Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Sonne bringt es an den Tag

Die eben aufgegangene Junisonne vergoldete die Fenster des Präsidenten der großen Handelsbank. Er war am Abende vorher von einer langen Inspektionsreise zurückgekehrt. Er hatte sämtliche Filialen einer genauen unverhofften Revision unterworfen. Erst vor kurzem aus einem Nachbarstaate zu seiner Stellung berufen, hatte er seit seinem Amtsantritte unablässig gearbeitet.

Im ganzen war er mit dem Ergebnis seiner Reise zufrieden. In Nachdenken versunken, ließ er die Erlebnisse seiner Visitationsreise im Geiste an sich vorübergleiten. Da verzogen sich seine ernsten Gesichtszüge zu einem Lächeln. Er gedachte seines Empfanges auf der Filiale in R., wie er in seiner fast für einen Präsidenten zu unscheinbaren Kleidung in die Amtsstube getreten war.

Er war gerade gekommen, als der Direktor Brolmann hinter dem Schranke gesessen und ein Protokoll diktiert hatte.

»Kommt Er endlich, ich habe schon lange auf Ihn gewartet.«

»Ich bin der Bank-Präsident und komme zur Visitation der Filiale.«

Der Kanzlist, der bis dahin das Protokoll geführt, war urplötzlich mit seinem Kopfe hinter einem großen Aktenstoße verschwunden. Brolmann aber war in unglaublicher Verlegenheit von seinem Platze aufgesprungen, dem Präsidenten entgegengeeilt und hatte ein Mal über das andere »Verzeihung, Verzeihung« gestottert. Da trat der Diener ein und überbrachte einen Stoß Briefe, die sich während der Abwesenheit des Chefs, persönliche Angelegenheiten betreffend, aufgesammelt hatten.

Er öffnete die Briefe nacheinander, durchflog kurz deren Inhalt und legte sie in ein Fach seines Schreibtisches.

Da hielt er plötzlich inne. Ein Brief mit dem Poststempel R. hatte seine ganze Aufmerksamkeit erregt.

Der Präsident stand plötzlich auf und ging hastig im Zimmer auf und ab. »Das ist ja unmöglich, ganz unmöglich!«

Wieder nahm er den Brief zur Hand und las:

 

Herr Präsident!

Wenn Sie diesen Brief erhalten, bin ich nicht mehr unter den Lebenden. Ich sühne das Verbrechen, das ich begangen, selbst durch meinen Tod! An der Depositenkasse fehlen fünftausend Mark. Ich habe sie aus dem Schranke gestohlen. Der Kassierer ist unschuldig. Ich habe Bleirollen statt der Geldrollen in den eisernen Bestand gelegt. Ich habe einen Nachschlüssel zum zweiten Schrank mir zurecht gefeilt und damit den Schrank geöffnet. Ich gestehe und bekenne dies auf dem Wege zur Ewigkeit.

Brolmann.

 

»Unmöglich!« murmelte der Präsident abermals und griff nach den Visitationsprotokollen, »am 20. Mai fand die Revision statt, er war so ruhig, so sicher, als die Kasse geöffnet wurde, er war nicht von meiner Seite gekommen, seit ich in das Zimmer eingetreten war.«

Der Präsident läutete, und der Kassendiener trat ein.

»Herr Kanzleidirektor Spindl soll zu mir kommen.«

Der Kanzleidirektor trat ein und verbeugte sich tief.

»Guten Morgen, Spindl! Sind in meiner Abwesenheit wichtige Nachrichten eingegangen?«

»Nur wenige, ein Bericht von einem Feuer in der Kanzlei zu S. und die Nachricht von dem Tode Brolmanns in R.«

»Wann ist er gestorben?«

»Nach dem Berichte am 21. Mai. Er ist beim Baden ertrunken!«

»Bestellen Sie einen Wagen, Spindl! Ich will in einer Stunde verreisen, rüsten Sie sich selbst, Sie fahren mit, und dann suchen Sie mir noch aus den Generalakten, betreffend Beförderungen und Unterstützungen, eigenhändig geschriebene Gesuche Brolmanns heraus.«

»Sollte ich mich getäuscht haben?« sagte der Präsident vor sich hin. »Ich hätte nie geglaubt, so grob er war, so ehrlich sah er aus.«

Spindl erschien mit dicken Aktenstücken, in denen er verschiedene Seiten eingekniffen hatte.

Der Präsident trat an das Fenster und prüfte die Akten, in der Hand die Handschrift des Briefes.

»Spindl, haben Sie den verstorbenen Brolmann gekannt?« fragte er plötzlich.

»O, wie meinen Bruder, wir waren zusammen auf dem Gymnasium und haben zusammen studiert. Er hat in seinem Leben viel Unglück gehabt. Wir nannten ihn nur den Pechvogel. Ueberall hatte er Unglück. Unglück auf Unglück. Der härteste Schlag traf ihn voriges Jahr in seiner Stellung als Leiter der Filiale. Durch die Nachlässigkeit seines Sekretärs wurde die Eintragung einer Schuldforderung in das Grundbuch unterlassen. Der Regreß ließ nicht lange auf sich warten, und Brolmann wurde durch alle Instanzen zur Zahlung von 5000 Mark und Zinsen verurteilt. Und nun dieses letzte Unglück!«

Der Präsident horchte auf.

»Hat er das Geld bezahlt?«

»Nein, Herr Präsident, er hatte nichts. Seit einem Vierteljahr wurden ihm die gesetzlichen Abzüge vom Gehalt gemacht. Sein Tod ist sehr hart. Es waren Mündelgelder, zu deren Ersatz er verurteilt war. Die Abzüge reichten wenigstens hin, um die Kinder zu erziehen.«

»Hinterläßt er selbst Familie?«

»Ach ja, Frau und eine Tochter, so brav, so gut!«

»Hat die Frau Vermögen?«

»Wenig, aber sie bezieht ja ihre Witwenpension.«

»Lesen Sie hier, Spindl!« und der Präsident reichte seinem Vertrauten den Brief.

»Mein Gott, mein Gott, wie ist das möglich? Es ist wahrhaftig seine Handschrift.«

*

Am Abend desselben Tages waren der stellvertretende Direktor Helmer und der zweite Kassierer höchst überrascht, als sie, noch um zehn Uhr gerufen, dort den hochgebietenden Präsidenten in Begleitung des Präsidenten des Oberlandesgerichts und zweier anderer Beamten vorfanden.

»Wann haben Sie die Geschäfte übernommen, Herr Direktor?«

»Am 22. Mai früh, an dem Tage, als ich hier ankam.«

[»Auch die Kassen, insbesondere die Depositalkasse?«

»Jawohl, sie stimmte genau mit den Büchern.«]

»Oeffnen Sie den Depositalschrank, und Sie, Herr Sekretär, reichen Sie den Tagesabschluß her!«

Beides geschah. Rolle auf Rolle wurde geöffnet und nachgezählt. Bald kam eine Rolle, die dem Druck der Hände widerstand, dann noch eine und noch eine, bis zehn auf dem Tische lagen.

»Reißen Sie das Papier herunter!«

Dies geschah unter fieberhafter Aufregung der Anwesenden. Das Defizit war da. Anstatt des Goldes lange, bleiernen Uhrgewichten ähnliche Stücke, so rund gefeilt, wie Rollen Goldstücke, nur um ein ganz geringes dicker und länger, um die größere Schwere des Goldes zu ersetzen. Es fehlten gerade 5000 Mark. Der Kassierer war auf einen Stuhl gesunken und rang die Hände.

»Ich bin unschuldig, ich bin unschuldig!« jammerte er.

»Es hat Sie noch niemand einer Schuld bezichtigt, fassen Sie sich,« sagte der Präsident ernst, aber freundlich.

Dann wendete er sich Spindl zu, befahl die Aufnahme des Revisionsprotokolls, Helmer aber die Einleitung der Untersuchung und Feststellung des Tatbestandes.

Der Präsident reiste mit seinem Begleiter noch in derselben Nacht zurück, und der Direktor ging am anderen Morgen an seine Arbeit.

Er wandte sein Augenmerk zuerst auf die Hinterbliebenen Brolmanns und nahm sofort eine Haussuchung vor. Geld war blutwenig vorhanden. Die Witwe war in voller Verzweiflung über die Schmach, die man ihrem Gatten antat; die Tochter im Alter von sechzehn Jahren, eine reizende blonde Erscheinung mit dem unverkennbarsten Ausdruck der Ehrlichkeit auf dem Gesicht, öffnete laut schluchzend und weinend alle Behältnisse der Wohnung.

Die Haussuchung dauerte fast den ganzen Tag, bis zum Abend.

Ein Kommissär, den der Direktor zugezogen hatte, ließ keine Ecke, keinen Winkel des Hauses undurchsucht.

Mutter und Tochter erboten sich zum Eide, daß sie weiteres Geld nicht besäßen, auch nichts weiter als den Gehalt besessen und nichts verschwiegen und nichts heimlicher Weise abhanden gebracht hätten. Während sich der Direktor noch mit den Damen unterhielt und sie zu trösten suchte, hatte der Kommissar den Schreibtisch des Verstorbenen durchwühlt. Leise rief er den Direktor ins Nebenzimmer.

»Sehen Sie hier, was ich gefunden!«

Es war ein großes Stück Wachs, eine große, alte Feile, ein dickes, zehn Pfund schweres Stück Blei und eine Partie ziemlich starken Papieres, das augenscheinlich von alten Aktendeckeln abgeschnitten war. Die Rinnen der dreikantigen Feile bildeten ein schweres Beweisstück. Zwei der Flächen enthielten Bleispäne, die dritte Eisenfeilspäne. Letztere waren, wenn auch nur in sehr geringen Spuren, auf dem Wachse vorhanden, das zu einer großen Kugel zusammengeknetet war. Das Papier war von derselben Sorte, wie es zum Einrollen des Goldes benutzt wurde.

Der Direktor rief die Frauen herein.

»Können Sie mir nicht sagen, wozu der Verstorbene die Feile benützt hat?«

Die Witwe wußte nichts, aber ihre Tochter Therese trat hervor.

»Der Vater hat sie garnicht benützt, sondern ich! Der Vater war ein eifriger Scheibenschütze. Ich mußte ihm die Kugeln gießen und habe die Spitzen derselben damit abgefeilt.«

Der Kommissär nickte mit dem Kopfe, ihm war die Leidenschaft des Scheibenschießens von seiten des Verstorbenen sehr wohl bekannt.

»Und das Stück Wachs?«

»Das ist ein altes Wachslicht, in das der Docht einzuziehen vergessen war, es liegt schon seit Jahren im Schreibtische neben der Feile,« sagte die Witwe.

Das Papier war dem Direktor vorläufig zu unbedeutend, um darnach zu fragen. Am nächsten Tage besichtigte er den Depositalschrank. Nirgends war eine Spur von Gewalt zu sehen. Der Kassierer beschwor, daß er die Schlüssel zu seinem Schlosse seit zwanzig Jahren Tag und Nacht bei sich trage. Somit war es unzweifelhaft, daß ein Nachschlüssel angewendet war; woher hatte aber der Dieb den Abdruck zu dem überaus künstlichen Schlüssel genommen?

Wie alle Personen bei Gericht, so teilte auch der Direktor die Ansicht, daß, wenn Brolmann das Geld wirklich genommen, er dies niemals zugunsten seiner Familie getan haben könne. Die Frauen konnten nicht lügen, oder wenn sie die Unwahrheit gesagt hätten, so würde man dies sehr bald an ihrer Lebensweise gemerkt haben. Man merkte aber das gerade Gegenteil und schon nach wenigen Tagen war vollständige Not ausgebrochen, und die befreundeten Familien mußten helfen.

Auch nicht die geringsten Schulden wurden ermittelt und es blieb nichts übrig, als anzunehmen, daß der Diebstahl zugunsten der Mündel, die durch die Schuld Brolmanns ihr ganzes Vermögen verloren hatten, verübt sei. Erst, nachdem das Urteil auf Regreßpflichtigkeit gegen ihn die Rechtskraft erlangt hatte, war ihm bekannt geworden, daß die eingeklagte Summe alles gewesen, was die Mündel besessen hatten.

Der Vormund der Mündel wurde vernommen. Er beschwor, von Brolmann nicht mehr als den halbjährigen Abzug erhalten zu haben. Die Mündel, zwei Zwillingsbrüder, die nach dem Verlust ihres Vermögens die Schule aus Mangel an Mitteln verlassen hatten und bei einem Kaufmanne in die Lehre getreten waren, besaßen kaum die Kleider am Leibe und leisteten einen gleichen Eid wie ihr Vormund. Wo war das Geld geblieben?

*

Bald wurde der Verdacht gegen den Verstorbenen noch mehr erschüttert. Der neue Direktor vernahm die Zeugen, die Brolmann kurz vor seinem Tode gesehen hatten. Dessen Angehörige beschworen, daß er bei seinem Weggange zum Bade, ein Butterbrot, wie immer, eingesteckt habe, um dasselbe vor der Badehütte im Freien zu genießen. Von seiner Tochter hatte er sich ein Handtuch geben lassen und die Familie gebeten, ihm nach einer Stunde entgegenzukommen, um mit ihm spazieren zu gehen. Vor dem Tore, so wurde weiter ermittelt, war er in den Laden eines Kaufmanns getreten und hatte sich ein kleines Fläschchen, das er bei sich trug, mit Likör füllen lassen, um, wie er bemerkt hatte, sich nach dem Bade zu erwärmen. Beim Baden selbst war es dann allerdings den sich im Wasser tummelnden Knaben aufgefallen, daß Brolmann eine ganze Strecke am Ufer stromauf gegangen und dann an einer verbotenen Stelle ins Wasser gegangen war, wo die Wellen ihn sofort weggerissen hatten, ohne daß ein Hilferuf erschollen wäre.

Auch rücksichtlich der Echtheit des an den Präsidenten gerichteten Briefes wurden erhebliche Zweifel laut. Brolmann war nachmittags 5 Uhr zum Baden gegangen und um 6 Uhr tot aus dem Wasser gezogen worden.

Der Diener, der sich die Adressen nicht angesehen, wußte nur zu bekunden, daß er um halb sechs Uhr die zum Abgange bestimmten Briefe aus dem Zimmer des Direktors abgeholt und dieselben gegen 6 Uhr zur Post getragen und in den Briefkasten geworfen hatte.

Die schriftverständigen Beamten, die die Hand desselben seit Jahren kannten, waren anfänglich der festen Ueberzeugung, daß sie es mit der echten Handschrift des Verstorbenen zu tun hatten. Das Papier, das zum Briefe verwendet worden, war Amtspapier feinster Sorte, wie es zum Ausfertigen von Urkunden benutzt wurde, die Tinte hatte, wie die eigentümliche Schwärze derselben ergab, gleiche Beschaffenheit wie diejenige, die bei der Bank benutzt wurde und von dem ersten Diener angefertigt war.

Dennoch wurden die Sachverständigen bald zweifelhaft. Sie vermißten bei genauester Prüfung einige charakteristische Bogen und Haken, deren der Direktor sich stets bedient hatte. Brolmann war unglaublich weitschweifig in allen seinen Verfügungen und Erkenntnissen gewesen.

So lag die Sache, als der Direktor die Untersuchung schloß und die Akten dem Präsidium einsandte.

Die Entscheidung ließ nicht lange auf sich warten. Der Präsident befahl die Einstellung des Verfahrens, der Brief wurde als Täuschung bezeichnet und die Witwe erhielt, da auch der Selbstmord zweifelhaft geworden war, ihre Pension ausbezahlt.

Das Geld aber war und blieb verschwunden. Jeder Anhalt zu weiteren Ermittelungen fehlte. Bald war die Geschichte halb vergessen. Zu der Zeit, als Brolmann gestorben war, waren die beiden Zwillingsbrüder neunzehn Jahre alt gewesen.

Zwei Jahre später wurden dem Direktor eines Tages die Vormundschaftsakten, gleichzeitig auch die Testamentsakten, zur Verfügung vorgelegt.

Aus ersteren ersah er, daß die Mündel vor ihrem Großjährigkeitstermin standen und Quittung zu leisten hatten, aus den letzteren dagegen, daß sich im Verwahrsam des Gerichts ein Testament des verstorbenen Vaters der Mündel befand, das auf dem Kuverts folgende Aufschrift trug:

 

»Hierin befindet sich mein Testament, das ich eigenhändig ge- und unterschrieben habe und das in meiner Gegenwart mit dem Gerichtssiegel dreimal verschlossen worden ist.

Ich verbiete die Versiegelung meines Nachlasses und ordne an, daß dieses mein Testament am Großjährigkeitstage meiner Zwillingssöhne eröffnet werden soll.

Joseph Gunt.«

»Mit den Amtssiegeln verschlossen.

Direktor Brolmann.«

 

Es wurde sofort für den Großjährigkeitstag der Termin zur Eröffnung des Testamentes anberaumt. Der Vormund und die Mündel erschienen und man holte das Testament aus dem Verwahrsam. Die drei Amtssiegel waren vollkommen unverletzt und das Kuvert wurde durch behutsamen Scherenschnitt geöffnet. Man nahm das Testament heraus. Es lag wieder in einem besonderen Umschlag, der nur leicht mit Oblaten verklebt war. Das Testament wurde entfaltet. In demselben lagen ein kleines Bild des Verstorbenen und 5 Scheine zu 1000 Mark.

Auf das höchste überrascht, sprachlos vor Erstaunen, sahen sich alle an.

Das Testament, das Testament, es mußte Aufklärung schaffen! Das Testament brachte aber keinen Aufschluß, im Gegenteil, es vermehrte die Verwirrung! Es war ein kurzes Schreiben und begann damit, daß der Vater den Kindern ans Herz legte, die guten Lehren nicht zu vergessen, die er ihnen eingeprägt: brüderlich sich zu lieben und des toten Vaters zu gedenken!

Von dem Gelde kein Wort! War der letzte Passus eine bloße Redensart, oder hatte er Bezug auf die einliegenden 5000 Mark?

Die Zwillingsbrüder waren selbst in der größten Verlegenheit und wußten vor Ueberraschung nicht, was sie sagen sollten. Man untersuchte nochmals die Siegel des Kuverts. Auch nicht die Spur einer Verletzung oder Erneuerung war zu finden. Der Vormund legte sich jetzt in das Mittel:

»Nehmt euer Geld und geht nach Hause, es lag im Testament und gehört euch! Kein Mensch hat außer euch Anspruch darauf und wer es euch bestreiten will, der mag klagen!«

Direktor Helmer konnte nicht widersprechen, der Vormund hatte recht, wer etwas wollte, der mochte klagen!

Helmer berichtete über den Inhalt des Testamentes. Er setzte auseinander, daß der Verdacht gegen den verstorbenen Brolmann neue Nahrung erhalte, daß die Niederlegung der 5000 Mark im Testament seitens des Erblassers mehr als unwahrscheinlich sei, da sie mit dem Zinsverluste von drei Jahren verbunden gewesen. Er reichte aber auch gleichzeitig das Kuvert des Testaments mit den unverletzten Siegeln ein und bat um Bescheid, was weiter geschehen solle.

Es wurde befohlen, von weiteren Maßregeln gegen die Zwillingsbrüder Abstand zu nehmen, da die Zweideutigkeit des Testamentes und die unverletzten Siegel einen günstigen Prozeßausgang nicht erwarten ließen. Die Brüder blieben im ungestörten Besitze des Geldes, errichteten damit ein Geschäft, waren fleißig und sparsam, und ein augenscheinlicher Segen ruhte auf dem Gelde.

Ein Jahr war seit der Eröffnung des Testamentes vergangen, als eines Freitags Direktor Helmer, der nun definitiv in seiner Stellung bestätigt worden, außerordentliche Depositalkassen-Revision abhalten wollte. Er begab sich auf das Bureau und ging geradezu nach dem Kassenzimmer, wo er den zweiten Kassierer bereits anwesend traf.

Der Kassierer war an diesem Tage schon um 8 Uhr auf die Kasse gekommen und hatte sich an die Arbeit begeben. Um 9 Uhr erschien der Direktor Helmer und teilte dem Kassierer sein Vorhaben mit. Beide Beamte nahmen ihre Schlüssel und jeder öffnete sein Schloß. –

Die Filiale hatte noch keine eisernen diebessicheren Geldschränke. Der Depositalschrank war vielmehr, nach der damaligen Anschauung der größten Sicherheit in einer sehr starken Nische eingebaut, die nur mit einer dicken eisernen Tür durch zwei große Vorlegeschlösser verschlossen war. Die Hinterwand des Schrankes bildete die Umfassungsmauer des Gebäudes, das Jahrhunderte alt war. Die Umfassungsmauer war sehr dick. Draußen auf dem Hof stand Tag und Nacht ein Posten der Garnison, so daß an einen Einbruch von außen garnicht gedacht werden konnte. Die inneren Seitenwände des Schrankes befanden sich innerhalb der dicken Mauer.

Beide Beamte öffneten jetzt die Tür und der Kassierer prallte im nächsten Augenblick entsetzt zurück. Die Kasse war abermals bestohlen, wenn auch nur in sehr geringem Maße, da der größte Teil des Inhalts einige Tage vorher abgesandt war. Die Kasse war diesmal total ausgeräumt, der Dieb hatte auch nicht einen Nickel zurückgelassen. Die Beamten sahen sich sprachlos an.

Direktor Helmer faßte sich zuerst.

»Das übersteigt denn doch alle Begriffe,« sagte er, »ist denn der Kuckuck hier los! Gut, daß der alte Brolmann tot ist, sonst würde man wieder sagen, daß er das Geld gestohlen habe! Bringen Sie Licht, wir müssen den Schrank untersuchen!«

Der Direktor nahm die schmalen Bretter, die im Innern des Schrankes auf Leisten lose auflagen, heraus, so daß der Raum vollständig hohl war und stieg auf einen Stuhl, um den dunklen, etwa mannshohen Schrank mit einem Licht und einem Hammer zu untersuchen. Mit letzterem schlug er an die Wände des Schrankes, und überall gab der Hammer den hellen Ton der Eisensteine zurück, nirgends war eine Fuge, nirgends eine Ritze zu entdecken.

»Entsetzlich!« jammerte der Kassierer, »entsetzlich, die Schlüssel sind ja doch verändert und doch – und doch!«

»Warten Sie, warten Sie, was ist das!« rief der Direktor. Er hatte eben mit dem Hammer an die Decke des Schrankes geschlagen. Der Schlag klang zwar auch hell, aber eine Partie Kalk war dem Direktor ins Gesicht gefallen.

Er legte den Hammer weg und prüfte die Steine. Es fand sich, daß einer derselben lose war und sich von unten ein wenig bewegen ließ. Der Direktor eilte mit seinem Kassierer nach der oberen Etage. Ueber dem Kassenzimmer lag eine Stube, die mit den übrigen Räumen dieser Etage nur selten betreten wurde. Diese obere Etage bestand nur aus dünnem Fachwerk und war später als der Unterbau auf dessen dicke Mauern gesetzt worden, um Raum für die Unterbringung der Akten zu gewinnen.

Die Beamten räumten nun an der Wand über der Gegend, wo sich unten die Kassennische befand, die Schränke und Aktenhaufen fort, und als die letzten Stöße an die Reihe kamen, da zeigte sich der Tatbestand in voller Deutlichkeit. Eine Diele war aufgerissen und nur lose wieder mit den Nägeln in die Nagellöcher gedrückt. Unter der Diele lagen die Steine. Einer davon, ein nach unten spitzer und nach oben breiterer Eisenstein, konnte leicht herausgenommen werden, schloß aber vortrefflich, wie ein Schlußstein, wenn man ihn wieder in den Raum paßte und die Diele darüber legte. Wenn der Stein herausgenommen war, konnte ein recht langer Arm mit Bequemlichkeit den ganzen Schrank ausräumen.

»Herr Direktor, nur jemand, der hier im Amte beschäftigt ist, kann der Dieb sein. Seit dem Tode Brolmanns ist nichts gestohlen worden. Das Personal wußte, daß nach der Verfügung des Präsidiums größere Summen noch am Tage des Einganges, oder höchstens am folgenden Tage an die Bank abgesandt werden mußten.

»Gestern um die Mittagsstunde suchte mich der Advokat Berger auf und traf mich in der Kanzlei. Er fragte mich, ob ich am Nachmittage auf der Kasse wäre, und als ich das bejahte, teilte er mir mit, daß er gegen Abend in der Dorf'schen Ablösungssache 60 000 Mark einlösen werde. Er kam auch am Abende auf die Kasse, brachte aber wieder kein Geld, da dasselbe wider Erwarten mit der Post nicht angekommen war. Der Dieb hat offenbar geglaubt, das Geld sei eingezahlt.«

»Wer war bei dem Gespräche in der Kanzlei zugegen?«

»Nur der taube Bodenaufseher und der Kanzlist Schrumm.«

»War Schrumm nicht früher Lithograph?«

»Jawohl, aber das Geschäft ging nicht, und da ist er bei uns als Kanzlist eingetreten.«

»Wir sind auf der richtigen Spur, geben Sie acht!«

Und der Direktor war wirklich auf der richtigen Spur. Nach fünf Minuten wurde Schrumm verhaftet. In der Kanzlei hinter Akten versteckt lag im obersten Fache das ganze gestohlene Geld in ein Taschentuch gewickelt, welch letzteres als des Kanzlisten Eigentum erkannt wurde. Er konnte nicht mehr leugnen. Er legte ein unumwundenes, schriftliches Geständnis ab, das folgendermaßen lautete:

 

»Ich war Lithograph in hiesiger Stadt. Durch Mangel an Beschäftigung war ich derart in meinen Vermögensverhältnissen heruntergekommen, daß ich einen anderen Nahrungszweig suchen mußte. Ich meldete mich um die Kanzlistenstelle und erhielt dieselbe im Herbste.

Wenn ich nicht Schulden gehabt hätte, die sich damals auf über 7000 Mark beliefen, so würde ich, wenn auch unter großen Beschränkungen, mit meinem Gehalte meine starke Familie haben ernähren können.

Kaum war ich aber in meine neue Stellung eingetreten, so fingen meine Gläubiger an, mich zu drängen. Sie schrieben an mich, daß sie von mir umsomehr Befriedigung verlangen könnten, da ich jetzt ein einträgliches Einkommen besäße. Vergebens antwortete ich ihnen, daß mein Gehalt eben nur zur Erhaltung meiner Familie hinreiche. Sie glaubten mir nicht, sie behaupteten, daß ich bedeutende Nebeneinnahmen hätte, mein früheres Geschäft noch neben meinem Amt betreiben könnte, und drohten endlich mit Personalarrest. So zog sich die Sache bis zum Ende des Jahres hin. Um diese Zeit wurde ich als Kanzlist nach der Kasse versetzt. Ich versah nebenbei Bureaudienste und ging dem Kassierer bei Einnahme und Ausgabe der Gelder zur Hand.

Ich wußte, daß der eiserne Bestand der Kasse in Goldrollen im Schranke aufbewahrt war. Ich kannte genau deren Gewicht, Länge und Dicke. Ich hatte oft für Brolmann Blei zum Kugelgießen besorgen müssen. Es fiel nicht auf, wenn ich solches kaufte. Ich tat dies, goß in starkem Papier Bleirollen, ähnlich den Goldrollen, feilte und bohrte sie zurecht, um sie in Rundung, Umfang und Gewicht den Goldrollen möglichst gleich zu machen.

Ich beschloß, bei der ersten Gelegenheit die Goldrollen aus dem Schranke zu nehmen und Bleirollen an deren Stelle zu legen.

Da war ich eines Tages im Mai mit dem Sortieren der Akten auf der Oberstube beschäftigt. Indem ich die Akten wegräumte, fiel mir eine Diele an der Wand auf, die unter meinem Tritt schwankte. Ich hob sie empor, das Gemäuer kam zum Vorschein.

Mein Entschluß war gefaßt. Das war nachmittags 6 Uhr. Ich beschloß, am Schlusse der Bureaustunden im Gebäude mich zu verstecken, mich einschließen zu lassen und in der Kasse in der Nacht einzubrechen. Um ein Stemmeisen zu holen, begab ich mich einen Augenblick nach Hause. Auf dem Wege dahin hörte ich, daß Brolmann beim Baden ertrunken sei. Im Augenblick überlegte ich, daß ich den Diebstahl, den ich vollbringen wollte, mit dem Tode des Direktors in Verbindung setzen und so den Verdacht von mir abwenden könnte. Als Lithograph konnte ich täuschend alle Schriftzüge nachahmen, ich schrieb zu Hause an den Präsidenten einen Brief, der sich in den Akten befindet, ging aufs Bureau, versiegelte denselben und ging zur Post, wo ich ihn in den Kasten warf. Dann eilte ich ins Bureau zurück, um mich einschließen zu lassen.

Als alles ruhig und still war, ging ich an die Arbeit. Meine Hand griff in den Raum und faßte die auf dem obersten schmalen Brette liegenden Goldrollen. Ich nahm deren zehn und legte zehn Bleirollen an die Stelle. Dann setzte ich den Stein wieder ein, befestigte ihn mit etwas Lehm, drückte die Diele in ihre alte Lage und packte die Akten darüber.

Die Nacht war vorüber, die Sonne ging auf und ihre ersten Strahlen trafen mich – den Dieb, den Verbrecher.

Bald wurde es im Hause lebendig, die Diener kamen, um die unteren Zimmer zu reinigen. Ich schlich mich ungesehen aus dem Hause. Meiner Frau sagte ich, daß ich auf Anordnung des Kanzleidirektors an der Leiche Brolmanns Wache gehalten.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich reiste in der Nacht fort, wechselte das Gold in Papier und bezahlte nun meine Gläubiger von hier aus, indem ich, um jeden Verdacht zu vermeiden, nur ganz geringe Summen auf dem Kuvert deklarierte. Vor einer Entdeckung durch meine Gläubiger sicherte ich mich dadurch, daß ich jedem einzelnen schrieb, er möge über den Empfang des Geldes schweigen, damit die anderen Gläubiger die Zahlungen nicht erfahren und mich nicht drängten. Nicht einen Pfennig behielt ich für mich zurück und lebte so karg und ärmlich, als vorher.

Nur einen Gläubiger, einen Fabrikanten, hatte ich nicht befriedigt. Er hatte mir Zuwartung versprochen und ich hatte nur soviel gestohlen, als ich notwendig brauchte. Nach drei Jahren begann aber auch er zu drängen. Er schrieb mir einen Brief, der so verdächtige Zeilen enthielt, daß eine entsetzliche Angst mich faßte. Wenn dieser Gläubiger die Tatsache, daß ich die übrigen befriedigt, kannte und dem Gerichte Anzeige machte, so war ich verloren, denn jedermann wußte, daß ich kein Vermögen besessen.

Ich war der Verzweiflung nahe. Ich wußte, daß in dem Schranke sich nur sehr wenig Geld befand, das zur Befriedigung dieses Gläubigers nicht hinreichte. Da hörte ich gestern früh auf der Kanzlei, daß ein Advokat für gestern abends die Einlieferung einer großen Summe Geldes ankündigte, und mein Entschluß, abermals zu stehlen, war gefaßt. Ich stahl heute nachts den Inhalt der Kasse und als es Tag wurde, sah ich, daß es nur 100 Mark waren. Die Not trieb mich zum ersten, die Angst, entdeckt zu werden, zum zweiten Diebstahl. Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch endlich an die Sonnen! Der verstorbene Brolmann war unschuldig, war kein Dieb, kein Selbstmörder.

Karl Schrumm.«

 

Direktor Helmer hatte das Protokoll abgeschlossen und eilte, so schnell er konnte, zu den Hinterbliebenen seines Vorgängers. Das war eine unbeschreibliche Freude, daß das Andenken des Verstorbenen nun von jedem Makel gereinigt war.

 

.


 << zurück