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In den Kampf!

Pünktlich acht Uhr meldete sich am anderen Morgen Tejbir beim General. Er trug die Zivilkleidung vom Abend vorher und bekam Befehl, sofort mit dem nächsten Zuge nach Kathmandu in Nepal zu fahren, dort Quartier zu machen und für indische Träger zu sorgen. Die Kisten mit den Apparaten, Instrumenten und all dem anderen, was zu einer Expedition gehört, gingen mit demselben Zuge nach Kathmandu hinauf, und Tejbir, der ja schon die nötige Erfahrung in derartigen Arbeiten von früheren Expeditionen unter Russe hatte, sollte das Entladen der zum Teile kostbaren Geräte leiten. Russe versah ihn mit den nötigen Vollmachten und Geldmitteln, und freudestrahlend ging der treue, wackere Mann an seine Arbeit.

Kathmandu ist die Hauptstadt von Nepal, einem der Himalajastaaten, die gleich Tibet, nördlich von letzterem als unabhängiges Reich, wenn auch seit 1791 an China tributpflichtig, am südlichen Abhange des Himalaja sich entlang ziehen. Im Osten begrenzt es Sikkim, im Süden die nordindischen Provinzen, besonders Bengalen. Etwa 4 Millionen Einwohner teilen sich in die 140 000 Quadratkilometer des Landes. Der Himalaja mit seinen höchsten Gipfeln zieht nördlich durch das Land und sämtliche Flüsse, unter denen der Gandak und Kauriala die wichtigsten sind, ergießen ihr Wasser in den Ganges. Der Höhenunterschied zwischen den höchsten Berggipfeln und dem 20-50 Kilometer breiten höchst ungesunden Gebiet Tarai, dem Grenzland nach Britisch-Indien zu, beträgt 8000 Meter. Das Sanatorium Dardschilling in der Höhe von 2120 Meter, in das oft in der heißen Jahreszeit die Engländer flüchten, hat eine mittlere Jahrestemperatur von 26°. Kathmandu liegt in 1450 Meter Meereshöhe und sein Klima ist für Europäer gut erträglich. Weiter nordwärts kommt, besonders in den sumpfigen und dicht bewaldeten Gegenden, der Tiger vor. Als vor allem Nepal und dem Nebenlande Sikkim zukommende seltsame Tiergattung findet sich ein Zwergschwein ( Porcula). Mineralien, hauptsächlich Eisen- und Kupfererze, werden im Lande viel gefunden und teils verarbeitet, teils im rohen Zustande ausgeführt. Besonders werden Glocken für die tibetanischen Klöster geliefert. Die Bevölkerung ist außerordentlich gemischt. Die Ältesten sind wohl aus Tibet her gedrängt worden: sie hausen in den ungesunden Tälern und Schluchten. In den fruchtbaren Landstrichen mittlerer Höhe wohnen indische Arier. Die regierende Klasse sind die Gurkhas, so daß Tejbir auf seiner Fahrt auch in sein Heimatland gelangte. Die Bramahnen haben große Vorrechte, und sie werden voraussichtlich den Buddhismus in absehbarer Zeit völlig verdrängen. Die Newar, die eine hohe Kulturstufe mit eigenem Alphabet und eigenem Schrifttum besitzen, das allerdings meist aus dem Indischen übernommen ist, fertigen schöne baumwollene Webstoffe an, die meist nach China und Indien ausgeführt werden. Ebenso sind sie Maurer und Zimmerleute und verstehen sich auch auf die Herstellung von Branntwein und Bier. Der Herrscher des Landes führt den Titel Maharadscha und ihm steht ein Heer von 30 000 regulären Soldaten zur Verfügung, die mit modernen Gewehren und etwa 100 Geschützen bewaffnet sind. Außer diesen Leuten, die meist in der Nähe von Kathmandu oder in dessen Umgebung untergebracht sind, stehen dem Maharadscha etwa noch ebenso viele Freiwillige zur Verwendung. In Kathmandu hat ein englischer Resident seinen Sitz. Sonst sind von Städten des Landes noch zu erwähnen: Patan, Bathgaon, in denen beiden zahlreiche Tempel sich befinden, Nayakot und die an der Grenze von Tibet gelegene Handelsstadt Kirong. Ein gewisser kriegerischer Charakter ist dem Staate nicht abzusprechen, ebenso wie auch eine verhältnismäßig hohe Kultur und Ordnung dort herrschen. England unterhält deshalb sehr sorgfältig gepflegte Beziehungen mit Nepal.

Dank den geschickt gepflogenen Verhandlungen des englischen Residenten mit dem Maharadscha von Nepal war es denn auch gelungen, diesmal die Erlaubnis zum Durchzuge der Expedition nicht allein, sondern die Zusicherung jeder nur möglichen Unterstützung zu erlangen. Daß dabei das englische Gold natürlich eine überzeugende Stimme mitgesprochen hat, ist wohl anzunehmen.

Während General Russe in den Vormittagsstunden mancherlei mit den englischen Behörden zu erledigen hatte, hatte auf seinen Wunsch Kallory, der die Verhältnisse ebenso wie Gerving genau kannte, den Damen und Zönlund nochmals genauen Vortrag über die zunächst zu lösenden Aufgaben gehalten.

Damit alles geheim bliebe, fand der Vortrag in einem der Hotelzimmer statt, vor dessen Tür Kjel Wache haltend auf und nieder ging, um jeden unberufenen Lauscher sofort zu verscheuchen. Vorzügliches Kartenmaterial stand dem Redner zur Verfügung, und er hatte es verstanden, seine Zuhörer derartig zu fesseln, daß die Ladys geradezu begeistert waren und darauf brannten, »endlich den Kampf mit dem Riesen zu beginnen«, wie die lebhafte Lady Alice sich ausdrückte.

Gerving lächelte leise und sprach dann: »Noch kommt es nicht zum Kampfe, aber heute noch brechen wir dazu auf.« –

Der Tag verging in Stille. Außer dem General hatte niemand von der Gesellschaft das Hotel verlassen. Um 8 Uhr abends fuhren die Autos vor, die Herrschaften nahmen Platz und bald waren sie am Bahnhofe, dessen Halle der Zug um 9 Uhr verließ.

Zwei Tage dauerte die Reise, und Kathmandu war erreicht. Auf der letzten großen Station war der Resident von Nepal zu General Russe gestiegen, und die Herren hatten noch mancherlei besprochen. Vor allem brachte der englische Diplomat die Nachricht mit, daß auch die Tibetaner den Durchzug der Expedition durch ihr Land gestatten und die Forscher in jeder Weise unterstützen würden. Offenbar traute man doch dem englischen, festgefügten Reiche mehr, als dem Bolschewismus mit seinen Lehren und dem durch innere Kämpfe erschütterten Riesenstaatskörper Chinas. Deutschlands Einfluß aber war, das mußte sich Zönlund mit schmerzhaftem Empfinden sagen, noch zu gering, als daß er von Afghanistan irgendwelche Wirkung hätte ausüben können. –

Die Hauptstadt von Nepal bot keine besonderen Sehenswürdigkeiten. Der Maharadscha weilte auf einem seiner zahlreichen Landschlösser, so konnte denn nach der Ankunft und der nötigen Ruhe von einem Tage unverzüglich der Dienst bei der Expedition beginnen.

Der Gurkha Tejbir meldete sich bei seinem General. In der kurzen Zeit, die dem braven Manne zur Verfügung stand, hatte er Staunenswertes geleistet. Das große Gepäck, das ohne Schädigung angekommen war, hatte er übernommen. Die nötigen Träger standen bereit, 160 Mann, und sogar zwei Palankine harrten der Damen. Diese allerdings wurden nicht mitgenommen, denn die Ladys erklärten energisch, sie würden reiten, gleichviel, welches Tier ihnen zur Verfügung gestellt würde, oder sie würden marschieren. Daß ihre Kleidung dementsprechend eingerichtet war, sei nur nebenbei als selbstverständlich erwähnt.

Der brave Tejbir empfing aber doch sein Lob über seine Aufmerksamkeit und strahlte vor Freude über das ganze Gesicht, so daß Kjel heimlich zu seinem Doktor sagte: »Ick weet ook jor nich, wat se mit den ollen langen Kirl allens moken! Na, min Tid kümmt ook!«

»Du hest doch dat Dine all dhaun, oll Dösbartel«, meinte Zönlund.

»Und ick dhau noch mihr,« schloß der brave Stettiner. –

Und nun war die Stunde des Aufbruches da. Jeder Mann stand neben seiner Last. Die Kisten mit den kostbaren wissenschaftlichen Instrumenten waren so im Zuge angeordnet, daß die Expeditionsleiter sie stets in ihrer Nähe und im Auge hatten. Der Proviant, der in vorzüglichen Fray Bentos-Konserven bestand, sollte erst angegriffen werden, wenn man in den Regionen des ewigen Schnees war. Bis dahin wollte man sich aus den Dörfern mit Nahrungsmitteln versehen. Die Zeiten, in denen bei Annäherung der ersten Reisenden die Tibetaner zu Hunderten in die Felsschroffen geflüchtet waren mit dem Rufe: »Da kommen wieder die verfluchten Zauberer und wollen auf das Eis!«, waren ja, Dank Swen Hedins Reise, vorüber. –

Die Träger waren zum Teil Inder, aber auch Nepalesen, Gurkhas und Tibetaner waren darunter. Tejbir hatte die Leute durch seine Kenntnis des Landes schnell zusammengebracht. Sie sollten, so hatte ihm der General als Richtschnur mitgegeben, bis Tibet mitmarschieren und dann abgelohnt werden. In Tibet sollten nur Landeskinder geworben werden, da diese mit dem Steigen und allem, was Klima und sonstige Landeseigentümlichkeiten heißt, am besten Bescheid wüßten.

Für die Zelte, die natürlich mitgenommen werden mußten, waren tibetanische Ochsen vorhanden, die die Damen hier zum ersten Male sahen.

»Es sind auch vorzügliche Reittiere,« erklärte Russe den Ladys, und wir werden sie in den bergigen Gegenden und besonders beim Überschreiten von Flüssen noch oft brauchen.

»Kiek eens«, brummte Kjel, der dies natürlich gehört hatte, vor sich hin, »dat har ick ooch nicht dacht, dat ick noch eins up so'n ollen Ossen riden süll.«

Übrigens hatte er sich im Laufe der Stunden mit Tejbir ganz gut angefreundet. Letzterer sah in dem Weißen, obwohl er wußte, daß Kjel auch nur in dienender Stellung war, doch immer den Mann der herrschenden Rasse und verhielt sich demgemäß ihm gegenüber. Da beide englisch sprachen, konnten sie sich gut verständigen, und Tabak und »en Schluck« taten das übrige, um beide anzubiedern. Für den Beginn der Expedition waren zunächst für die Leiter Pferde vorgesehen, die Damen, von England her längst daran gewöhnt, im Herrensitz.

Es war 9 Uhr morgens, als General Russe einen Trompeter, der neben ihm hielt, ein Signal geben ließ. Die Träger hatten, je wie es ihre verschiedenen Religionen geboten, schon vorher den Segen der Priester empfangen, die vorgeschriebenen Waschungen und Bäder vorgenommen, alle waren bereit. Tiefstes Schweigen lag über dem langen Zuge. Der Sitte des Landes gemäß hielt General Russe eine kurze Ansprache, forderte Treue und Gehorsam, versprach jedem gute Behandlung und Bezahlung und gab dann den Befehl zum Abmarsche. Abermals erschallte ein Trompetensignal, dann wurden die Lasten aufgenommen, und die Reise angetreten. Es ging gegen den Riesen.

Russe ließ den ganzen Zug, den Tejbir stolz zu Pferde anführte, an sich vorüberziehen. Dann schloß er sich mit seinen Begleitern an. Die Ladys hatten ihre erste Dienstleistung dabei getan: der Zug war von ihnen photographiert worden.

Die wenigen Europäer, die sich zum Abmarsche eingefunden hatten, da sie gerade in Nepal weilten, empfahlen sich, aber in den Straßen stand dichtgestaut das Volk und begrüßte den langen Zug. Die Nepaler glaubten, es sei eine Handelskarawane, die nach Tibet ginge, und hofften auch für sich Vorteile aus dem Unternehmen. –

»Wir ziehen zunächst nach Osten, Myladis«, sagte der General. »Dort drüben, die riesigen Berge, die Sie sehen, bilden das Himalajagebirge. Hinter ihm liegt der Riese, den zu bekämpfen sogar Englands mutige Töchter ausgezogen sind.«

»Ei, Ei,« drohte die Lady Alice schelmisch, »ein Kompliment, General?«

»Kein Kompliment, Lady,« fiel Zönlund ein, »nur die Bewunderung, die jeder echte Mann für eine tapfere, edle Frau hat.«

»Was meinen Sie dazu, Gerving«, fragte Lady Heresford den neben ihr reitenden, schweigsamen Offizier.

»Wie könnte ich anderer Meinung sein, als mein General und meine Kameraden,« lautete die Antwort, »denn Kallorys Ansicht kenne ich.«

»Ich bitte um Verzeihung, General, daß ich Sie unterbrach«, sagte Lady Alice etwas verlegen, »Sie wollten noch einmal von unserem Anmarsch erzählen. Wo liegt nun unser Ziel?«

»Dort hinter jenen himmelhohen Mauern, die ich Ihnen zeigte«, erwiderte Russe. »Wir können über diese Berge nicht hinweg. So wollen wir sie umgehen und von der Rückseite, das heißt von Norden, den Angriff versuchen. Unser Weg zieht jetzt in halber Höhe des Gebirges entlang nach Osten. Dann werden wir durch einen Paß nach Tibet einlenken, gehen also zunächst in nördlicher Richtung, und dort wird die Trägerkolonne neu formiert. Danach nehmen wir die Richtung schräg nach Südwest und klimmen allmählich so weit nach oben, daß wir nur die letzte Spitze des Mount Everest vor uns haben. Diese letzte Strecke zu überwinden ist dann unserer Bergsteiger, unserer Hochtouristen Aufgabe.«

»Wahrlich, ein bewundernswerter Plan«, rief Lady Alice begeistert aus.

»Ehre seinem Erfinder«, setzte Marta Heresford hinzu.

»Nun, meine Herren,« wendete sich Russe zu den englischen Offizieren, »was sagen Sie zu solcher Anerkennung? Ja, meine Damen, Kallory und Gerving haben in Jahre währender Arbeit, auch mit besonderen Steigeversuchen, den Kriegsplan aufgestellt, um den Riesen zu besiegen!«

»Ein solches Wort der Anerkennung macht alle Arbeit leicht«, meinte Kallory, und Gerving schloß mit den Worten, indem er Marta Heresford ansah: »Ja! Und gälte es das Leben.«

Die Unterhaltung wurde jetzt etwas matt, denn die indische Tropenglut begann sich bemerkbar zu machen. Aber die Träger, besonders die kleinen, gelben, sehnigen Tibetaner, schienen nichts davon zu merken. Ruhig schleppten sie ihre Lasten, ab und zu sangen sie ein munteres Liedchen, und Scherzworte flogen hin und her. An der Spitze des Zuges ritten Kjel und Tejbir. Beide waren auch in das Gespräch gekommen, und der Gurkha erzählte Kjel so mancherlei über Indien.

Die Gegend war noch immer so, wie in der großen indischen Tiefebene überhaupt. Bebaute und gut gepflegte Reisfelder wechselten mit kleinen Palmenwäldern, der Ziehbrunnen knarrte, die Herde, meist von Hinduknaben gehütet, weidete auf den saftigen Wiesen. Ab und zu stand ein Buddhabild am Wege, oft in kleiner Kapelle. Fromme Menschen hatten Obst und Korn als Gaben niedergelegt, auch fertige Speisen standen in Holzschalen da und blühende Blumen, frische Kränze schmückten das Bild des Gottes oder der Göttin. Endlos zieht sich, wie ein graues Band, die indische Heerstraße dahin. Ab und zu stand ein Fakir, ein Büßer oder Pilger am Wege. Der Buddhismus zeitigt diese seltsamen Erscheinungen. Buddha ist nicht, wie der Europäer meist meint, eine Person, sondern ein Zustand. Der Gründer der Religion hatte in der Einsamkeit lange geweilt; als er wieder unter die Menschen trat, war er »der Buddha«, das heißt, es war die Erleuchtung über ihn gekommen, die ihn vom Irdischen abzog und ihn in das ferne Jenseits geistig trug. Diesen Zustand zu erreichen, ist das Streben vieler seiner Anhänger. So kommt es nicht selten vor, daß Söhne vornehmer indischer Häuser vollständig die europäische Bildung annehmen. Sie studieren in Europa, tun als Offiziere dort Dienst, arbeiten sich in die Verwaltung ein und treten schließlich in den Dienst der englischen Regierung in Indien. Dort erlangen sie als vorzügliche Arbeitskräfte, die besonders mit der eingeborenen Bevölkerung gut umzugehen wissen, oft hohe und wichtige Stellungen. Plötzlich sind sie verschwunden. Die englische Regierung forscht ihnen nie nach, denn sie weiß, daß jene Herren im Millionengewimmel der indischen Bevölkerung untergegangen sind. Ihre Stellung wird besetzt, ihr Name ist gestrichen, sie sind erledigt.

Was ist geschehen?

Plötzlich ist dem scheinbar zum Europäer gewordenen Inder der Gedanke gekommen und hat von seinem Innern herrschend Besitz genommen, daß er zum »Buddha« werden müsse.

Eines Morgens wandert er zum Tore hinaus, die Landstraße entlang. Seine Kleidung ist die eines Bettlers, sein Haar geschoren. Ein Tierfell führt er bei sich, um darauf zu schlafen, einen Holznapf, um seine erbettelte Mahlzeit zu fassen, einen Stab um sich zu stützen. So wandelt der frühere hohe Regierungsbeamte einsam des Weges. Mit niemand spricht er. An den Kapellen am Wege findet er die Kost, deren er bedarf, nachdem er sein Gebet gesprochen. Der Waldbach ist sein Bad. Demütig grüßt er den eingeborenen Polizisten, dem er begegnet. Vielleicht ist es ein hochmütiger Muhamedaner oder ein Brahmane, der seinen Gruß nicht erwidert. Bei den Tieren des Waldes schläft er. So steigt er rastlos zu den Bergen empor. Dort findet er irgendwo ein verlassenes Kapellchen, wo er in der Einsamkeit sich niederläßt. Bald heißt es im Dörfchen, daß ein neuer Heiliger da sei: für seine Nahrung wird nun von den Gläubigen gesorgt. Still sitzt er sonst am Tage und sieht in die Ferne. Die Tiere kommen zu ihm, und da er sich nie bewegt, aber sein Mahl mit ihnen teilt, kommen sie zu ihm und drängen in kalter Nacht sich wärmend an ihn. Er wird zum Buddha, bis der Tod ihn umfängt und ihn hineinträgt in das ersehnte Nirwana, das große Nichts. So erzählt der bekannte englische Schriftsteller Rudjard Kipling, und nach ihm hatte Zönlund, der ein wenig die Herrschaften aufheitern wollte, gesprochen. –

Es war gegen Mittag, als der General das Signal »Halt« blasen ließ. An den großen Heerstraßen in Indien und Nepal stehen sogenannte Bungalows. Es sind das einstöckige Häuser mit einer Reihe Zimmer und einer Veranda. Sie enthalten gewöhnlich als Mittelraum hinter der Veranda einen kleinen Saal, rechts und links davon liegen kleine Zimmer zum Übernachten. Die Möbel sind aus Bambus hergestellt. Bettstellen sind vorhanden. Das Bettzeug nebst Moskitonetz führt der europäische Reisende bei sich. In einem Seitengebäude haust ein alter Inder, der, wenn ein Koch sich nicht bei der Reisegesellschaft befindet, gegen geringes Entgelt auch für die Verpflegung sorgt. Vielfach knüpfen sich bei dem Aberglauben der Inder an diese Bungalows alle möglichen Spukgeschichten, und es ist Tatsache, dass in jenen einsamen Häusern im Laufe der Jahre manche Verbrechen vorgekommen sind. General Russe hatte mit seinen Offizieren verabredet, dass man, so lange es anginge, in den Nepaler Bungalows übernachte. Später müsste ja selbstverständlich biwakiert werden. –

Die Einrichtung des Lagers ging schnell vor sich. Eine Abteilung Jäger unter Führung von Tejbir, dem sich Kjel anschloß, zog aus. Bald knallten lustig die Schüsse und nach kurzer Zeit kehrten die Waidmänner mit reicher Beute beladen zurück: Fasanen, Truthühner, wilde Enten und einige Gazellen waren ihren Kugeln erlegen.

Die zurückgebliebenen Leute hatten inzwischen das Lager eingerichtet. Wasser war aus dem nahen Bache geholt worden, Feuer loderten und Jubel begrüßte die Jäger. Die Ladys nahmen sich der Küche an, und bald saßen die Expeditionsführer um den Tisch im Saale, und nach den Strapazen des Tages mundete das Mahl trefflich. Die Zimmer waren verteilt, die Träger biwakierten, und Tejbir leitete mit Hilfe einiger erprobter Träger, denen auch Kjel sich zugesellte, das Ganze. Die Büffelochsen weideten unter Leitung und Aufsicht dazu bestimmter Leute. Das Lager bot ein Bild der Ordnung und Sauberkeit, als nach der Mahlzeit und einigen Ruhestunden die Herrschaften auf der Veranda den Tee einnahmen, für den Tejbir und Kjel, die sich immer enger aneinander anschlossen, gesorgt hatten. Dann untersuchte der rastlose Gurkha, wobei ihn Kjel begleitete, noch vor Einbruch der Dämmerung, was ja gleichbedeutend mit dem Beginn der Nacht ist, sämtliche Wasserauslässe des Bungalows. Als ihn Kjel fragte, weshalb er dies täte, antwortete Tejbir in seiner ruhigen, überlegenen Art:

»Das sind die Schlupflöcher für die Schlangen. Die Geschöpfe des Teufels lauern im Gebüsche und schleichen nachts durch diese Gänge in die Häuser. Wir wollen ihnen die Wege verlegen.« Und die beiden neuen Freunde verstopften jeden Kanal mit Sand und Steinen. Dann stellte der Gurkha die Wachen rings um das Lager auf und ermahnte jeden Einzelnen, vor allen Dingen auf die Erhaltung der Feuer zu halten, da die »rote Blume« das einzige Mittel sei, den furchtbaren Feind des Menschen, den Tiger, fernzuhalten.

Die Nacht war da. Die schnatternden Affen, die lange neugierig auf den Bäumen gehockt und dem Treiben des Lagers zugesehen hatten, waren verstummt. Große Fledermäuse huschten durch das Dunkel. Aber an den Sträuchern leuchteten Myriaden von Leuchtkäfern auf, gleichsam als wollte, dem herrlichen Heere der Sterne dort droben gleichend, ein zweites hier auf der Erde strahlen. Ab und zu schallte ein verschlafener Ruf aus dem Walde, oder ein Jak grunzte im Schlafe, ein Träger lallte ein paar Worte träumend: das Lager schlief.

Jetzt endlich gönnten sich die beiden neuen Freunde, der Gurkha und Kjel, Ruhe. Sie fanden auf der Veranda einen gut besetzten Abendbrottisch, für den der General gesorgt hatte, und als beide sich gesättigt hatten, zündete der Gurkha seine Hukha an und Kjel seinen Matrosenknösel. Beide saßen stumm und ließen den Zauber der Tropennacht auf sich wirken. Dann, als die Pfeifen ausgeklopft waren, suchten beide ihr Lager auf; Kjel schlief neben dem Zimmer Zönlunds, Tejbir aber legte sich, wie er es von früher gewohnt, auf die Türschwelle zu Russes Zimmer.

Ruhig verging die Nacht. Am anderen Morgen ertönte früh von den Wachen das Wecksignal, und bald war die Expedition wie ein aufgestörter Bienenschwarm in Bewegung. Während die Europäer, von Kjel und Tejbir bedient, ihr Frühstück einnahmen, verrichteten die Träger, je nach ihrer Religion ihren Morgengottesdienst. Feierlich klangen besonders die Chöre der Hindu, und dann ordnete sich, nach Tejbirs Kommando, schnell der Zug. Bald war alles fertig, und in früher Morgenstunde wand sich die lange Schlange der Expedition schon durch die Landschaft.

Wer in heißen Ländern reist, muß die frühen Morgenstunden benutzen, denn zur späteren Tageszeit wird die Hitze so fürchterlich, daß Mensch und Tier den glühenden Pfeilen des Sonnengottes erliegen und ein Weiterkommen zur Unmöglichkeit wird.

Mehrere Tage verstrichen so in geradezu mustergültiger Weise. Die Bungalows sind in Nepal genau nach indischem Muster angelegt, und sie liegen stets eine normale Tagesreise von einander ab.

Am vierten Abend nach der Mahlzeit, schon sank die Dämmerung herab und die Expeditionsleiter saßen, wie gewöhnlich auf der Veranda plaudernd beisammen, ertönte plötzlich in der Nähe des Bungalows ein entsetzlicher Schrei, den ein Mensch ausgestoßen hatte. Eilfertig flüchteten die Affen, die engumarmt in Reihen auf den nächsten Bäumen gesessen und sich unterhalten hatten, schreiend davon. Gleichzeitig hörte man Rufen der Träger, das Lager schien alarmiert.

Da erschien auch schon Kjel auf der Veranda und rief:

»Herr Doktor, einen Träger hat eine Schlange in den Fuß gebissen. Tejbir sagt, es sei eine Giftschlange.« Nach einigen verständigenden Worten des Arztes an den General eilte Zönlund sofort weg. Er fand den Gebissenen, einen Mohammedaner, an der Erde liegen. Sofort band er mit dem Gürtel des Mannes das Bein fest ab. Dann suchte er die Bißstelle und als er die bekannten zwei Punkte, die den Biß der Giftzähne bezeichnen, gefunden hatte, sog er zum Entsetzen der Umherstehenden die Stelle sehr energisch aus, wobei er jedesmal natürlich das Ausgesogene zur Erde spie. Mit Erlaubnis des Generals wurde der kranke Mann, der in einer Art Dämmerschlaf sich befand, dann in einem Seitenraume des Bungalows gelagert. Zönlund machte ihm noch einige Einspritzungen mit Kampheröl, das er in seiner Packtasche am Pferde bei sich führte, und das ihm Kjel nebst Spritze schnell geholt hatte, und danach bekam der Mann eine feuchtwarme Ganzeinpackung sowie starkgesüßte, heiße Zitronenlimonade, der viel Kognak beigemischt war. Es dauerte nur kurze Zeit, so stellte bei dem Verwundeten sich starker Schweißausbruch ein. Zönlund blieb die Nacht über am Lager des Mannes sitzen, und als der Morgen anbrach, konnte der Arzt dem General melden, daß der Mann gerettet sei. Der Kranke fühlte sich ziemlich wohl, aß und trank und wurde dann auf einem Jak weitertransportiert. Der Gurkha hatte die Schlange erschlagen, da er zufällig in der Nähe war, als der Mann gebissen wurde. Zönlund sah sie sich am Morgen noch an, es war eine ziemlich große Brillenschlange. –

Wieder war ein Marschtag vorüber, das letzte Bungalow war erreicht, am anderen Tage mußte das erste Biwak bezogen werden. Plaudernd saßen die Herrschaften beim Tee, und es ist selbstverständlich, daß das Ereignis vom gestrigen Abend den Gesprächsstoff bildete.

»Sagen Sie,« wendete sich Lady Alice an den General, »werden nicht in Indien sehr viele Menschen durch Giftschlangenbisse getötet? Wir haben im Unterricht doch gelernt, daß sehr oft Schlangenbisse vorkommen. Und es ist ja nicht immer gleich so sachgemäße Hilfe zur Stelle, wie gestern abend,« fügte sie mit liebenswürdigem Lächeln zu Zönlund gewendet hinzu.

Russe lächelte ebenfalls und sprach dann zu seinen Offizieren: »Nun, meine Herren, hier muß wohl Dr. Zönlund zu Worte kommen? Er wird wohl die Frage der Lady am besten beantworten können!«

Der Angeredete dachte einen kurzen Moment nach. Dann begann er seinen Vortrag:

»Die Frage der Giftschlangen muß ja den Naturforscher beschäftigen, und so sind mir die Berichte der englischen Regierung ziemlich genau bekannt. Indien ist das Land der Giftschlangen, und es ist bei der Sorgfalt, die die englische Regierung allen Landesverhältnissen zuwendet, zu verstehen, daß genaue Statistiken über die einzelnen Fälle geführt werden. Nun sind diese Tabellen ja nicht unbedingt zuverlässig, da sie doch aus Berichten zusammengestellt werden, die häufig von unteren Beamten aufgestellt sind. Unzuverlässigkeit und der indische Aberglaube sprechen dabei ihre Worte mit, und da mögen denn Fehler genug sein. Immerhin dürfen wir noch heute annehmen, daß im Jahre in Indien 100 000 Menschen an Schlangenbissen zugrunde gehen.«

Der Arzt machte eine kurze Pause, da seine Zuhörer, sogar Russe, in Ausrufe der Verwunderung und des Entsetzens über die Höhe der Opferzahl ausbrachen. Dann fuhr er fort:

»Die weitaus, überwiegend meisten Todesfälle betreffen jedoch Eingeborene, während Europäer nur in verschwindend kleiner Anzahl den Schlangen zum Opfer fallen. Es liegt das an einem sehr einfachen und natürlichen Grunde. Die Schlange an sich greift den Menschen meist nicht an. Solche Fälle kommen nur höchst selten vor, und es handelt sich da meist um Kinder. Sie liegt zusammengeringelt im Grase. Der Eingeborene eilt mit unbekleidetem Fuße vorbei und tritt das Tier. Im selben Augenblicke fährt die Schlange empor und beißt. Die Giftzähne schlagen in die ungeschützte Haut des Mannes, er ist meist dem Tode verfallen. Der Fuß des Europäers dagegen ist stets durch den Stiefel geschützt. Meist wird ja noch, wie bei uns, die Ledergamasche dazu treten, und damit ist hinreichender Schutz gewährt.«

»Können Sie uns«, fragte Gerving, »etwas über den Biß und die Giftwirkung an sich sagen?«

»Jede Giftschlange, auch die in England vorkommende Kreuzotter«, erwiderte Zönlund, »ist mit den gleichen Waffen ausgerüstet. In den Ecken des Oberkiefers liegen je ein, also im ganzen zwei Zähne, die etwas hakenartig gebogen sind. Diese nadelscharfen Zähne sind dicht unterhalb der Spitze von einem Kanal durchbohrt. Zwischen diesen beiden Zähnen liegen noch andere Giftzähne, die aber erst in der Entwicklung begriffen sind. Geht ein entwickelter Giftzahn verloren, so rückt sofort der nächste an seine Stelle und bildet sich voll aus. Dieses Nachwachsen kann schon in drei Tagen bis höchstens vier Wochen vollendet sein. Die furchtbare Waffe des Tieres ist also innerhalb kurzer Zeit wieder brauchbar. Der Giftzahn ist leicht nach hinten beweglich und mündet in die Giftdrüse, welche hinter, bzw. unter dem Auge liegt. Beißt die Schlange zu, so wird das Opfer unwillkürlich durch einen Ruck sich dem Giftzahne zu entziehen suchen. In diesem Augenblick treten die Wangenmuskeln der Schlange in Tätigkeit und spritzen durch den Zahn, dessen unterhalb der Spitze gelegene Öffnung nun gerade der Wunde des gebissenen Geschöpfes gegenüberliegt, das Gift in letztere hinein. Das Blut des Opfers ist sofort vergiftet. Dabei genügt eine sehr verschwindend kleine Menge Gift dazu, – bei der Klapperschlange 5 bis 8 Tropfen, – um ein verhältnismäßig großes Tier zu töten. Das Gift selbst ist eine Eiweißverbindung. Je länger die Giftdrüse nicht in Tätigkeit getreten ist, um so praller ist sie natürlich angefüllt, um so wirkungsvoller ist ihr Gift.

Vielfach liest man noch, daß es Tiere gäbe, die gegen das Schlangengift unempfänglich seien. Da wird z. B. der Igel genannt, ebenso die Ratte und manche andere. Es liegt das einfach daran, daß diese Tiere durch natürliche Schutzmittel gegen den Biß sich schützen können, also durch Stacheln, Pelz, Gewandtheit u. a. Trifft aber der Schlangenbiß eine ungeschützte Stelle, so ist das Opfer verloren.

Die Kreuzotterjäger suchen mit einer Holzgabel, die sie schnell hinter dem Kopfe der Schlange in die Erde stoßen, das Tier festzuhalten. Dann halten sie dem rasenden Wurm einen Lederlappen vor, in welchen das wütende Tier immer und immer wieder seine Giftzähne einschlägt, wobei sich die Giftdrüse völlig entleert. Ist dies, wie der erfahrene Jäger weiß, geschehen, so wird die Schlange in einen festen Behälter getan und zum Händler gebracht, der sie teuer bezahlt. Weiß er doch, daß das lebende Tier von Laboratorien ihm abgekauft und zu Versuchszwecken wegen des Giftes benutzt wird!«

»Wie machen das aber die indischen Schlangenbeschwörer, die die giftige Brillenschlange sich um den Hals winden, sie küssen und nach der Flöte tanzen lassen, wie ich es mit Kallory oft genug gesehen habe«, fragte Gerving.

Zönlund erwiderte lächelnd: »Sie machen es wie alle Gaukler auf Erden: sie betrügen. Den Indern ist durch ihre Geheimwissenschaften längst der Giftapparat der Schlangen bekannt. Sie verschaffen sich ganz junge Tiere und schneiden sorgfältig die Teile des Oberkiefers heraus, aus denen sich die Giftzähne entwickeln müssen. Dann können sie wohl eine Brillenschlange vorführen, aber sie hat keine Giftzähne.«

Die anderen Herrschaften waren erstaunt, und der General sagte zu Zönlund: »Doktor, ich lebe doch nun schon so lange in Indien, aber das ist mir neu. Ich muß Ihren Kenntnissen hier offen meine Bewunderung ausdrücken.«

»Noch eine Frage, Herr Doktor,« sagte jetzt Lady Heresford, »gibt es denn ein Gegengift gegen die fürchterlichen Schlangenbisse?«

»Man hat viele Versuche damit gemacht,« antwortete der Doktor, »ohne bis jetzt etwas Brauchbares zu finden. Früher schütteten Jäger, die eine Schlange gebissen hatte, Schießpulver auf die Wunde und brannten sie aus. Es sollen damit Erfolge erzielt sein. Ich kann mir nach dem heutigen Stande der Wissenschaft dies kaum denken. Wir europäisch gebildeten Ärzte schnüren das vom Bisse getroffene Körpergebiet ab, heben durch Einspritzung entsprechender Mittel die Herztätigkeit, saugen vorerst die Wunde aus, wobei der Saugende darauf achten muß, daß er nicht selbst am oder im Munde eine Wunde hat, da er sich sonst selbst vergiften kann, und geben schweißtreibende Mittel, damit das in die Blutbahn eingedrungene Gift über die Haut ausgeschieden wird. So habe ich den Mann gestern behandelt.«

»Und mit bestem Erfolge«, sagte Russe. »Er will morgen wieder marschieren. Unteroffizier Tejbir.«

»Herr General«, erwiderte der Riese und stand sofort neben Russe, denn er hatte mit Kjel auf der Verandatreppe gesessen und zugehört, was Zönlund erzählte. Kjel war aus den Arbeiten seines Herrn ja manches davon bekannt.

»Sie haben gehört, was der Herr Doktor erzählte«, fragte der General den Gurkha.

»Ich habe gehört«, lautete die dienstliche Antwort.

»Sorgen Sie dafür, daß dies im Lager bekannt wird, und daß, wenn der Herr Doktor einmal helfen muß, vor allem die abergläubischen Tibetaner ihm nicht Schwierigkeiten machen.«

»Es soll geschehen, mein General«, erwiderte der Gurkha stolz auf den erhaltenen Auftrag und setzte sich dann wieder zu Kjel.

»Ja, meine Herrschaften, Ladys und Gentlemen, wir danken nochmals Doktor Zönlund. Und dann wollen wir schlafen. Morgen ruhen wir zum ersten Male im Zelte.«


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