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7. Der mutmaßliche Verbrecher

Die Zeitungen der Stadt hatten in ihren Morgenausgaben nur in einer kurzen Notiz von dem rätselhaften Verschwinden eines sehr bekannten Rechtsanwalts gesprochen; in ihrem Abendblatt aber brachte die eine von ihnen, die sich besonders naher Beziehungen zur Kriminalpolizei rühmen durfte, einen langen, höchst sensationellen Bericht, der in allen Kreisen der Bevölkerung das größte Aufsehen erregte. Denn es wurde darin nicht nur mit aller Bestimmtheit ausgesprochen, daß der Rechtsanwalt Dr. Paul Leonhardt das Opfer eines Verbrechens geworden sein müsse, sondern es konnte auch schon die Verhaftung des mutmaßlichen Mörders gemeldet werden – unter Beifügung interessanter Einzelheiten, die sowohl die Findigkeit der Polizei, wie den Scharfsinn des Berichterstatters in die hellste Beleuchtung rückten.

Der behördliche Apparat mußte in der Tat sozusagen mit Hochdruck gearbeitet haben, da es gelungen war, innerhalb dieser kurzen Zeit eine solche Fülle von Material zusammenzubringen. Und wenn auch dieses Material nach dem Zugeständnis des sonst sehr zuversichtlichen Reporters nicht ausreichte, den Verdächtigen zu überführen, so schien doch wiederum nach Lage der Dinge eine andere Erklärung als die hier gefundene nahezu vollständig ausgeschlossen.

Denn es war sicher, daß der Rechtsanwalt nach seiner um elf Uhr abends erfolgten Heimkehr das Haus durch den vorderen Ausgang nicht wieder verlassen hatte, und die Vermutung, daß er selbst, vielleicht durch einen Sprung in den hier sehr tiefen und reißenden Fluß, seinem Leben ein Ziel gesetzt, war von allen, die ihn kannten, mit der größten Entschiedenheit in das Gebiet der Unmöglichkeiten verwiesen worden. Worin hätte man denn auch die Beweggründe für einen solchen Schritt der äußersten Verzweiflung erblicken sollen? Dr. Paul Leonhardt war nach der Erklärung seiner Kollegen vielleicht nicht gerade der bestbeleumundete, aber sicher der gesuchteste und erfolgreichste unter den jüngeren Anwälten der Stadt. Seine Praxis sicherte ihm nach der von ihm selbst abgegebenen Steuerdeklaration ein Jahreseinkommen von nahezu fünfzigtausend Mark, und er verfügte außerdem über ein beträchtliches Privatvermögen, das er durch die Beteiligung an einer großen Anzahl von industriellen Unternehmungen in überaus geschickter Weise nutzbar zu machen gewußt hatte. Eine bestimmte Angabe über die Größe dieses Vermögens vermochte der Berichterstatter zwar nicht zu machen, soviel aber war nach den bisherigen Erhebungen ganz sicher, daß Leonhardt bei der hiesigen Reichsbankhauptstelle ein offenes Depot von hundertundachtzigtausend Mark besaß, das ihm selbstverständlich in jedem beliebigen Augenblick zur Verfügung gestanden hätte.

Diesen Tatsachen gegenüber konnte der Umstand, daß aus dem offen gefundenen Geldschrank des Rechtsanwalts verschiedene ihm nicht gehörige Wertpapiere verschwunden waren, schwerlich mit einer von ihm verübten Unterschlagung in Zusammenhang gebracht werden. Vielmehr war es gerade das Fehlen dieser Papiere und einer zweifellos vorhanden gewesenen Barsumme, das überzeugend für ein an Dr. Leonhardt verübtes Verbrechen sprach.

Mit der pedantischen Genauigkeit, die ihm in der Behandlung aller Geldangelegenheiten zur Gewohnheit geworden war, hatte der Anwalt auch den Inhalt seines Geldschrankes, soweit es sich um ihm zur Verwahrung übergebene Dokumente und Wertpapiere handelte, inventarisiert, und eine Vergleichung dieses Verzeichnisses mit dem Inhalt des Tresors hatte ergeben, daß alles vorhanden war, mit einziger Ausnahme eines Briefumschlages, der neun Pfandbriefe über je dreitausend Mark enthalten hatte. Hier an eine Unterschlagung durch Dr. Leonhardt zu denken, wäre schon deshalb überaus töricht gewesen, weil sowohl der Bureauvorsteher, wie der rasch ermittelte Eigentümer der vermißten Effekten übereinstimmend bestätigten, daß die behufs Anlage von Mündelgeldern erworbenen Pfandbriefe mit einem sogenannten Sperrvermerk versehen gewesen seien, daß der Rechtsanwalt also ebensowenig ihren Verkauf, als ihre Verpfändung hätte bewirken können. Und wie hätte der notorisch reiche Mann, dem in jedem Augenblick Hunderttausende zu Gebote standen, dazu kommen sollen, sich gerade an dem schwer verwertbaren, geringfügigen Besitztum einer Waise zu vergreifen, während sich unmittelbar daneben in seinem Schrank Wertpapiere von ungleich höherem Betrage fanden, die ohne alle Schwierigkeit in bares Geld umzuwandeln gewesen wären? Der Dieb aber, der nicht Zeit und Gemütsruhe genug gehabt hatte, den Inhalt der einzelnen Mappen und Briefumschläge genau zu prüfen, mochte den Sperrvermerk, der die Pfandbriefe dem Verkehr entzog, wohl übersehen und sich damit in den Besitz einer für ihn völlig wertlosen Beute gebracht haben, da er ja mit dem ersten Versuch, eines der Stücke zu veräußern, an sich selbst zum Verräter geworden wäre. Außerdem fehlte, wenn man die Aufzeichnungen im Kassenbuch des Rechtsanwalts als richtig annahm, eine Barsumme von etwa zehntausend Mark, die in Gestalt von Banknoten verschiedenen Betrages in einer ledernen Brieftasche verwahrt gewesen war.

Ueber den Verbleib wenigstens des größeren Teiles dieser Summe aber war man zur Stunde bereits unterrichtet, denn der Mann, den man unter dem schweren Verdacht des an Dr. Paul Leonhardt verübten Mordes in Haft genommen, hatte nicht in Abrede gestellt, daß ein Betrag von sechstausend Mark, den er am Morgen nach dem Verschwinden des Rechtsanwalts in einem Geldbriefe zur Post gegeben, aus dem Besitz Leonhardts herstamme.

Der Geldbrief war an den Baumeister Neuhoff in Eberstadt adressiert gewesen, und der Absender war der Sohn dieses Baumeisters, der Architekt Theodor Neuhoff, ein junger Mann, von dem es feststand, daß er am Vormittag des für die Tat in Betracht kommenden Tages einen heftigen Streit mit dem Rechtsanwalt gehabt, und daß er sich zu der Zeit, innerhalb deren das Verbrechen ausgeführt worden sein mußte, im Leonhardtschen Hause versteckt gehalten. Denn anders als mit einem absichtlichen Verstecken ließ sich's doch nicht erklären, daß ihn der Pförtner Deibler erst um Mitternacht hatte fortgehen sehen, während eine Hausgenossin des Rechtsanwalts, die sich bis gegen zehn Uhr mit ihm unterhalten, der Ueberzeugung gewesen war, daß er um diese Zeit das Haus, in dem er tatsächlich nichts mehr zu suchen hatte, verlassen haben müsse.

Ein Einverständnis dieser Hausgenossin mit dem mutmaßlichen Täter schien nach der Versicherung des Reporters, der damit offenbar die Anschauung der Behörde zum Ausdruck brachte, gänzlich ausgeschlossen. Die hier in Frage kommende Dame war, wie er mit Nachdruck hervorhob, außer allem Verdacht. Sie sei durch ein Band innigster Jugendfreundschaft mit der Gattin des Rechtsanwalts verbunden, und ihre Bekanntschaft mit dem Architekten Neuhoff datiere aus der Zeit, da sie mit ihrer Mutter, der Witwe eines sehr verdienstvollen hohen Offiziers, in Eberstadt gelebt habe. Ihr abendliches Zusammentreffen mit ihm in dem hinter der Kanzlei gelegenen Wintergarten erkläre sich, soweit ihre eigene Person in Frage komme, auf durchaus harmlose Weise, und es sei ohne jeden Zweifel im besten Glauben geschehen, als sie anfänglich ausgesagt, daß Theodor Neuhoff schon gegen zehn Uhr, also lange vor Dr. Leonhardts Heimkehr, das Haus des Rechtsanwalts wieder verlassen habe. Durch die entgegenstehende, vollkommen glaubwürdige Bekundung des Pförtners, und durch die Angaben des Bureaupersonals über einen zwischen diesem Architekten und dem Rechtsanwalt Leonhardt am Vormittag stattgehabten heftigen Wortwechsel war die Kriminalpolizei veranlaßt worden, sich die Persönlichkeit des Herrn Theodor Neuhoff etwas näher anzusehen. Sie hatte ihn in einem Hotel zweiten Ranges ermittelt, wo er am Morgen des vorhergegangenen Tages unter seinem richtigen Namen abgestiegen war. Und zwar hatte ihn der recherchierende Beamte gerade in dem Augenblick getroffen, als er seine geringfügige Rechnung bezahlte und sich nach seiner eigenen Erklärung anschickte, die Weiterreise nach Berlin anzutreten. Er hatte diese Abreise schon am Vormittag bewerkstelligen wollen, aber ein Zufall hatte es gefügt, daß er um wenige Minuten den Zug versäumte, und er hatte es dann, obwohl vorher noch einige Personenzüge abgingen, vorgezogen, bis zu dem Nachmittags-Eilzug zu warten. Daß er am Vormittag des verflossenen Tages eine Unterredung mit dem Rechtsanwalt Dr. Leonhardt gehabt, gab er ohne weiteres zu, über den Inhalt und den Charakter dieses Gespräches aber verweigerte er dem fragenden Polizisten zunächst jede Auskunft, und ebenso entschieden lehnte er die Beantwortung der Frage ab, ob er das Leonhardtsche Haus im weiteren Verlauf des Tages etwa noch einmal betreten habe.

Daraufhin war er, wenn auch zunächst in der höflichsten und rücksichtsvollsten Form, ersucht worden, den Beamten auf das Polizeikommissariat zu begleiten, und er hatte sich da einer langen Vernehmung unterwerfen müssen, deren Ergebnis seine vorläufige Verhaftung gewesen war.

Denn die Zugeständnisse, die er gemacht hatte, belasteten ihn kaum weniger, als jene weiteren Verdachtsgründe, deren Richtigkeit er zunächst noch in Abrede stellen zu können glaubte.

Er leugnete nicht, daß er am verflossenen Vormittag einen heftigen Wortwechsel mit dem Rechtsanwalt Leonhardt gehabt habe. Und er gab weiter unumwunden zu, daß er den Advokaten aufgesucht habe, um ihn zur Herausgabe einer größeren Geldsumme zu veranlassen, zu deren Zahlung für Leonhardt eine rechtliche Verpflichtung eigentlich nicht vorlag. Der vermeintliche Anspruch Neuhoffs gründete sich vielmehr lediglich auf die von ihm behauptete und zunächst nicht nachweisbare Tatsache, daß sein Vater, der Baumeister Neuhoff in Eberstadt, bei einer geschäftlichen Unternehmung das Opfer unsauberer und verwerflicher Manipulationen geworden sei, für die er selbst und sein Sohn den Rechtsanwalt Leonhardt verantwortlich machten. Die Verluste, die der Baumeister bei jener Unternehmung erlitten, sollten sehr wesentlich dazu beigetragen haben, daß er durch einen jähen Zusammenbruch seines ganzen geschäftlichen Betriebes um sein gesamtes Vermögen gekommen war und sich jetzt, nach der Begleichung aller seiner Schulden, in den dürftigsten Verhältnissen befand. Als er dem auch körperlich ganz gebrochenen Vater bei der Ordnung seiner Verhältnisse behilflich gewesen, waren dem jungen Architekten, wie er bei seiner Vernehmung behauptete, verschiedene Papiere in die Hände gefallen, die ihm als unanfechtbare Beweispapiere für die spitzbübischen Machenschaften des Rechtsanwalts Leonhardt erschienen. Und er hatte sich für berechtigt gehalten, auf Grund dieser Papiere von dem Advokaten wenigstens einen teilweisen Ersatz der seinem Vater zugefügten Verluste zu verlangen. Nach seiner Erzählung über den Verlauf der gestrigen Unterredung hatte sich Leonhardt anfangs entschieden geweigert, irgend eine rechtliche oder moralische Verpflichtung anzuerkennen und die verlangte Zahlung zu leisten. Auf Neuhoffs Erklärung aber, daß er sich unter Beifügung der kompromittierenden Papiere an die Anwaltskammer wenden würde, sollte Dr. Leonhardt plötzlich andere Saiten aufgezogen und sich bereit erklärt haben, sechstausend Mark zu zahlen, sofern ihm dagegen die in Rede stehenden Schriftstücke ausgeliefert würden. Diese sechstausend Mark wollte der Architekt, nachdem er seine Zustimmung erklärt, dann auch auf der Stelle aus den Händen des Rechtsanwalts empfangen und etwa vierundzwanzig Stunden später in einem Geldbriefe an seinen Vater nach Eberstadt abgeschickt haben.

Mit dieser letzten Angabe hatte es zweifellos seine Richtigkeit, im übrigen aber mußte die Erzählung des Architekten als ein recht buntes Gemisch von Dichtung und Wahrheit erscheinen. Denn mochten auch die Geschäfte des Dr. Leonhardt vom moralischen Standpunkt aus nicht immer ganz einwandfrei gewesen sein, so war er doch sicherlich viel zu klug und zu vorsichtig gewesen, um sich jemals durch schriftliche Aeußerungen zu kompromittieren, die ihm für seine berufliche oder gesellschaftliche Stellung hätten gefährlich werden können. Er hatte also auch schwerlich eine Veranlassung gehabt, solche Papiere mit erheblichen Opfern zurückzukaufen, und alle Gründe innerer Wahrscheinlichkeit sprachen dafür, daß der Architekt sich nach einer schroffen Zurückweisung seines Ansinnens unverrichteter Dinge habe entfernen müssen. Und nicht innere Gründe allein, sondern auch äußere Anzeichen ließen sich für die Richtigkeit dieser Annahme ins Feld führen. Der Bureauvorsteher erklärte es nach seiner Kenntnis von den Gewohnheiten des Rechtsanwalts für nahezu ausgeschlossen, daß sein Chef eins solche Zahlung geleistet haben sollte, ohne sie in seinem Kassenbuche zu verzeichnen, und Theodor Neuhoff hatte auf die Frage, weshalb er die sechstausend Mark erst vierundzwanzig Stunden nach dem Empfang an seinen Vater abgeschickt habe, eine halbwegs einleuchtende Erklärung schuldig bleiben müssen. Auch der Umstand, daß er seinen zweiten – abendlichen – Besuch im Leonhardtschen Hause nicht sogleich zugegeben, sondern jede Erklärung darüber so lange verweigert hatte, bis ihm die Aussage des Fräulein Rogall entgegengehalten worden war, sprach gewiß nicht für seine Wahrheitsliebe und für die Reinheit seines Gewissens. Zwar hatte er erklärt, daß seine anfängliche Auskunftsverweigerung lediglich durch die selbstverständliche Rücksichtnahme auf den Ruf der jungen Dame diktiert worden sei, aber man begegnete dieser Rechtfertigung mit um so größerem Mißtrauen, als er in einem anderen Punkte ja ohne allen Zweifel bei einer offenkundigen Unwahrheit verharrte. Dieser Punkt war die Beantwortung der Frage, zu welcher Zeit er das Leonhardtsche Haus wieder verlassen habe. Er blieb mit Entschiedenheit dabei, daß es noch vor zehn Uhr abends, unmittelbar nach seiner Verabschiedung von der Gesellschafterin, geschehen sei, und er wiederholte diese Behauptung auch bei der Gegenüberstellung mit dem Pförtner Deibler, der seinerseits auf das allerbestimmteste erklärte, der Architekt Neuhoff sei derselbe Mann, den er ungefähr eine Stunde nach der Heimkehr des Rechtsanwalts habe fortgehen sehen. Neuhoff wollte vom Leonhardtschen Hause geradeswegs in sein Hotel zurückgekehrt sein und sich sofort zur Ruhe begeben haben; aber es fand sich kein Zeuge, der ihm die Richtigkeit dieser Angabe bestätigt hätte. Keiner von den Hotelbediensteten hatte ihn heimkehren sehen, und der Portier des Gasthofes sagte aus, daß er bis gegen elf Uhr mit sehr kurzen Unterbrechungen auf seinem Posten gewesen sei, so daß schon ein recht merkwürdiger Zufall obwalten müsse, wenn Neuhoff gerade während einer solchen kurzen Abwesenheit das Hotel betreten haben sollte. Nach elf Uhr dagegen wären die heimkehrenden Gäste jeder Kontrolle entzogen, da die Haustür wegen des Restaurationsbetriebes unverschlossen bleibe, in der Pförtnerloge aber niemand mehr anwesend sei.

Von der Erbringung eines Alibibeweises durch die einfache Behauptung seiner frühzeitigen Heimkehr konnte also für Theodor Neuhoff nicht die Rede sein. Und noch weniger konnte die Entrüstung, mit welcher er jeden Anteil an dem rätselhaften Verschwinden des Rechtsanwalts von sich wies, als eine ausreichende Entkräftung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsmomente angesehen werden. Vielmehr schien dem Schreiber des scharfsinnigen Zeitungsartikels der Hergang der Ereignisse ziemlich klar. In Anbetracht des guten Leumundes, dessen sich der Architekt Neuhoff bis zu diesem Augenblick zu erfreuen gehabt, neigte er der Ansicht zu, daß es sich möglicherweise nicht um einen von langer Hand vorbereiteten und geplanten Mord, sondern um eine unter dem Zusammenwirken der verschiedenartigsten unvorhergesehenen Umstände entstandene und ausgeführte Augenblicksidee gehandelt haben könnte. Er hielt es für recht wohl denkbar, daß Neuhoff das Leonhardtsche Haus am Abend in keiner anderen Absicht betreten habe, als zum Zwecke einer heimlichen Zusammenkunft mit der Gesellschafterin, und daß ihm der Gedanke, dem Rechtsanwalt bei seiner Heimkehr aufzulauern, erst gekommen sei, als sich ihm unvermutet eine Möglichkeit darbot, sich in den Kanzleiräumlichkeiten zu verstecken. Zwar konnte sich die Gesellschafterin nicht erinnern, ob sie ihm von der Gewohnheit des Rechtsanwalts gesprochen habe, allabendlich vor dem Schlafengehen noch einige Zeit in seinem Arbeitszimmer zu verweilen, aber selbst, wenn man dem Verdächtigen glauben wollte, daß er davon nichts gewußt habe, blieb immer noch die naheliegende Annahme übrig, daß er nach der Entfernung des Fräulein Rogall zurückgeblieben war, um den Geldschrank im Privatkabinett, der am Vormittag seiner Aufmerksamkeit wohl kaum entgangen sein konnte, zu berauben. Ja, er war möglicherweise bei einem derartigen Versuch von dem heimkehrenden Dr. Leonhardt überrascht worden, wenn auch nach der Meinung der Kriminalpolizei die Umstände viel eher für einen anderen Hergang sprachen.

Hier war man nämlich der Ansicht, daß Neuhoff erst dann aus seinem Hinterhalt hervorgetreten sei, als der Rechtsanwalt ahnungslos seinen Pelz abgelegt und den Geldschrank geöffnet habe, um den gewohnten Kassenabschluß zu bewirken. Vielleicht hatte er ihn in einer Regung wild auflodernden Hasses, die nach der am Morgen erlittenen Abweisung psychologisch recht wohl erklärlich gewesen wäre, zu Boden geschlagen, noch ehe dem Unglücklichen seine Anwesenheit zum Bewußtsein gekommen war und ehe er Zeit gehabt hatte, einen Hilferuf auszustoßen, vielleicht auch war es zu einem erneuten Streit zwischen den beiden Männern gekommen, der dann einen für den Rechtsanwalt tragischen Ausgang genommen; unter allen Umständen deuteten die aufgefundenen Blutspuren auf eine gegen Dr. Leonhardt verübte Gewalttat und das Fehlen der Wertpapiere und Kassenscheine auf eine nach seiner Tötung oder Betäubung ausgeführte Beraubung des Geldschrankes. Das Verschwinden der Leiche aber fand eine vollkommen einleuchtende Erklärung, wenn man annahm, daß Theodor Neuhoff den leblosen Körper durch den Gartensalon und den Garten bis zur Uferböschung geschleppt und ihn über die Brustwehr in den Fluß gestürzt habe. Daß er über die dazu erforderlichen bedeutenden Körperkräfte verfügte, lehrte ein einziger Blick auf seine muskulöse Gestalt. Und die starke Strömung des Wassers machte es andererseits erklärlich, daß die auf polizeiliche Anordnung vorgenommenen Nachforschungen im Flußbette bisher ohne Ergebnis geblieben waren. Der Körper konnte inzwischen schon weit vom Tatorte hinweggeführt worden sein, und es konnten, wie frühere Vorkommnisse bewiesen, möglicherweise Wochen vergehen, bevor er irgendwo ans Land getrieben oder aufgefischt wurde.

Natürlich waren nach Theodor Neuhoffs Verhaftung seine Kleidung, seine Wäsche und seine sonstigen Effekten der genauesten Untersuchung unterworfen worden, und der Berichterstatter war in der Lage, zu melden, daß dabei weder Blutspuren noch irgend welche andere verdächtige Anzeichen entdeckt worden waren. Auch die verschwundenen Pfandbriefe und die fehlenden viertausend Mark hatten durch diese Nachforschungen ebensowenig zutage gefördert werden können, als durch die auf telegraphische Requisition der Staatsanwaltschaft bei dem Baumeister Neuhoff in Eberstadt vorgenommene Haussuchung. Der Baumeister hatte die Angaben seines Sohnes bestätigt und auf Verlangen auch das Schreiben ausgeliefert, mit welchem der junge Architekt seine Geldsendung begleitet hatte. Es war von beinahe verdächtiger Kürze und lautete:

 

»Mein lieber Vater!

Die beiliegenden sechstausend Mark sind alles, was sich von dem Elenden erlangen ließ. Ich werde Dir in den nächsten Tagen ausführlicher über meine Unterredung mit ihm berichten. Daß ich ihm nichts von dem geschenkt habe, was er um seiner Schurkereien willen verdient hatte, darfst Du mir glauben. Sobald ich mich in Berlin eingerichtet habe, lasse ich wieder von mir hören, und ich bitte Dich noch einmal, mit mutigem Vertrauen in die Zukunft zu blicken, da meine junge Kraft doch wohl ausreichen wird, Dich und mich wenigstens vor der gemeinen Not des Lebens zu schützen.

Mit herzlichen Grüßen in Liebe
Dein dankbarer Sohn Theodor.«

 

Der kranke Baumeister war in die furchtbarste Erregung geraten, als er von dem gegen seinen Sohn erhobenen Verdacht Kenntnis erhalten. Er hatte diesen Verdacht als einen geradezu wahnwitzigen Justizirrtum bezeichnet und hatte schließlich im Laufe seiner Vernehmung einen schweren Ohnmachtsanfall erlitten, der eine weitere Befragung unmöglich gemacht hatte. Die sechstausend Mark, deren vorläufige Beschlagnahme von der Staatsanwaltschaft verfügt worden war, hatte er ohne weiteres herausgegeben, und sein Benehmen, wie der Leumund, dessen er sich in Eberstadt erfreute, schienen jeden Verdacht der Mitwissenschaft an einem gegen Dr. Leonhardt verübten Verbrechen ganz und gar auszuschließen.

*

Das war der wesentlichste Inhalt des spaltenlangen Artikels im Abendblatt. An einer anderen Stelle der Zeitung aber war eine offizielle Kundgebung des Polizei-Präsidiums zu lesen, in welcher eine Belohnung von tausend Mark für die Auffindung der Leiche des Rechtsanwalts Dr. Paul Leonhardt ausgelobt wurde und in welcher zugleich die Nummern der neun vermißten Pfandbriefe angegeben waren. Schien doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Dieb sie irgendwo verpfändet oder einem seiner Bekannten in Verwahrung gegeben habe, um sich der wichtigen Ueberführungsstücke vor der Hand zu entledigen. In diesem Fall konnte man wohl darauf rechnen, daß sie bald zutage kommen würden, denn in der großen Provinzstadt sprach man nach dem Erscheinen des Zeitungsartikels natürlich von nichts anderem als von dem geheimnisvollen Verbrechen, dem der bekannte Rechtsanwalt zum Opfer gefallen war, und es war kaum denkbar, daß dies Gerede nicht auch zu der unbekannten Persönlichkeit dringen sollte, in deren Händen sich die Wertpapiere augenblicklich befanden.

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