner kostbaren Last, die mutig in das Getümmel geschaut hatte, davon. Ungern folgten ihm Kallory und Gerving, denn das Fliehen waren sie nicht gewöhnt. Hier gebot aber die ruhige Überlegung eiligsten Rückzug, denn schon rotteten sich die Tibetaner wieder zusammen. Sie warfen mit Steinen, andere rissen Feuerbrände aus dem Scheiterhaufen und stürzten, mit diesen bewaffnet, den Flüchtenden nach. Vielleicht wäre doch noch Unheil geschehen, hätte Tejbir nicht vorgesorgt. Er hatte, da er Böses ahnte, einer berittenen Polizeistreife einen Wink gegeben, als die Herrschaften den Weg zum Gangesufer einschlugen. Die Leute hatten den Lärm und das Getümmel gehört und kamen jetzt angesprengt, worauf die Tibetaner umkehrten.

Mit der Artigkeit eines gut erzogenen Mannes setzte Tejbir Marta aus seinem Arme zur Erde und wehrte ruhig dem Dank, den die Lady und die Herren ihm aussprachen. Lady Heresford aber streifte einen kostbaren Ring vom Finger und bat ihren Retter, ihn zum Andenken anzunehmen.

Dann gingen alle zum Wagen, wo sie die andere Hälfte der Gesellschaft fanden und ihr Abenteuer erzählten. Alice war entzückt und beneidete die Freundin geradezu. Russe aber machte, nachdem er den Gurkha belobt hatte, ein ernstes Gesicht und sprach dann: »Meine Damen! Sie sehen, wir sind in Indien und nicht im Hyde-Park. Und immer ist kein Tejbir da. Nun, gute Heimfahrt und morgen erwartet England,« –

»Daß jeder seine Schuldigkeit tue«, fielen alle ein. Die Wagen fuhren zum Hotel, noch wogten die Volksmassen in den Straßen, doch schon brannten die Lampen trübe, die Blumen welkten, nur der herrliche Tropenhimmel stand über Benares, über Indien in seiner unbeschreiblichen Pracht.

Als Kjel seinem Herrn Gutenacht sagte, meinte er noch: »Na, dit wir'n Dag, doller as de Rostocker Pfingstmarkt. Un mit den ollen gelen Tater hew ick Recht!« Damit suchte er sein Stübchen auf.


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