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14. Falsche Wege

Das Dresdner Bahnpostamt der Altstadt war am Morgen des folgenden Tages erst seit wenigen Minuten für den Schalterdienst geöffnet worden, als eine elegant gekleidete und dicht verschleierte junge Dame an die Ausgabestelle für postlagernde Sendungen trat und sich nach einem Brief unter der Chiffre P. L. H. 27 erkundigte. Der Beamte durchforschte den Inhalt eines Faches und erteilte ihr den Bescheid, daß nichts da sei.

»Aber ich bin gewiß, daß der Brief gestern abend aus einer nahegelegenen Stadt hierher abgesandt worden ist,« beharrte die Fragende. »Könnte er nicht möglicherweise verlegt worden sein?«

»Das ist unwahrscheinlich, aber die Morgenpost ist noch nicht verteilt. Vielleicht werden Sie besseren Erfolg haben, wenn Sie sich in einer halben Stunde noch einmal herbemühen wollen.«

»Und wenn inzwischen ein anderer nach dem Briefe fragen sollte, so werden Sie ihn nicht aushändigen – nicht wahr? Denn es könnte nur ein Unbefugter sein, der zufällig die Chiffre in Erfahrung gebracht hat.«

»Wir können bei gewöhnlichen Briefen die Legitimation des Abholenden nur in besonderen Ausnahmefällen prüfen, mein Fräulein, und ich bin bei richtiger Angabe der Chiffre nicht befugt, die Herausgabe zu verweigern. Wenn Sie einem Mißbrauch vorbeugen wollen, bleibt Ihnen also wohl nichts anderes übrig, als möglichst frühzeitig wieder zur Stelle zu sein.«

»Ist es mir gestattet, hier im Schalterraum auf die Verteilung der Post zu warten?«

Der Beamte erwiderte höflich, daß dem nichts entgegenstände, und Margot zog sich in eine der Fensternischen zurück. Es konnten kaum mehr als fünf Minuten seit ihrem Eintritt vergangen sein, als ein schlanker, hochgewachsener Herr mit dunklem Schnurrbart von der Straße her im Schalterraum erschien. Unwillkürlich zuckte Margot bei seinem Anblick zusammen und wandte sich ein wenig zur Seite, so daß dem Ankömmling ihr Gesicht fast ganz verborgen war, während sie selbst mit scharfem Seitenblick jede seiner Bewegungen beobachten konnte. Sie hatte in ihm auf der Stelle Hertas Stiefbruder Werner Mansfeld erkannt, und wenn es ihr auch zunächst noch als eine abenteuerliche und beinahe sinnlose Vermutung erschien, sein Hiersein mit dem geheimnisvollen Briefe ihrer Freundin in Verbindung zu bringen, so war doch ihre Neugier im hohen Grade rege geworden, zumal sie während der letzten Tage den Eindruck gewonnen hatte, daß bei Mansfelds Besuchen im Hause des verschwundenen Rechtsanwalts irgend welche sehr wichtigen und sehr geheimnisvollen Dinge zwischen ihm und Herta verhandelt würden.

Sie gewahrte, daß auch Werner Mansfeld an den Schalter für die postlagernden Sendungen trat, und obwohl er seine Stimme vorsichtig dämpfte, vernahm ihr außergewöhnlich scharfes Ohr doch mit vollster Deutlichkeit, daß er nach einem Briefe unter der Chiffre P. L. H. 27 fragte. Für einen Moment stieg ein Gefühl ärgerlicher Enttäuschung in ihr empor. Denn wenn es sich bei dem geheimnisvollen Briefe um nichts anderes handelte, als um eine Korrespondenz zwischen Herta und ihrem vielleicht auf einer Geschäftsreise befindlichen Stiefbruder, so hätte sie sich wahrlich den Einbruch in den Schreibtisch ihrer Freundin und die nächtliche Reise hierher ersparen können. Blitzschnell aber wurde diese erste Empfindung durch eine Erinnerung verdrängt, die ihr nur deshalb nicht gleich auf der Stelle gekommen war, weil die Person des Herrn Mansfeld in ihren Erwägungen und Kombinationen bisher kaum eine Rolle gespielt hatte. Es war die Erinnerung an eine Postkarte, die der Briefträger gestern abend im Leonhardtschen Hause abgegeben hatte, noch ehe Herta von ihrem zweiten geheimnisvollen Ausgang zurückgekehrt war, und die zu lesen die Gesellschafterin sich natürlich nicht versagt hatte.

Sie war mit den auch ihr bereits bekannten flüchtigen Schriftzügen Werner Mansfelds beschrieben gewesen und hatte überdies in der oberen Ecke der Adressenseite den Vordruck »Werner Mansfeld. Photographische Kunstanstalt« getragen. Ihr Inhalt aber bestand in der ersichtlich sehr rasch hingeworfenen Mitteilung, daß der Schreiber der Aufforderung, seine Schwester am nächsten Vormittag zu besuchen, leider nicht entsprechen könne, weil er wider Erwarten genötigt sei, in der ihr bekannten geschäftlichen Angelegenheit auf einen Tag nach Berlin zu reisen. Sie wußte genau, daß sie sich hinsichtlich des angegebenen Reiseziels nicht im Irrtum befand. Wenn aber Herta ihren Stiefbruder heute in Berlin glaubte, so konnte ihr nach Dresden gerichteter Brief schwerlich für ihn bestimmt gewesen sein, und es bedeutete nur ein weiteres Glied in der langen Kette von Geheimnissen, wenn er trotzdem diesen Brief, von dessen Absendung er also unterrichtet sein mußte, in seine Hand zu bekommen suchte. Sie zitterte davor, daß es ihm gelingen könnte, oder daß der Beamte ihm von der eben erfolgten Nachfrage Mitteilung machen würde; aber die eine Besorgnis war ebenso grundlos gewesen, wie die andere, denn sie hörte den Mann hinter dem Schalter in gleichgültigem Tone sagen, daß bisher keine Sendung unter der angegebenen Chiffre eingegangen sei, und mit einem erleichterten Aufatmen sah sie, daß sich Werner Mansfeld auf diese Auskunft hin ohne eine weitere Erwiderung entfernte.

Sie selbst aber harrte geduldig auf ihrem Platze aus, und sie mußte an sich halten, um einen Ausruf freudiger Genugtuung zu unterdrücken, als ihr nach Verlauf von weiteren zehn Minuten der Schalterbeamte mit einem Briefe, den er in der erhobenen Rechten hielt, zuwinkte. Blitzschnell war sie vor dem Schiebefenster, und wenn der junge Mann hinter demselben eine scharfe Beobachtungsgabe besessen hätte, so würde er wahrgenommen haben, wie heftig die kleine Hand zitterte, die sich nach dem dargebotenen Briefe ausstreckte.

Aber er achtete nicht darauf, sondern ließ sich nur noch einmal zur größeren Sicherheit von ihr die Chiffre wiederholen, diese Chiffre, die sie sich seit dem gestrigen Abend so unendlich oft vorgesagt hatte, daß sie sie sicherlich bis an ihr Lebensende nicht mehr vergessen würde. Dann händigte er ihr ohne eine weitere Bemerkung das Kuvert ein, das seinem Gewicht nach wohl ziemlich viel Wertvolles enthalten mußte, und das Margot hastig zwischen die Knöpfe ihres knapp anschließenden Pelzjäckchens schob.

Rasch schritt sie der Ausgangstür zu, und in ihrer Erregung hatte sie so wenig Aufmerksamkeit für die Vorgänge um sie her, daß sie des durch dieselbe Tür eintretenden Werner Mansfeld erst ansichtig wurde, als sie nahe daran war, mit ihm zusammenzuprallen.

Und nun mußte auch er sie trotz ihres dichten Schleiers erkannt haben – der Ausdruck jähen Erschreckens auf seinem blassen Gesicht verriet es ebenso deutlich, wie die unwillkürliche Bewegung, mit der er vor ihr zurückwich. Er fuhr mit der Hand nach der Hutkrempe, wie wenn er sie grüßen wollte; aber als hätte er sich plötzlich eines anderen besonnen, ließ er sie auf dem halben Wege wieder sinken und drehte, während er sich hastig an ihr vorüberschob, den Kopf nach der anderen Seite. Augenscheinlich gab er sich der Hoffnung hin, daß Margot ihn nicht erkannt habe, und sie hatte gewiß keine Veranlassung, diese Hoffnung zu zerstören, indem sie ihn anredete.

Mit wenigen Schritten hatte sie unbehelligt die Straße gewonnen, und sie begrüßte es als glücklichen Zufall, daß eben eine unbesetzte Droschke an dem Postamt vorüberfuhr. In der nächsten Minute schon saß sie, vor jeder Verfolgung gesichert, im Innern des geschlossenen Wagens und fuhr dem bescheidenen Hotel garni zu, in dem sie für die wenigen Stunden ihres Dresdener Aufenthalts Wohnung genommen hatte. –

»Ist der Brief, den ich unter der Chiffre P. L. H. 27 erwarte, noch immer nicht eingegangen?« fragte Werner Mansfeld mit eigentümlich rauh klingender Stimme. Und mit unverhohlenem Mißtrauen richteten sich die Augen des Schalterbeamten auf sein vor Erregung zuckendes Gesicht.

»Ein Brief unter dieser Chiffre ist soeben abgehoben worden,« sagte er. »Die Dame, mit der Sie dort in der Tür zusammentrafen, hatte hier seit nahezu einer halben Stunde auf seinen Eingang gewartet.«

»Und Sie haben ihn ihr ausgehändigt?« fuhr Mansfeld auf. »Wie konnten Sie das tun, da Sie sich erinnern mußten, daß ich schon vorhin nach dem Briefe gefragt hatte?«

Die Antwort auf seine Frage aber wartete er nicht mehr ab, sondern er stürzte wie ein Verfolgter auf die Straße hinaus, von einer törichten Hoffnung erfüllt, daß er Margots noch ansichtig werden und ihr die erlistete Beute wieder abjagen könnte. Aber wie angestrengt er auch auf dem weiten Platze umherspähte und zur Verwunderung der Vorübergehenden im Laufschritt bald nach dieser, bald nach jener Richtung hin ein Stück vorwärts eilte, weil es ihm gewesen war, als hätte er da in der Entfernung die Gestalt der Gesellschafterin wahrgenommen – es blieb ein vergebliches Bemühen, und bald genug mußte er sich sagen, daß es keine Hoffnung mehr für ihn gab, ihrer habhaft zu werden.

Minutenlang stand er unentschlossen. Seine Stirn hatte sich tief gefurcht, seine Wangen waren noch hagerer und farbloser als zuvor – sein Gesicht schien innerhalb weniger Minuten um Jahre gealtert. Dann zog er seine Taschenuhr und ging langsam, mit tief gesenktem Haupte und eigentümlich schwankenden Schritten, dem Portal des Hauptbahnhofes zu.

Herta verfärbte sich vor Bestürzung, als sie um die Mittagszeit ihren Bruder bei sich eintreten sah.

»Um Gotteswillen, Werner, was ist dir geschehen? Du bist ernstlich krank!«

Aber er wehrte kopfschüttelnd ab.

»Ich habe einen geschäftlichen Aerger gehabt und bin etwas erschöpft – das ist alles. Vergib, daß ich nicht früher kommen konnte! Du hattest mir geschrieben, daß du mich sprechen müßtest – hoffentlich ist es dazu auch jetzt noch nicht zu spät.«

»Sofern es sich um den Rat handelt, den ich von dir haben wollte, ist es freilich zu spät geworden, Werner! Aber du brauchst dir deshalb keinen Vorwurf zu machen, denn auch du hättest mir kaum zu etwas anderem raten können als zu dem, was ich getan.«

»Möchtest du mir nicht sagen, um was es sich handelt?« fragte er. Aber er fragte nicht, wie einer, der mit seinem ganzen Interesse bei der Sache ist, sondern zerstreut und hastig, mit unstet umherirrenden Augen. Geflissentlich vermied sein Blick den der Stiefschwester, und immer wieder fuhr er sich nervös durch das dichte, wirre Haar.

»Paul hat mir einen zweiten Brief geschrieben, Werner – einen Brief, der fast noch seltsamer ist als der erste. Soll ich ihn dir holen?«

»Weshalb willst du dich damit bemühen? – Du wirst ihn doch wohl hinlänglich im Gedächtnis haben, um mir seinen Inhalt dem Sinne nach zu wiederholen.«

»O ja – ich habe ihn wahrhaftig oft genug gelesen. Brauchte ich doch eine lange Zeit, um mich davon zu überzeugen, daß ich wirklich richtig verstanden habe, was er mir schrieb. Es hat den Anschein, als ob sich Paul noch immer in Dresden verborgen hielte, denn der Brief kam wieder daher. Er schreibt mir, daß er aus den Zeitungen erfahren habe, durch welche Notlüge ich Theodor Neuhoff zu entlasten versucht hätte, denn daran, daß jene nächtliche Zusammenkunft tatsächlich stattgefunden habe, glaube er natürlich keinen Augenblick. Und er bittet mich dringend, einstweilen bei meiner Aussage zu bleiben. Kannst du das verstehen?«

»Warum nicht? – Auch ihm muß doch selbstverständlich daran gelegen sein, daß der Untersuchungshaft des unglücklichen Neuhoff so bald als möglich ein Ende gemacht werde. Und hat er dir sonst nichts geschrieben?«

»Ja. Er macht mir die Mitteilung, daß er mit seinen geringen Barmitteln nicht daran denken könne, die Reise ins Ausland anzutreten, und er ersucht mich, ihm unter einer angegebenen Chiffre dreitausend Mark postlagernd nach Dresden zu senden.«

»Und was – was hast du daraufhin getan?«

»Ich bin, da ich selbst über eine so große Summe nicht verfügte, zu seinem Bankier gegangen und habe ihn unter dem Vorwande, daß ich es für mich brauchte, gebeten, mir das Geld zu geben, was er denn auch anstandslos getan hat. Diese dreitausend Mark habe ich noch gestern abend unter der von Paul angegebenen Chiffre nach Dresden abgeschickt.«

»Und du hast ihm natürlich auch auf seinen Brief geantwortet? Möchtest du mir nicht sagen, was du ihm geschrieben hast?«

»Ich habe ihn in den eindringlichsten Worten, die ich zu finden vermochte, beschworen, seine Absichten zu ändern und auf jede Gefahr hin hierher zurückzukehren. Welche Strafe auch immer ihn für sein mir unbekanntes Vergehen erwarten möge, sie könne doch unter allen Umständen nur geringfügig sein gegenüber den Qualen, die sein eigenes Gewissen ihm bereiten müsse, weil er einen Unschuldigen für sich leiden lasse. Ich habe es nicht über mich gewonnen, ihn über meine Empfindungen zu belügen und ihm von meiner Liebe zu sprechen; aber ich habe mich bereit erklärt, auch das schimpflichste Schicksal treu und geduldig mit ihm zu teilen, wenn er jetzt der Stimme der Ehre und der Pflicht gehorche. Wenn sein Herz nicht von Stein oder seine Feigheit nicht ohne Grenzen ist, so muß er auf diesen Brief hin hierher zurückkehren.«

»Ja – ja! – Aber du hast doch hoffentlich Pauls Brief wie deine Antwort mit aller gebotenen Vorsicht behandelt, Herta? – Du bist doch hoffentlich ganz sicher, daß keiner deiner Hausgenossen Kenntnis von dem einen oder dem anderen erhalten haben kann?«

Er war nicht länger imstande gewesen, ihr seine Erregung zu verbergen, und nun las er in offenkundigster Deutlichkeit die Bestürzung in ihren Zügen.

»Was bringt dich auf solche Frage, Werner? Kannst du denn eine Ahnung haben von dem, was hier geschehen ist?«

»Nein – ich fragte es ohne bestimmte Veranlassung. Aber du erschreckst mich. Was hat sich denn zugetragen?«

»Margot hat gestern abend heimlich das Haus verlassen, nachdem sie allem Anschein nach vorher den Versuch gemacht hatte, meinen Schreibtisch mit einem Nachschlüssel zu öffnen.«

»Den Schreibtisch, in welchem du Pauls Briefe oder deine gestrige Antwort verwahrtest?«

»Nein! Es war nichts darin, woraus sie sich über diese Dinge hätte unterrichten können, denn ich habe die beiden Briefe an einem anderen, sicheren Orte versteckt, und ich war eben unterwegs, um meine Antwort zur Post zu bringen, als sie ihre unbegreifliche Tat ausführte.«

»Aber du mußt ihr doch irgend eine Andeutung gemacht – mußt dich ihr doch durch irgend eine Unvorsichtigkeit verraten haben! – Was – in aller Welt – könnte sie sonst bestimmt haben, eine für ein Mädchen ihres Standes und Bildungsgrades so unerhörte Handlung zu begehen?«

»Ich habe mich trotz alles Kopfzerbrechens keiner unbedachten Aeußerung erinnern können, Werner! Und ich glaube, sie hat kein anderes Motiv gehabt als das einer schrankenlosen Eifersucht. Als der Zeitungsartikel erschienen war, der meine erlogene Aussage zu Theodor Neuhoffs Gunsten wiedergab, hat sie mir durch ihre aufgeregten Vorwürfe verraten, wie es in ihrem Herzen aussah.«

»Und warum – wenn du wußtest, daß sie deine Feindin geworden war – warum hast du sie dann nicht unverzüglich aus dem Hause entfernt?«

»Ich hoffte, daß sie aus eigenem Antriebe gehen würde, denn da sie gleich wieder eingelenkt hatte und viel freundlicher geworden war, als sie es seit langer Zeit gegen mich gewesen, hatte ich doch eigentlich keinen Anlaß, ihr den Stuhl vor die Tür zu setzen. Jetzt freilich weiß ich, daß ihr verändertes Benehmen nur eine Maske gewesen ist, durch die sie mich täuschen und sicher machen wollte, um ungehindert ihre abscheulichen Absichten ausführen zu können.«

»Du sagst, daß sie seit dem gestrigen Abend fort sei? Und du weißt nicht, wohin sie sich gewendet hat?«

»Sie hat nichts zurückgelassen, als einen kleinen für mich bestimmten Zettel, auf dem sie mir mitteilt, daß sie aus triftigen Gründen mein Haus für immer verlasse und daß sie im Verlauf der nächsten Tage über ihre zurückgelassenen Sachen verfügen werde.«

Werner Mansfeld begann im Zimmer auf- und niederzugehen, wie wenn er in angestrengtes Nachdenken versunken wäre. Dann blieb er wieder vor seiner Stiefschwester stehen.

»Unter solchen Umständen müssen wir – ich meine: mußt du auf alles gefaßt sein, liebe Herta! Ich halte es nicht für unmöglich, daß diese intrigante Person Mittel und Wege gefunden hat, sich in den Besitz deines an Paul gerichteten Briefes zu bringen, und da einem eifersüchtigen Weibe ohne weiteres auch das Schlimmste zuzutrauen ist, müssen wir in diesem Falle damit rechnen, daß sie ihn an den Untersuchungsrichter ausliefert. Geschieht das wirklich, so wird man natürlich von dir Aufklärung fordern, und wie die Dinge einmal liegen, darfst du sie nicht verweigern.«

»Das heißt, ich sollte meinen Mann an die Behörde ausliefern?«

»Von einer Auslieferung ist dabei nicht die Rede. Da offenbar bis jetzt kein Strafantrag gegen ihn vorliegt, und da seine Selbstbezichtigung eine ganz unbestimmte ist, würde man nach meiner Ansicht nicht einmal das Recht haben, ihn zu verhaften. Außerdem wäre es doch ein ganz unsinniges Bemühen, als Geheimnis bewahren zu wollen, was bereits offenbar geworden ist, wenn dein Brief wirklich in die Hände des Untersuchungsrichters gelangt sein sollte. Unter solchen Umständen ist bedingungslose Aufrichtigkeit der einzige Weg, der überhaupt noch für dich offen bleibt.«

Ein Anschlagen der Wohnungsglocke ließ ihn in augenfälligem Erschrecken verstummen; sein Blick blieb angstvoll auf die Tür gerichtet, und obwohl sich sehr bald herausstellte, daß der Einlaß Begehrende der Postbote gewesen war, der irgend eine gleichgültige Sendung abzugeben hatte, so schien die Störung Werner Mansfeld doch in eine so hochgradige Unruhe versetzt zu haben, daß es ihn nicht länger im Hause duldete. Hastig und zerstreut beantwortete er die letzten Fragen der geängstigten jungen Frau, wiederholte ihr noch einmal, daß sie rückhaltlos die volle Wahrheit bekennen müsse, wenn der für ihren Gatten bestimmte Brief wirklich in die Hände des Untersuchungsrichters oder des Staatsanwalts geraten sein sollte und machte sich dann nach eiligem Abschied davon.

Als er eine halbe Stunde danach, keuchend von der Anstrengung des raschen Laufens, sein bescheidenes Heim draußen in der Vorstadt erreicht hatte, ging er nicht nach seiner sonstigen Gewohnheit sogleich ins Kontor, sondern öffnete zunächst mit dem aus der Tasche gezogenen Schlüssel die Tür der Wohnstube, in die er Herta bei ihrem neulichen Besuch nicht hatte eintreten lassen wollen.

Die Dürftigkeit ihrer Einrichtung entsprach durchaus der primitiven Ausstattung des Kontors. Außer den zahlreichen Bildern, die auch hier die Wände schmückten, war nichts darin vorhanden, das auch nur von fern nach Luxus und Ueberfluß ausgesehen hätte. Und das anstoßende Schlafzimmer, in das die offenstehende Verbindungstür einen Einblick gewährte, hätte in seiner Kahlheit und Armseligkeit recht wohl die Zelle eines asketischen Einsiedlers sein können.

Achtlos warf Werner Mantel und Hut auf einen Stuhl, trat an einen altmodischen Schreibsekretär, dessen wurmstichiges Holz seine Herkunft aus dem Trödelladen kaum verkennen ließ und öffnete ein hinter einer Schublade ohne allzu großen Scharfsinn verstecktes Geheimfach. Der Briefumschlag, den er ihm entnahm, schien einen recht wertvollen Inhalt zu bergen, denn die drei Hundertmarkscheine, die Werner daraus hervorzog, machten offenbar nur einen verhältnismäßig kleinen Teil dieses Inhaltes aus. Er legte sie in ein kleineres Kuvert, das er verschloß, ohne es mit einer Adresse zu versehen, und brachte dann den größeren Umschlag an seinen vorigen Aufbewahrungsort zurück. Den Schrank wie das Zimmer sorgfältig hinter sich verschließend, ging er jetzt in das Kontor hinüber, wo die junge Buchhalterin eben mit dem Kopieren einiger Briefe beschäftigt war.

Er reichte ihr nicht die Hand, wie er es sonst bei seiner Heimkehr noch immer getan hatte, und etwas eigentümlich Verhaltenes, das sie fast betroffen aufblicken ließ, war in der Art, wie er sie begrüßte. Wieder hatte sie ihm über allerlei unerfreuliche Vorkommnisse zu berichten, die sich während seiner Abwesenheit seit dem gestrigen Nachmittag zugetragen – über Beschwerden von Kunden, die mit der Lieferung bestellter Arbeiten im Stich gelassen worden waren und über nachdrückliche Mahnungen ungeduldiger Gläubiger. Aber Werner Mansfeld hörte wohl nur mit halbem Ohre auf das, was sie sagte. Ruhelos ging er während ihres Berichtes in dem engen Raum auf und nieder, und als sie zu Ende war, gab es ein langes, bedrückendes Schweigen, bis er, ohne ihr sein Gesicht zuzuwenden, plötzlich sagte:

»Ich bin leider gezwungen, Fräulein Martha, Ihnen eine für mich selbst in hohem Maße unerfreuliche Mitteilung zu machen. Sie haben ja hinlänglich Gelegenheit gehabt, zu sehen, wie es um meine photographische Kunstanstalt und um ihre Zukunftsaussichten bestellt ist. Es geht mit Riesenschritten bergab, und wenn ich nicht an meinen Gläubigern zum Betrüger werden will, ist es für mich nachgerade hohe Zeit, einen Strich unter die Geschichte zu machen.«

Schon bei seinen ersten Worten hatte sie sich von ihrem Schreibstuhl erhoben. Es war kein Blutstropfen mehr in ihrem Gesicht, und ihre schlanken Hände klammerten sich an den Rand des Pultes, wie wenn sie einer Stütze bedürfe, um aufrecht zu bleiben.

»Sie wollten Ihr Geschäft aufgeben, Herr Mansfeld?« fragte sie leise und mit fast versagender Stimme. »Aber dazu – zürnen Sie mir nicht wegen meiner Kühnheit! – dazu ist doch wohl noch keine Veranlassung vorhanden. Gerade weil ich durch das Vertrauen, dessen Sie mich gewürdigt, einen Einblick in Ihre geschäftlichen Verhältnisse gewonnen habe, möchte ich Sie recht von Herzen bitten, den Mut noch nicht zu verlieren. Es klingt ja gewiß recht verdrießlich, was ich Ihnen zu meiner Betrübnis jedesmal bei Ihrer Heimkehr zu melden habe, aber es sieht doch vielleicht auf den ersten Blick schlimmer aus als es ist. Unter Ihren Gläubigern ist keiner, der sich nicht durch vernünftige Vorstellungen noch zu einiger Nachsicht bewegen ließe. Und es wird Ihnen sicherlich gelingen, das teilweise verlorene Vertrauen Ihrer Kundschaft zurückzugewinnen, wenn Sie – –«

»Wenn Sie es mit der Erfüllung Ihrer Verpflichtungen künftig gewissenhafter nehmen als bisher? Das war es doch wohl, Fräulein Martha, was Ihnen so schwer über die Lippen wollte?«

In sichtlicher Verlegenheit senkte sie schweigend den Kopf. Er aber fuhr mit einem kurzen, rauhen Auflachen fort:

»Es mag sein, daß Sie recht haben. Aber unglücklicherweise ist es gerade das, was ich mir nicht zutraue. Ich bin für diese Art von handwerksmäßiger Brotarbeit nicht geschaffen, und mit allen guten Vorsätzen könnte ich doch schließlich nicht gegen meine Natur.«

»Und könnten Sie sich nicht für das Handwerksmäßige in Ihrem Beruf einen tüchtigen Gehilfen nehmen, Herr Mansfeld?« beharrte sie. »Es wäre eine Ausgabe, die sich gewiß durch vermehrte Aufträge bezahlt machen würde. Alle Ihre Kunden, auch die, die im Augenblick am meisten unzufrieden mit Ihnen sind, rühmen doch einmütig Ihre Geschicklichkeit und Ihren erlesenen künstlerischen Geschmack. Wenn Sie nur den artistischen Teil der Arbeit auf sich nähmen, würden Sie sicherlich auch wieder Gefallen an Ihrer Tätigkeit finden. Und alles würde bald wieder so erfreulich vorwärts gehen, wie in den ersten Wochen meines Hierseins. Eigentlich stammen doch alle Stockungen und daraus erwachsenen Widerwärtigkeiten erst aus der allerjüngsten Zeit.«

Ihre zarten Wangen hatten sich im Eifer der Rede wieder gerötet, und es war, als ob das ehrliche Bemühen, durch ihren Zuspruch seinen sinkenden Mut aufzurichten, ihren hübschen Augen einen erhöhten Glanz gegeben hätte. Hätte Werner Mansfeld sie in diesem Moment angesehen, so würde er sie gewiß noch viel lieblicher gefunden haben, als sie ihm zu anderen Zeiten erscheinen mochte. Aber er verließ den Platz am Fenster nicht, den er im Beginn ihrer Rede eingenommen hatte, und er fuhr fort, mit düsterem Blick auf die menschenleere Straße hinauszustarren.

»Sie meinen es gut mit mir –«, stieß er abgebrochen, wie im Unmut, hervor. »Ich danke Ihnen dafür. Aber Sie können die Dinge nicht so übersehen, wie ich sie übersehe. Und am Ende muß jeder wohl sich selbst am besten kennen. Es würde nichts Rechtes mehr werden, glauben Sie mir's! Und darum muß ich ein Ende machen – je schneller, desto besser.«

Die Hoffnung, die sich unter der Wirkung der eigenen Worte wieder in ihr zu regen begonnen hatte, mußte vor der beinahe unfreundlichen Zurückweisung wohl zusammenbrechen. Die Augen des jungen Mädchens füllten sich mit Tränen, und sie senkte entmutigt den Kopf. Während einer geraumen Zeit sprach keines von ihnen ein Wort, dann, als fühle er, daß die peinliche Unterredung unter allen Umständen zum Abschluß gebracht werden müsse, sagte Werner:

»Natürlich kann ich nicht ohne weiteres hier die Bude zumachen, sondern ich muß zuvor mit aller tunlichen Beschleunigung meine Angelegenheiten ordnen. Aber diese unerfreuliche Arbeit muß ich wohl oder übel selbst verrichten, und ich würde Sie von heute an kaum noch anders als zum Schein beschäftigen können. Damit aber würde ich ein Unrecht gegen Ihre leidende Mutter begehen, der Sie daheim vielleicht von großem Nutzen sein können. Und ich möchte Sie deshalb bitten –«

Für einen Moment stockte er nun doch, als wolle ihm das entscheidende Wort nicht über die Lippen, und sein Zögern gab der jungen Buchhalterin den Mut zu einem letzten verzweifelten Versuch, das seit zehn Minuten Gefürchtete abzuwenden.

»Sie wollen mich auf der Stelle entlassen? – O, ich bitte Sie, Herr Mansfeld, tun Sie das nicht! Ich habe meine Tätigkeit so lieb gewonnen. Und was auch immer Sie für die Zukunft beschließen mögen, für den Augenblick könnte ich Ihnen doch gewiß noch von einigem Nutzen sein. Meine Mutter, der es jetzt ganz gut geht, kann mich während der wenigen Tagesstunden, die ich hier zubringe, sehr wohl entbehren. Und ich – ich würde selbstverständlich für diese gewissermaßen freiwillige Tätigkeit keine Gehaltsansprüche erheben.«

Werner machte eine ungestüme Bewegung, und ängstlich, als fürchte sie, ihn durch ihre letzten Worte verletzt zu haben, sprach Martha weiter:

»Sie dürfen mich um Gotteswillen nicht mißverstehen, Herr Mansfeld! Es kommt mir gewiß nicht in den Sinn, Ihnen damit ein Geschenk anbieten zu wollen. Aber Sie haben mich von Anfang an so hoch über den wirklichen Wert meiner Arbeit hinaus bezahlt, daß ich mir immer ein Gewissen daraus gemacht habe, das unverdient reiche Salär anzunehmen. Ich habe mir davon Ersparnisse machen können, die es mich gar nicht empfinden lassen würden, wenn ich jetzt eine Zeitlang ohne neue Einkünfte wäre und – –«

Da vermochte er nicht länger an sich zu halten, und jetzt endlich kehrte er ihr sein Gesicht wieder zu. Seine Wangen brannten wie im Fieber, und was in seinen Augen funkelte, hielt die zum Tode Erschrockene für eine Flamme heftigsten Zornes.

»Was soll ich Ihnen darauf antworten? – Warum machen Sie es mir so unerträglich schwer? – Sehen Sie denn nicht, wie ich selbst mich unter dieser grausamen Notwendigkeit krümme und winde? Wenn Sie wirklich großmütig gegen mich sein wollen, so nehmen Sie es gleich mir als etwas Unabänderliches, gegen das wir uns nicht auflehnen dürfen, auch wenn – auch wenn einem von uns das Herz darüber brechen müßte.«

Ein Erzittern ging über ihre schlanke Gestalt. Jetzt wußte sie freilich, daß es nicht Zorn gewesen war, was sie in seinen Augen hatte brennen sehen. Aber sie empfand es mit namenlosem, schneidendem Weh, daß der Moment, der ihr sein Geheimnis offenbart hatte, dieser heiß ersehnte Moment, von dem sie sich in ihren Träumen die höchste aller irdischen Seligkeiten versprochen – daß dieser Moment sie zugleich auch der letzten süßen Hoffnung berauben mußte. Nun hatte sich zwischen ihnen freilich mit einem Schlage alles geändert, nun war für immer alle Unbefangenheit dahin, und nun durfte sie ihn nicht mehr bitten, bleiben zu dürfen. Stumm und bleich stand sie vor ihm, des letzten, entscheidenden Wortes gewärtig, das sie für alle Ewigkeit von ihm trennen sollte.

Und nach einem Schweigen, das ihm Zeit gewährt hatte, die verlorene Herrschaft über sich selbst zurückzugewinnen, sprach er in gezwungen ruhigem und höflichem Tone aus, was jetzt noch gesagt werden mußte:

»Es ist selbstverständlich, daß Sie durch Ihren sofortigen Austritt keinen pekuniären Schaden erleiden dürfen. Und ich würde es geradezu als eine Beleidigung empfinden, wenn Sie sich weigern wollten, die kleine Entschädigung anzunehmen, die ich Ihnen biete. So verzweifelt sind meine Verhältnisse doch noch nicht, daß ich darauf bedacht sein müßte, sie durch Ersparnisse solcher Art zu verbessern. Ich hoffe, daß der geringfügige Inhalt dieses Kuverts Sie vor Sorgen bewahren wird, bis es Ihnen gelungen ist, eine andere angemessene Stellung zu finden. Und ich – ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen das Beste für Ihr weiteres Fortkommen.«

Er hatte den verschlossenen Brief vor sie auf das Pult niedergelegt, und er stand ihr gegenüber wie in unschlüssigem Zaudern, ob er ihr zum Abschied die Hand reichen dürfe oder nicht.

Da kam sie mit jener selbstüberwindenden Tapferkeit, die in solchen Augenblicken dem schwachen Weibe viel häufiger zu Gebote steht als dem Manne, seiner Unentschlossenheit zu Hilfe. Anscheinend ruhig bot sie ihm ihre Hand.

»Lassen Sie mich Ihnen denn Lebewohl sagen, Herr Mansfeld – und lassen Sie mich Ihnen noch einmal von ganzem Herzen danken für alles Gute, das Sie mir erwiesen.«

Er nahm ihre schmalen Finger zwischen die seinen und preßte sie stürmisch.

»Leben Sie wohl – leben Sie wohl!« stieß er hervor. »Und was Sie auch von mir hören mögen – bewahren Sie mir ein freundliches Gedenken!«

Wenige Sekunden später hatte sich die Tür des Kontors hinter ihm geschlossen. –

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