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17. Friede und Glück

Frau Heßling wollte es nicht haben, daß ihre Tochter noch weiter sich um die immer verworrener scheinenden Angelegenheiten kümmere. Als aber der Brief mit der Geldsumme eintraf und Martha in überschwenglicher Weise den vornehmen Charakter und die edle Gesinnung ihres Brotherrn schilderte, merkte Frau Heßling, daß da eine innige Zuneigung vorhanden sei. Da sie Werner von früher her kannte als durchaus ehrenwert und von bescheidenem Wesen, wollte sie nicht hinderlich sein, sondern billigte Marthas Entschluß, den Betrag zurückzubringen und ihre weiteren Dienste besonders während Mansfelds Abwesenheit anzubieten. Sie dachte ganz richtig an die Notwendigkeit, daß das für einen strebsamen jungen Mann ganz aussichtsreiche Unternehmen verkauft werden müsse, ja sie hatte darüber mit Herrn Gutmann eingehend gesprochen und diesem war es gelungen, einen Kauflustigen, dem ausreichende Barmittel zur Verfügung standen, zu gewinnen. Allerdings konnte nicht eher mit Werner Mansfeld verhandelt werden, als bis die gerichtlichen Untersuchungen abgeschlossen waren.

Mit der Empfindung eines dumpfen Kopfwehs und eines stechenden Schmerzes in allen Gelenken, fuhr Werner Mansfeld aus der unbequemen Lage auf, in der er seit einer Reihe von Stunden fest und traumlos geschlafen hatte. Verwirrt schaute er um sich her, und eine geraume Weile verging, ehe sich das wirbelnde Chaos seiner Gedanken zum klaren Bewußtsein von Ort und Zeit geordnet hatte. Was schon die matte Helligkeit um ihn her hatte vermuten lassen, es wurde ihm bei einem Blicke auf die Uhr zur Gewißheit: der neue Tag war längst angebrochen und das geschäftige Leben ging draußen seit Stunden seinen altgewohnten Gang.

Mit Anstrengung, unter peinlichen Schmerzen der steif gewordenen Glieder, richtete sich Werner auf. Seine Augen glitten über die beschriebenen Blätter hin, die die Platte des Schreibtisches bedeckten, und er griff nach dem letzten von ihnen, das die übermächtige Müdigkeit nicht mehr hatte zu Ende bringen lassen. Flüchtig überflog er die Schlußsätze und seine Hand zuckte nach der Feder.

Aber er ließ sie auf halbem Wege wieder sinken.

»Nein, dazu ist jetzt keine Zeit mehr,« sagte er laut. »Und ich habe auch heute nicht Kraft genug dazu. Sie mögen sehen, sich das Ende selber zusammenzureimen.«

Er raffte die Blätter zusammen, schob sie in einen größeren Briefumschlag, den er sich schon in der verflossenen Nacht zurechtgelegt hatte, und versah ihn mit der Adresse:

»An die Königliche Staatsanwaltschaft. Dahier.«

Dann legte er das dickleibige Päckchen mitten auf die sonst leere Schreibplatte, so daß es jedem Eintretenden notwendig sofort in die Augen fallen mußte.

»Sie werden's nicht übersehen,« murmelten seine zuckenden Lippen. »Ein Blinder müßte es ja finden.«

Er wandte sich der Ausgangstür zu, und ein bitteres Lächeln huschte für einen Moment über sein Gesicht, als er im Vorübergehen sein Ebenbild im Spiegel erblickte.

»Anders könnte ein wirklicher Mörder auch nicht aussehen,« dachte er laut. »Nun, wenn alles vorbei ist, mögen sie mich in Gottes Namen dafür nehmen.«

Er überschritt den Hausgang, der die beiden Wohngemächer von den Geschäftsräumen trennte, und betrat das Kontor. Da war alles in der musterhaften Ordnung, in der Martha Heßling den Schauplatz ihrer so ungern aufgegebenen Tätigkeit verlassen hatte. Unter den auf dem Tische liegenden Mappen aber lugte der bunte Zipfel eines seidenen Halstüchleins hervor, das sie bei ihrer raschen Verabschiedung mitzunehmen vergessen. Werner Mansfeld zog es vollends heraus, betrachtete wohl eine Minute lang das leichte, feine Gewebe, das einen ganz zarten Wohlgeruch ausströmte, und drückte es dann plötzlich mit Ungestüm immer wieder an seine Lippen.

Das brutale Peitschenknallen eines draußen vorüberfahrenden Kutschers machte seine überreizten Nerven zucken. Und es erinnerte ihn zugleich an das Vorhaben, zu dessen Ausführung er hier eingetreten war. Behutsam, als handle es sich um etwas sehr Kostbares und Zerbrechliches, faltete er das seidene Tuch zusammen und verbarg es unter seiner Weste auf der Stelle des Herzens. Dann ging er an das Pult, das so lange sein Arbeitsplatz gewesen war, drehte den Schlüssel und hob den Deckel empor. Unter einem Stoß von Papieren, die er mit rascher Hand beiseite geschoben, blinkte mit mattem Glanz der stählerne Lauf eines Revolvers hervor. Er nahm ihn heraus, wie das Schächtelchen mit Patronen, das er daneben verwahrt hatte. Einen kleinen aufstellbaren Rasierspiegel plazierte er vor sich auf der Pultplatte, und dann begann er langsam und bedächtig die tödlichen Geschosse in die Trommel der Waffe einzuschieben.

Mit dröhnendem Knattern und Rasseln, das minutenlang jedes andere Geräusch verschlang, rollte eben ein schwer mit Eisenstangen beladener Lastwagen über das vorsintflutliche Pflaster der Vorstadtstraße. Und einzig dem Höllenlärm dieses Gefährts war es zuzuschreiben, daß Werner das Anschlagen der Hausglocke ebenso vollständig überhören konnte, wie er das leise zaghafte Klopfen an die Tür des Zimmers überhörte, und wie es seiner Wahrnehmung entging, daß diese unverschlossene Tür zögernd geöffnet wurde, um einer schlanken, dunkel gekleideten Mädchengestalt Einlaß zu gewähren.

Er zuckte erst dann in jäher Ueberraschung empor, als plötzlich ein Aufschrei namenlosen Entsetzens sein Ohr erreichte, und als zwei weiche Arme mit verzweifeltem Druck seinen Oberkörper umklammerten, ihn für den Augenblick jeder Möglichkeit einer Bewegung beraubend.

»Nein – nein – nein!« schrie es ihm von Marthas leichenblaß gefärbten Lippen ins Gesicht. »Nicht das – nicht das Fürchterliche! Oder – wenn du es tun mußt, so laß mich mit dir sterben!«

Polternd fiel der Revolver zu Boden, und mit einem Ruck hatte Werner seine beiden Arme frei gemacht. Aber in keiner anderen Absicht hatte er es getan, als um die feine, von Angst und Grauen geschüttelte Gestalt mit ihnen zu umschlingen, um sich über das schöne, marmorweiße Mädchengesicht herabzuneigen und um die willenlos Hingegebene mit brennenden Küssen schier zu ersticken.

»Du – du – du!« Das war alles, was er in den kurzen Pausen hervorbringen konnte, die er sich und ihr vergönnen mußte, um Atem zu schöpfen. Aber ein Strom heißer, unbändiger Leidenschaft flutete aus dem einen winzigen Wörtchen über die Zitternde hin.

Eine geraume Weile später erst hatte er aus ihren abgerissenen Mitteilungen erfahren, daß sie gekommen war, ihm das Geld zurückzubringen, dessen Absender nach ihrer unumstößlichen Ueberzeugung kein anderer gewesen sein konnte, als er. Der Brief mit der kunstvollen Rundschriftadresse lag vor ihnen auf dem Tische, aber nicht dieser inhaltsschwere Brief war es, von dem sie sprachen.

Dicht an ihn geschmiegt, als hielte sie es noch immer für notwendig, damit das Gräßliche zu verhüten, bei dessen Vorbereitung sie ihn getroffen, flüsterte Martha:

»Und warum – o, sage mir, warum wolltest du das tun?«

Da machte er sich mit sanfter Gewalt los und nahm sie bei der Hand.

»Komm!« sagte er. »Wenn du mir versprechen willst, stark zu sein, so sollst du vor allen anderen Menschen es erfahren.«

Sie hatte wahrlich nicht das Aussehen übermenschlicher Stärke, aber was würde sie ihm nicht versprochen haben, wenn es galt, sich damit die Wissenschaft seines schrecklichen Geheimnisses zu erkaufen! Er führte sie in das Wohnzimmer hinüber, und vor den Schreibsekretär, auf dessen Platte das an die Königliche Staatsanwaltschaft gerichtete Schreiben lag. Er riß den Umschlag herab und reichte ihr die Blätter.

»Lies!« bat er. »Aber nicht früher, als bis du zu Ende gekommen bist, sollst du mir sagen, ob es noch einen anderen Weg für mich gibt.«

Er rückte ihr selbst den Stuhl zurecht, dessen sie in der Tat dringend genug bedurfte, weil ihre zitternden Kniee ihr den Dienst zu versagen drohten; dann trat er, ihr den Rücken zuwendend, an das auf das Hinterland hinausführende Fenster.

Und Martha las:

»Einer Königlichen Staatsanwaltschaft mache ich hiermit die Mitteilung, daß sich die Leiche des Rechtsanwalts Dr. Paul Leonhardt, des Gatten meiner Stiefschwester, seit dem Abend seines rätselhaften Verschwindens in meinem Hause befindet. Er ist nicht das Opfer eines Verbrechens geworden, sondern er ist in meinem Beisein und ehe ich irgend welche Hilfe für ihn herbeischaffen konnte, eines natürlichen Todes gestorben. Das, was seinem Tode voraufging und was ihm folgte, will ich in nachstehendem mit der vollen Aufrichtigkeit eines Menschen erzählen, dessen Lebensdauer nur noch nach Minuten bemessen ist.

Ich hatte bis zu dem Tage vor seinem Ableben in den denkbar besten Beziehungen zu dem Manne meiner Stiefschwester gestanden, wenn mir auch sein eigentümliches, verstecktes und verschlossenes Wesen im innersten Herzen sehr wenig sympathisch war. Da führte eine zufällige Entdeckung den stärksten Umschwung in meinen bisherigen Ansichten über seinen moralischen Wert herbei. Bei dem Versuche, einen notorischen Wucherer wenigstens zur teilweisen Herausgabe einer Geldsumme zu bewegen, die er unter den abscheulichsten Kniffen einer wenig begüterten Witwe abgepresst hatte, mußte ich zu meiner grenzenlosen Ueberraschung von einem gewissen Gumbert hören, daß ich viel besser täte, mich mit meinem Schwager, dem Rechtsanwalt Leonhardt in Verbindung zu setzen. Denn der Herr Doktor, mit dem er sich übrigens neuerdings überworfen habe, sei bei fast allen Geldgeschäften sein stiller Kompagnon, und die eigentliche Seele aller Machenschaften gewesen. In dem hier zur Rede stehenden Fall aber habe er, Gumbert, vollends nur den Strohmann gemacht, was er mir auf die von mir geäußerten Zweifel hin durch die Vorlegung verschiedener von der Hand meines Schwagers herrührender Briefe ganz unwiderleglich bewies. Außer mir vor Schmerz und Zorn über die Entdeckung, daß meine von mir über alles geliebte Schwester an einen so erbärmlichen Heuchler und Halunken gefesselt sei, setzte ich mich auf der Stelle hin, um meinem sogenannten Schwager in den unzweideutigsten und rücksichtslosesten Worten mitzuteilen, wie ich über ihn dächte, und in meiner Erregung ließ ich mich sogar zu der Drohung hinreißen, daß ich meiner Stiefschwester alles offenbaren würde. Ich hatte nicht erwartet, daß er auf diesen Brief hin zu mir kommen würde, und ich war am folgenden Abend eben im Begriff, eine wichtige geschäftliche Reise nach Berlin anzutreten, als ich durch das Erscheinen Leonhardts in meinem Kontor überrascht wurde. Er war in großer Aufregung über meinen Brief und fühlte sich zudem augenscheinlich nicht ganz wohl. Anfangs versuchte er, die Erzählung Gumberts als Verleumdung hinzustellen. Als ich ihn aber auf die von mir eingesehenen Briefe verwies, schlug er eine andere Tonart an und verstieg sich in dem Bestreben, mich einzuschüchtern, zu Aeußerungen, die in hohem Maße beleidigend für mich selbst, wie namentlich für meine Stiefschwester waren. Selbstverständlich blieb ich ihm die Antwort nicht schuldig, und Leonhardt geriet in eine Wut, deren ich den sonst so beherrschten Mann nicht für fähig geglaubt hätte. Plötzlich fuhr er sich aufstöhnend mit beiden Händen nach dem Kopfe und brach in der nächsten Sekunde zusammen. In dem Glauben, daß es sich nur um einen Ohnmachtsanfall handle, tat ich, was in meinen Kräften stand, um den anscheinend Bewußtlosen ins Leben zurückzurufen, aber nach Verlauf einiger Minuten mußte ich zu meinem Schrecken innewerden, daß ich nicht einen Ohnmächtigen, sondern einen Toten vor mir habe. Es wäre natürlich das Nächstliegende gewesen, einen Arzt herbeizurufen. Aber ich war so fest überzeugt, daß hier alle menschliche Hilfe machtlos sei, daß ich zunächst nur den einen Gedanken hatte, wie ich meiner unglücklichen Schwester diese schreckliche Nachricht möglichst schonend beibringen solle. Ich ließ die Leiche meines Schwagers in der Lage, in der ihn der Tod ereilt hatte und machte mich unverzüglich auf den Weg nach seiner Wohnung. Dabei befand ich mich in einem Zustand unbeschreiblichster Aufregung und Verwirrung. Und in diesem Zustande, den ich selber heute noch nicht recht verstehe, brachte ich es fertig, über meinen Winterrock, den ich schon bei Leonhardts Eintritt angehabt hatte, seinen auf einen Stuhl geworfenen Pelz zu ziehen, ohne daß ich mir dieser halb mechanischen Handlung bewußt wurde. Ebenso nahm ich seinen an dem Stuhl lehnenden Regenschirm mit mir, ohne zu ahnen, welche Wichtigkeit diese beiden Garderobenstücke als angebliche Beweise für seine Ermordung in der Folge erlangen sollten. Angesichts meines unmittelbar bevorstehenden Todes schwöre ich, daß mich auf meinem Wege keine andere Absicht leitete als die, den Ueberbringer der Trauerkunde an meine Stiefschwester zu machen, und daß mir der Gedanke an den nachher von mir ausgeführten Diebstahl mit der Plötzlichkeit einer blitzartigen Eingebung erst in dem Augenblick aufstieg, als mir der Pförtner Deibler die Haustür öffnete und mich um meines Pelzes willen für den Rechtsanwalt hielt. Ich hatte unterwegs bei einem zufälligen Griff in die Seitentasche des Pelzes den Schlüsselbund meines Schwagers in die Hand bekommen und hatte ihn herausgenommen, um mit Hilfe des daran befindlichen Hausschlüssels die Eingangstür zu öffnen – ein vergebliches Bemühen, bei welchem mir eben der Pförtner Deibler zu Hilfe gekommen war. Nun gaben mir die Schlüssel in meiner Hand zusammen mit dem Geschwätz des Mannes, der mich beharrlich mit »Herr Doktor Leonhardt« anredete, den Gedanken ein:

Wie nun, wenn du wirklich für eine halbe Stunde die Rolle dieses elenden Diebes und Wucherers spieltest! – Wenn du die Hilfsmittel, die ein Zufall dir in die Finger gegeben hat, dazu benutztest, dich durch einen Griff in seinen Geldschrank aus deinen drückenden Verlegenheiten zu befreien!

Ich wußte, daß Leonhardt ein reicher Mann sei, daß meine Stiefschwester als seine einzige Erbin durch seinen Nachlaß für alle Zukunft vor Sorge und Mangel geschützt sei, und mein Vorhaben erschien mir darum in jenen Augenblicken halben Wahnsinns keineswegs im Lichte eines Verbrechens. Trotzdem ist es mir heute vollkommen unfaßlich, wie ich die Ausführung fertigbringen konnte, und ich erinnere mich an die Zeit meines nächtlichen Aufenthalts im Leonhardtschen Hause nur wie an einen wüsten, nebelhaften Traum, dessen Einzelheiten meinem Gedächtnis bis auf wenige Momente völlig entschwunden sind. Ich weiß nur, daß ich mich beim Oeffnen des Geldschrankes an der scharfen Kante eines vorspringenden Riegels verletzte, und daß meine rechte Hand ziemlich heftig blutete. Weiter entsinne ich mich, daß ich den Inhalt des Tresors in unsinniger Hast durchwühlte, daß ich endlich in einer Ledermappe ein Päckchen von Kassenscheinen fand, und daß ich außerdem aufs Geratewohl den Inhalt eines Umschlages mit mir nahm, den ich auf ein kleines Kapital in Wertpapieren taxierte. Regenschirm und Pelz hatte ich schon gleich nach meinem Eintritt von mir geworfen, und als ich mich nach einer Zeit, deren Dauer ich nicht einmal annähernd zu schätzen weiß, zum Gehen wandte, dachte ich natürlich nicht daran, alle diese Dinge mit mir zu nehmen. Ich war noch immer wie in einem Rausch, und doch muß ich mit erstaunlicher Ueberlegung gehandelt haben. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß ich den Hausschlüssel von dem Schlüsselring gelöst, dann aber den Bund wieder in das Schloß der Geldschranktür gesteckt habe, statt ihn irgend wohin zu werfen, oder ihn mit mir zu nehmen, wie es für einen Menschen in meiner Verfassung viel natürlicher gewesen wäre. Ich drückte die zu den Kanzleiräumen führende Tür, die ich vorhin mit dem dazu gehörigen Schlüssel geöffnet hatte, hinter mir zu und ging über den erleuchteten Flur zum Straßenausgang des Hauses. Daran, daß ich von der Pförtnerloge aus beobachtet werden könnte, dachte ich keinen Augenblick, denn ich glaubte alles im Hause im tiefsten Schlaf. Und in der Tat muß sich der Pförtner trotz der Bestimmtheit seiner Versicherungen in einer Art von Halbschlummer befunden haben, wenn er mich, den er vorhin für den Rechtsanwalt Leonhardt gehalten, jetzt beim Fortgehen mit dem Architekten Neuhoff verwechseln konnte, mit dem ich meines Wissens keine andere Ähnlichkeit als allenfalls meinen Schnurrbart aufzuweisen habe. Ich konnte mir die seltsame Behauptung Deiblers von vornherein nur damit erklären, daß der Mann sich durch die Vermutung, es könne nur der am Abend eingetretene Fremde sein, der das Haus verließ, die vermeintliche Gewißheit seiner Meinung nach und nach selbst eingab, und daß ihn die offensichtliche Bedeutung seiner Zeugenaussage mit großtuerischer Wichtigkeit an der einmal abgegebenen Bekundung festhalten ließ.

Doch es scheint mir müßig, darüber in diesem Augenblick weitere Vermutungen anzustellen. Jedenfalls ist die Tatsache, daß der Mann sich geirrt hat, wohl außer allem Zweifel. Und hier kann es sich nur um die Erzählung dessen handeln, was mich selbst angeht. In dem Augenblick, da ich die Straße erreicht hatte, erging es mir wie einem Trunkenen, der aus dem heißen, sinneumnebelnden Kneipzimmer in die freie, kühle Luft hinaustritt. Und schrecklicher, als der Rausch gewesen war, der mich zum Verbrecher gemacht hatte, war die Ernüchterung, die ihm folgte. Was mir bisher noch garnicht in den Sinn gekommen war, jetzt wurde es mir plötzlich zur fürchterlich klaren Erkenntnis: Ich hatte mich durch das, was ich getan, der Möglichkeit beraubt, irgend jemandem von dem Schicksalsschlag Mitteilung zu machen, der meinen Schwager unter meinem Dache ereilt hatte. Denn dadurch würde ich ja zugleich mich als Einbrecher und Dieb denunziert haben. Es ist die lauterste Wahrheit, wenn ich versichere, daß ich unter dem Druck dieser Erkenntnis zuerst fest entschlossen war, wieder umzukehren, die gestohlenen Schätze an ihren Platz zurückzulegen und meine Stiefschwester wecken zu lassen. Zweimal kehrte ich bis in die Nähe des Leonhardtschen Hauses zurück, aber eine Feigheit, deren ich nicht Herr zu werden vermochte, hielt mich ab, den letzten, entscheidenden Schritt zu tun. So begab ich mich endlich in meine Wohnung und verbrachte, ohne die Schwelle des Gemaches zu überschreiten, in dem der Tote lag, den Rest der Nacht in einem Zustande, der nicht allzuweit vom wirklichen Wahnsinn entfernt war. Gegen Morgen aber hatte ich unter dem Zwange der eisernen Notwendigkeit meinen Plan gefaßt. Ich wollte versuchen, die Leiche zu verbergen und den Unwissenden zu spielen. Zu diesem Zweck schien es mir am besten, die Reise anzutreten, die ich für den verflossenen Abend geplant hatte. Ich verschloß meine Wohnung, in der die irdische Hülle des Verstorbenen noch immer am Boden lag, und fuhr mit dem ersten Frühzug nach Berlin. Auf das Telegramm meiner Stiefschwester kehrte ich zurück, und in der folgenden Nacht, der fürchterlichsten meines Lebens, schleppte ich den Toten, der von niemandem entdeckt worden war, in einen auf dem Hinterlande des von mir bewohnten Grundstückes befindlichen ehemaligen Eiskeller, den ich zur Aufbewahrung meiner Chemikalien zu benutzen pflegte. Als ich die Tür wieder hinter mir geschlossen, warf ich den Schlüssel in eine Grube und ich habe die irdischen Reste meines Schwagers seitdem nicht mehr gesehen.

Daß man an eine Ermordung Leonhardts glaubte, hätte mir nur willkommen sein können, aber mit Schrecken mußte ich zugleich erfahren, daß der Verdacht sich auf einen Schuldlosen gelenkt hatte. All mein Dichten und Trachten war von nun an ausschließlich darauf gerichtet, Neuhoff zu entlasten, ohne doch mich selber damit an das Messer zu liefern. Ich hoffte diesen Zweck durch Rücksendung der Pfandbriefe zu erreichen, zu deren Auflieferung ich eigens nach dem nur um kurze drei Stunden entfernten Dresden reiste. Und als ich erkennen mußte, daß damit nichts gewonnen war, verfiel ich auf den tollkühnen Gedanken, den toten Rechtsanwalt als lebende Person auftreten zu lassen. Ich besaß Briefe genug von Leonhardts Hand und verfügte über ausreichende Geschicklichkeit, um seine Handschrift, die zu meinem Glück sehr wenig charakteristisch war, nachahmen zu können. Dann fuhr ich abermals nach Dresden und gab jenen Brief an meine Stiefschwester auf, der sich gleich dem andern in den Händen des Untersuchungsrichters befindet. Ich war überzeugt, daß meine Schwester im Interesse des Unschuldigen den Brief sofort an die Behörden ausliefern würde, und das eben war es, was ich hatte erreichen wollen. Ich riet ihr denn auch eindringlich dazu, als sie mich ins Vertrauen zog und mich ahnungslos um meinen Rat anging. Aber ihrer aus falsch verstandener Pflicht entsprungenen Gattentreue gegenüber mußte ich es dann wohl oder übel geschehen lassen, daß sie das vermeintliche Geheimnis ihres Mannes bewahrte. In der feigen Angst vor Entdeckung, die mich damals noch beherrschte, atmete ich erleichtert auf, als sie auf den echt frauenhaften Ausweg jener falschen Aussage verfiel, die auch mir geeignet schien, Theodor Neuhoff zu retten. Ich ermahnte sie darum in meinem zweiten Briefe, bei dieser Aussage zu bleiben, aber ich war zugleich erbärmlich genug, sie um eine Summe Geldes zu bitten, deren ich für einen bestimmten, hier nicht zu erörternden Zweck bedurfte. Um in den Besitz dieser Geldsumme zu gelangen, mußte ich ihr wohl oder übel eine Adresse angeben, und diese Adresse war es, die dank der Spionage einer falschen Freundin zur Entdeckung des Briefwechsels führte.

Als ich auf dem Dresdner Postamt die Gewißheit erlangte, daß der Brief meiner Stiefschwester in die Hände des Fräulein Rogall gefallen sei, gab ich mich keiner Täuschung hin über das, was nun weiter folgen würde. Aber so verzweifelt klammerte ich mich an die Hoffnung, das verwegene Spiel zu gewinnen, daß ich mich entschloß, den Kampf auch jetzt noch nicht aufzugeben, und ich hatte bis zu dem Augenblick meiner Vernehmung Zeit genug, die Lüge zu ersinnen, durch die, wie es scheint, selbst der Scharfblick und die Erfahrung eines ergrauten Kriminalisten getäuscht werden konnten. Aber es war ein Pyrrhussieg, der letzte, den ich in diesem widrigen Kampfe davongetragen haben will. Als ich das Justizgebäude verließ, fühlte ich, daß mein Nervensystem der ewigen Angst meiner Tage und den grauenhaften Traumgebilden meiner Nächte nicht mehr gewachsen sei. Und da ich überdies erkannte, daß ich auf dem Wege sei, das Lebensglück einer mir teuren Person für immer zu vernichten – – –«

Hier brach das Bekenntnis ab, das Martha vom ersten bis zum letzten Wort gelesen hatte, ohne durch einen einzigen Aufschrei des Entsetzens oder durch ein Schluchzen zu verraten, was bei der furchtbaren Lektüre in ihrem Innern vorging. Jetzt legte sie die Blätter auf den Tisch zurück und trat mit seltsam ruhigem Antlitz zu dem regungslosen Mann am Fenster.

»Du siehst, daß ich stark bin,« sagte sie, ihren Kopf an seine Schulter schmiegend. »Willst du dich von mir beschämen lassen, Werner?«

Mit einem ungewissen, zweifelnden Blick sah er ihr in ihr liebliches Gesicht.

»Du hast gelesen –? – Alles hast du gelesen? – Nein, das ist unmöglich, denn du könntest alsdann nicht so zu mir sprechen.«

»Und wie sonst hätte ich zu dir sprechen sollen? Erwartest du etwa, aus meinem Munde Vorwürfe zu hören, weil du um meinetwillen ein schweres Verhängnis über dich heraufbeschworen hast?«

»Um deinetwillen? – Nein! Wenn du das aus den Blättern herauslesen konntest, so verfluche ich die Stunde, wo ich sie geschrieben und den unglücklichen Gedanken, sie dir preiszugeben.«

Aber mit einem kleinen, in all seiner Traurigkeit unendlich lieblichen Lächeln schüttelte sie den Kopf.

»Es ist kein Grund zu solchen Verwünschungen, du Lieber! Ich weiß ja nun, daß du mich nicht hassest, weil ich dies Unglück in dein Leben gebracht habe. Und ich traue meiner unendlichen Liebe die Kraft zu, dich an künftigen, glücklicheren Tagen vergessen zu machen, was du um mich gelitten.«

Er preßte sie stürmisch an sich, aber die düstere Hoffnungslosigkeit wich darum nicht aus seinen Zügen.

»Das sind törichte Träume, mein armes Kind! Es darf für mich kein »künftig« mehr geben, so wenig im Glück als im Unglück.«

»Hast du mich nicht ermächtigt, dir den Weg zu zeigen, den du gehen mußt? Nun, ich tue es, willst du mir jetzt antworten, daß ich ein einfältiges, unwissendes Mädchen sei, dessen Meinung keinen Wert für dich hat?«

»Aber was für ein Weg sollte es denn sein, Martha? Vielleicht noch weiter der Weg der Lüge, der mich bereits bis an die Pforten des Wahnsinns geführt hat?«

»Nein, Liebster – den Weg der Wahrheit, den du tapfer und aufrecht gehen sollst – ohne Furcht vor dem, was die Menschen vielleicht deine Strafe nennen werden – der Weg, der durch Leid und Trübsal doch endlich einmal zu dem gelobten Lande unserer Glückseligkeit führen muß.«

Da sank der große, starke Mann vor der schlanken Mädchengestalt in die Knie, und während die heißen Tränen unaufhaltsam über seine hageren Wangen rollten, barg er sein zuckendes Antlitz in den Falten ihres Kleides. – –

Eine Viertelstunde später war Werner Mansfeld auf dem Wege zum Justizgebäude, und mit jener Vertrautheit, die nach den Begriffen gesellschaftlicher Schicklichkeit nur einer verlobten Braut gestattet ist, hing Martha an seinem Arm. – –

*

Soweit sie nach Lage der Dinge überhaupt auf ihre Wahrhaftigkeit nachgeprüft werden konnten, hatten sich alle von Werner Mansfeld in seiner mündlichen Selbstbezichtigung vor dem Untersuchungsrichter gemachten Angaben als richtig erwiesen. Und er durfte dem Schicksal von Herzen dankbar sein für die nahezu wunderbare Fügung, daß der Zustand der in dem ehemaligen Eiskeller richtig aufgefundenen Leiche des Rechtsanwalts Dr. Leonhardt, bei der der Verwesungsprozeß infolge der niedrigen Außentemperatur noch kaum begonnen, eine zuverlässige Feststellung der Todesursache gestattet hatte. Der Umstand, daß weder eine äußere Verletzung, noch irgendwelche Anzeichen sonstiger Gewalttätigkeiten an dem Körper des Verstorbenen zu entdecken waren, daß dagegen der unanfechtbar nachzuweisende Bluterguß ins Gehirn die sichere Diagnose auf einen tödlichen Schlaganfall rechtfertigte, rettete Werner Mansfeld vor dem furchtbaren Verdacht des Mordes, der nach dem ersten Bekanntwerden seines Geständnisses wie eine unheilschwere Wolke über seinem Haupte geschwebt hatte. Und von ungeheurem Gewicht für die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen waren ferner die Bekundungen des Privatiers Gumbert, der nach einigem Zaudern die Angaben Mansfelds über den Inhalt der zwischen ihnen stattgehabten Unterredung bestätigen mußte – sowie das Vorhandensein des von Werner an den Rechtsanwalt gerichteten, von flammender Entrüstung erfüllten Briefes, den man in der Brusttasche des Toten gefunden hatte.

So konnte dem ehemaligen Künstler, den man natürlich unter gleichzeitiger Freilassung des als vollständig unschuldig befundenen Theodor Neuhoff sofort in Untersuchungshaft genommen hatte, nur wegen Diebstahls und wegen Beiseiteschaffung einer Leiche der Prozeß gemacht werden. Es fiel bei der Beurteilung des ersten Vergehens zu seinen Gunsten besonders ins Gewicht, daß er die entwendeten dreitausendachthundert Mark, die Martha ihm zuruckgegeben, unangetastet und in denselben Kassenscheinen, die er dem Geldschrank seines Schwagers entnommen, dem Untersuchungsrichter hatte überreichen können.

Immerhin lautete das Urteil unter Zubilligung mildernder Umstände auf eine Gefängnisstrafe von einem Jahre, zu deren sofortiger Verbüßung sich Werner nach Verkündigung des Spruches mit mannhafter Festigkeit bereit erklärte.

Aus einer kurzen Unterredung mit seiner Schwester, die ihm der Präsident nicht versagt hatte, durfte er in die Einsamkeit seiner Zelle die tröstliche Gewißheit mitnehmen, daß Herta ihm sein Verbrechen ebenso verziehen habe, wie das verzweifelte Gaukelspiel, das er in der tödlichen Angst um seine bürgerliche Ehre in Szene gesetzt. Und er durfte ihr voll überströmender Dankbarkeit die Hand küssen für ihre Versicherung, daß sie Martha Heßling bis zum Tage seiner Freilassung, dem das mutige Mädchen in der freudigen Zuversicht kommenden Glückes entgegensehe, eine treue schwesterliche Freundin sein werde.

Erst als der Beamte, der der Unterredung beiwohnte, durch ein leises Zeichen der Ungeduld an die Notwendigkeit ihrer Beendigung mahnte, hatte Werner das Herz zu fragen:

»Und Theodor Neuhoff? – Hast du ihn wiedergesehen?«

Da neigte die junge Witwe das Haupt, um hinter den Maschen ihres dichten schwarzen Schleiers das verräterische Rot zu verbergen, das in ihren Wangen aufstieg, und ihre Lippen flüsterten:

»Ja – ich habe ihn wiedergesehen. Wenige Tage nach der Beisetzung Pauls ist er bei mir gewesen, um mich auf seine Mannesehre zu versichern, daß ich bei der übereilten Auflösung unseres Verlöbnisses wirklich das Opfer eines schändlichen Intrigenspiels geworden war. Auch von deinem Briefe hat er mir gesprochen, Werner – von diesem aufklärenden Briefe, ohne den er wohl niemals gekommen wäre. Ich sollte dir ja eigentlich zürnen, daß du ihm das Geheimnis meines Herzens preisgegeben, ohne mich erst um Erlaubnis zu fragen. Aber ich – ich würde dich und mich belügen, wenn ich es täte. Ich bin dir ja aus tiefster Seele dankbar dafür, daß du es getan.«

»Und dann – dann ist er wieder fortgegangen, Herta?«

»Ja, er ist nach Berlin gereist, um seine Stellung anzutreten.«

»Aber er wird wiederkommen – nicht wahr?«

Das gesenkte Köpfchen hatte sich wieder gehoben, und durch die Maschen des schwarzen Gewebes leuchteten zwei junge Menschenaugen im Glanze seligster Hoffnung, als sie erwiderte:

»Ja, er wird wiederkommen, wenn die Pietät gegen den Verstorbenen mir nach Sitte und Herkommen gestattet, ihn zu empfangen.«

*

Bald nachdem Herta sich von all den Aufregungen erholt hatte, löste sie ihr Hauswesen auf, um den Winter in einem weltabgelegenen Dörfchen im sonnigen Italien zu verbringen.

Dann kehrte sie zurück nach Eberstadt, um sich da häuslich einzurichten. Ihre reichen Mittel machten die stille sanfte Frau bald zum Liebling aller Armen und Bedrängten. Dem alten Herrn Neuhoff hatte sie alles, was er verloren hatte, sei es nun mit oder ohne ihres verstorbenen Mannes Schuld, reichlich ersetzen lassen. Der gute Mann wollte nichts annehmen, aber seine Freunde rieten ihm dringend dazu, er müsse doch an seinen Sohn denken und an seine jüngere Tochter, die ja ganz auf sich angewiesen seien, wenn er nicht mehr da sei.

Als dann auch Theodor zustimmend schrieb und so zuversichtlich von künftigen schönen, sonnigen Tagen zu plaudern wußte, gab der alte Herr nach. Unter seiner Leitung und nach seinen Angaben wurde von einem strebsamen Maurermeister ein Haus errichtet, das den guten Eberstädtern als ein Rätsel vorkam. Neuhoffs Absicht war, der Gemeinde ein neues Armenhaus zu bauen und zu schenken, davon aber erst Kenntnis zu geben, wenn es fix und fertig dastehe. Und das war der Fall, als Theodor an Vaters Geburtstag zum erstenmal wieder heimkam. In schlichter Feier erfolgte des Hauses Uebergabe an die Gemeinde, der alte Herr war wieder so rüstig, wie früher in seinen arbeitsreichen Jahren.

Unter den Gratulanten befand sich auch Frau Herta Leonhardt, sie hatte keine Ahnung, daß Theodor anwesend sei, denn er wollte ganz unverhofft kommen.

Um so herzlicher war die Begrüßung und um so rührender die Freude des Wiedersehens. Geschrieben hatten sich die beiden absichtlich nur selten.

Theodor hatte acht Tage Urlaub erbeten, die ihm der Direktor der Baugesellschaft gern bewilligte, freilich ohne zu ahnen, daß in diesen acht Tagen die Kündigung auf Januar erfolge. Durch seine hervorragende Tüchtigkeit, Treue und Zuverlässigkeit war der junge Mann in dem großen Betriebe eine der Hauptpersonen geworden; er hatte ein besonderes Geschick, mit den immer vorhandenen unzufriedenen Elementen zu verhandeln und jede Art von Differenzen zu schlichten. Der junge Mann dachte um Ostern seine liebe Herta heimzuholen, die Pläne für die eigene Tätigkeit waren schon festgelegt. Vorher aber wollte er noch verschiedene Studienreisen machen, was schon lange sein sehnlichster Wunsch war. Der letzte Urlaubstag sollte die Besiegelung seines Glückes bringen. Herta hatte eingewilligt, daß ihre Verlobung nun veröffentlicht werden dürfe, es war niemand eingeladen zur stillen ernsten Feier. Nur Theodors Vater und Schwester waren zugegen. Herta hatte ja keine Geschwister oder Verwandte, die ihr aufrichtig zugetan waren. Mit dem Abendschnellzug reiste Theodor ab, um am Vormittag seine Bitte um Dienstentlassung persönlich vorzubringen und dann frisch an die Arbeit zu gehen. Gleich nach seiner Ankunft in Berlin depeschierte er seinem besorgten Vater, dann eilte er heim, um noch etwas auszuruhen. Auf dem Schreibtisch lag ein großer Brief in feinem Umschlag. »Herrn Theodor Neuhoff sofort auszuhändigen«, las er, das war doch nicht etwa ein Nachklang zu den schweren Tagen in L. Behutsam öffnet er den Umschlag und entnimmt ihm den Brief. Ziemlich lang der Inhalt und höchst erfreulich:

 

Sehr geehrter Herr Neuhoff!

Ihre Kündigung hat uns und besonders mich sehr überrascht. Ich kann es Ihnen nicht verübeln, daß Sie gerne frei und nach eigenen Gedanken arbeiten möchten und bin überzeugt, daß Sie Hervorragendes leisten werden. Wir sehen Sie sehr ungern scheiden und hoffen noch, daß Sie sich vielleicht anders besinnen. Ich ernenne Sie im Einverständnis mit dem Aufsichtsrat zu meinem Stellvertreter, es war meine Absicht, Ihnen dies Ehrenamt als Weihnachtsgabe zu bieten, nun sind aber die Verhältnisse andere geworden. Ich kam erst heute früh aus Hamburg zurück, sonst hätte ich Ihnen noch nach Eberstadt geschrieben. Da Sie nun morgen vormittag wieder an der Arbeit sein wollen, will ich Ihnen diese Zeilen lieber vorher übermitteln. Dann möchte ich Ihnen noch eine Bitte vorbringen. Können Sie sich zum Verbleiben in unserer Gesellschaft nicht entschließen, so übernehmen Sie wohl die Direktion bis Anfang Februar, denn die unter Ihrer speziellen Leitung begonnenen Bauten werden Sie sicher auch vollenden mögen. Ihre Studienreisen lassen sich, wenn Sie meine gesammelten Erfahrungen und Ratschläge annehmen mögen, sehr nutzbringend gestalten und doch verhältnismäßig wenig Zeit beanspruchend.

Alles Sonstige können wir ja dann besprechen, ich habe die Herren vom Aufsichtsrat auf morgen abend zu mir gebeten und lade Sie herzlich hierzu ein.

Mit Wertschätzung
Ihr Alfred Waltner.

 

Das hätte Theodor sich nie träumen lassen, freilich war ihm der sehr gewissenhafte und in allen Fragen und Lagen gründlich bewanderte Direktor stets gewogen, hatte ihn ja aus der bescheidenen Stellung bei einem kleinen Baumeister herausgeholt, aber an ein solches Vertrauen hätte er nie gedacht. Er betrachtete es als Pflicht, die zweite in dem Brief ausgesprochene Bitte zu erfüllen und sagte auch sofort zu, als er beim Direktor eintrat.

Theodors tiefgefühlten Dank lehnte der joviale Herr ab, da ja die Gesellschaft Schuldner sei und die gediegenen Leistungen schon längst hätte besser anerkennen müssen.

Mit welcher Freude und welchem Eifer Theodor nun erst recht arbeitete, kann man sich denken. Waren doch seine kühnsten Hoffnungen erfüllt, konnte er doch nun aus eigenen Mitteln für Vater und Schwester sorgen, denn als zweiter Direktor fiel ihm eine beträchtliche Tantieme zu, die er aus dem Umsatz und dem Abschluß so ziemlich kannte. –

So verging die Zeit wie im Fluge, Arbeit gab es mehr wie genug, es kamen noch einige wichtige Bauten für das kommende Frühjahr hinzu, nur zu gerne hätten die Gesellschafter den tüchtigen Fachmann behalten.

Endlich war der letzte Tag gekommen. Wie ein Vater verabschiedete sich Direktor Waltner von seinem »vertrauten Freund«, wie er Theodor nannte, ihm alles Gute wünschend. Auf der Hochzeitsreise müsse Theodor mit seiner jungen Gemahlin bei ihm einige Tage verweilen, es sei dies ein ganz besonderer Wunsch seiner Frau. Gerne sagte Theodor zu, da er ja sowieso in Berlin längere Zeit verweilen wollte.

Für ein behagliches Heim in Dresden wollte Herta sorgen, das war ihre Aufgabe. Später war noch genug Zeit, eine hübsche Villa zu bauen. – –

Einige Tage verweilte Theodor bei seinem Vater, der in alter Rüstigkeit und Schaffensfreude ganz glücklich war, dann ging er hinaus.

Nach einem mit Waltner festgelegten Plan besuchte Theodor die interessantesten Punkte in beinahe ganz Mitteleuropa. Riesig viel gab es zu sehen und zu studieren, um es für das eigene Arbeiten verwerten zu können.

Wie vereinbart, kehrte Theodor kurz vor Ostern heim, am Ostermontag fand in aller Stille die Trauung statt. Nur einige Gäste waren geladen, es war dies ganz im Sinne der jungen glücklichen Frau.

Auf der Hochzeitsreise besuchte das junge Paar die Familie Waltner, es war eine große gegenseitige Freude. – –

Drei Jahre sind vergangen. Auf der Veranda ihres prächtigen Heims am Elbufer steht Frau Herta mit ihrem Töchterchen. Die kleine Lili klatscht in die Händchen, dort kommt Papa auf seinem prächtigen Rappen angeritten. Emsig trippelt Klein-Lili die Treppe runter, Papa holt sie zu sich herauf und reitet noch ein Viertelstündchen den Fahrweg entlang. Ueberglücklich fühlt sich Herta, sie hätte nie geglaubt, ein solch reines Glück noch genießen zu dürfen.

Theodor Neuhoff war der mit am meisten beschäftigte Bauherr in der Residenz. In der Wahl seiner Mitarbeiter hatte er sich nie getäuscht, so nahm sein Ansehen und damit sein Wohlstand ständig zu. Theodors Schwester, die stille, sanfte Johanna, war schon über ein Jahr bei ihm, eine treue Hilfe seiner vielbeschäftigten Frau.

*

Von Margot kam von Zeit zu Zeit Nachricht, sie hatte ihre Absicht wahr gemacht, nach dem Tode ihrer Tante hatte sie das hübsche Häuschen zu einem Altersheim für alleinstehende Damen eingerichtet. Was sie selbst an Liebe hatte empfinden dürfen, das übertrug sie auf ihre bedürftigen Mitschwestern, inniglicher Dank war ihr Lohn.

Nicht weit von Neuhoffs Villa erhebt sich ein schmucker Geschäftsneubau, Werner Mansfeld ist es nach vielen mühseligen Versuchen gelungen, eine gewichtige Verbesserung auf photographischem Gebiete durchzuführen. Die Aufträge häuften sich so, daß unbedingt ein eigenes Haus eingerichtet werden mußte. Sein Schwager Theodor zeigte sich auch hier als vollendeter Meister in seinem Fache. Frau Martha in ihrem bescheidenen Wesen war der Liebling aller, die mit ihr in Berührung kamen. –

Was die ehrwürdige Tante sich zur Richtschnur gesetzt hatte, trifft bei allen zu.

Die Liebe glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf.

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