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6. Nachforschungen

Das beruhigende Schlafmittel, das Margot der Freundin trotz ihres Sträubens aufgedrängt, tat bis in den Nachmittag hinein seine Wirkung. Und als Herta aus dem bleischweren Schlummer erwachte, fühlte sie sich zwar noch matt und benommen, aber keineswegs krank. Sie war eben im Begriff, sich ohne fremde Hilfe anzukleiden, als Margot in ihr Schlafzimmer trat.

»Was bringst du mir?« rief ihr die junge Frau entgegen. »Hat man – hat man ihn gefunden?«

»Nein! Und ich bitte dich um des Himmels willen, den Dingen jetzt mit mehr Fassung ins Gesicht zu sehen. Wir sind nun einmal gezwungen, untätig das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen abzuwarten, und mit verzweifelter Aufregung ist da nichts zu bessern. Vorläufig ist es ja durchaus noch nicht gewiß, daß er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Ich muß gestehen, daß ich im Anfang selbst daran geglaubt habe, aber je länger ich darüber nachdenke, desto stärker werden meine Zweifel. Ganz ohne Geräusch wäre es bei einer solchen Tat doch sicherlich nicht abgegangen. Und dann – man kann den Körper eines erwachsenen Menschen doch nicht so gut verstecken oder so spurlos beseitigen, daß sich innerhalb eines in allen Teilen bewohnten Hauses gar nichts mehr davon auffinden ließe.«

Herta verbarg das Gesicht in den Händen.

»Wie entsetzlich es ist, so von einem Menschen sprechen zu hören, der einem der nächste auf Erden gewesen ist! Ich weiß nicht – ich kann die schreckliche Empfindung nicht los werden, daß mich selbst irgend eine Mitschuld trifft an seinem Geschick.«

»Was für törichte Einbildungen sind das, Herta! Ich verstehe gar nicht, wie du darauf verfallen kannst!«

»Ach, ich verstehe es ja eigentlich selbst nicht. Aber ich mache mir beständig Vorwürfe, daß ich nicht so gegen ihn gewesen bin, wie ich es hätte sein müssen – daß ich nicht die Fähigkeit besessen habe, ihn glücklich zu machen.«

»Nun – und er? Hat denn er dich glücklich gemacht?«

»O, das ist etwas anderes. Und er hat sich gewiß rechtschaffen darum bemüht – auf seine Art. Wenn er sich in der letzten Zeit mehr von mir zurückgezogen hat, so trug gewiß nur die Kälte daran schuld, die ich ihm vom ersten Tage an gezeigt habe, weil – weil ich nicht anders konnte.«

Es war ihr offenbar ein Bedürfnis, ihr von Zweifeln und Selbstvorwürfen gequältes Herz vor einem mitfühlenden Wesen zu erleichtern, aber die Worte kamen trotzdem nur schwer und zögernd über ihre Lippen. Die ganze Schamhaftigkeit einer Seele, die seit langem gewöhnt ist, sich scheu zu verschließen, offenbarte sich in der rührenden Schüchternheit ihres Bekenntnisses.

Aber Margot schien nicht gestimmt, das zagende Vertrauen, das ihr da entgegengebracht wurde, durch ein zartes und liebevolles Eingehen auf die Selbstanklagen der Freundin zu ermutigen.

»Weil du nicht anders konntest – ist das nicht Erklärung und Rechtfertigung genug? Am Ende durfte er doch nicht mehr von dir verlangen, als du zu geben vermochtest.«

Ganz in ihr trübes Sinnen verloren, blickte Herta vor sich hin. Und vielleicht sprach sie jetzt mehr zu sich selbst, als zu der Freundin, als sie sagte:

»Ich habe ihn nicht belogen – niemals! Das ist das einzige, womit ich mein Gewissen jetzt beruhigen kann. Als er um mich warb, habe ich ihm gesagt, daß ich ihn nicht so lieben könne, wie ein Weib den Mann lieben soll, dem es sich für das ganze Leben zu eigen gibt. Und noch wenige Tage vor der Hochzeit habe ich ihn gebeten, mir aus diesem Grunde mein Wort zurückzugeben. Er hat es nicht gewollt und hat mir erwidert, daß er zufrieden sei mit dem, was ich ihm an freundschaftlicher Zuneigung gewähren würde. Aber ich hätte mir doch mehr Mühe geben sollen, ihn lieben zu lernen. Jetzt, da ich ihn vielleicht für immer verloren habe, kommt mir's erst zum Bewußtsein, wieviel ich versäumt habe in dem, was nach menschlichem und göttlichem Gesetz meine Pflicht gewesen wäre.«

»Aber es ist doch noch keineswegs gewiß, daß dir wirklich jede Möglichkeit abgeschnitten sein wird, das Versäumte nachzuholen. Noch scheint es mir jedenfalls zu früh, mit solcher Bestimmtheit wie von einem Toten von ihm zu reden.«

»Ich habe keine Hoffnung mehr, Margot – eine innere Stimme sagt mir, daß ich ihn niemals wiedersehen werde.«

Gewiß hatten ihre Worte den Klang einer aufrichtigen Betrübnis, aber es war ebenso gewiß nicht die abgrundtiefe Verzweiflung eines unvermutet seines teuersten Besitztums beraubten Wesens, die aus ihnen sprach. Und Margot wunderte sich darüber nicht. Was auch immer sie in der Stille des Herzens ihrer von einem ungerechten Schicksal so sehr bevorzugten Freundin schon zum Vorwurf gemacht haben mochte, das Verdienst einer unbestechlichen Wahrheitsliebe, eines unüberwindlichen Abscheus gegen jede Art der Lüge, hatten doch selbst ihre unfreundlichsten Gedanken ihr nicht zu schmälern gewagt. Und vielleicht, weil sie ein Bedürfnis fühlte, ihr darin nicht nachzustehen – vielleicht aber auch aus der minder edlen Erwägung heraus, daß der jungen Frau kaum auf die Dauer verborgen bleiben würde, was außer der Polizei in diesem Augenblick wohl schon alle anderen Hausbewohner wußten, sagte sie ganz unvermittelt:

»Uebrigens bin ich dir noch eine Mitteilung schuldig, Herta, die dich wahrscheinlich in Erstaunen setzen wird. Ich habe Herrn Theodor Neuhoff noch am gestrigen Abend gesprochen.«

Herta erhob den Kopf, aber ihre Niedergeschlagenheit war zu groß, als daß die überraschende Eröffnung eine sehr starke Wirkung auf sie hervorgebracht hätte.

»Gestern abend?« wiederholte sie. »So bist du noch einmal ausgegangen?«

»Nein! – Ich hatte mir unten im Wintergarten ein Stelldichein mit ihm gegeben.«

»Ah, das ist doch wohl nicht dein Ernst?«

»Gewiß! Und ich hoffe, du wirst nichts Außerordentliches darin finden. Neuhoff und ich – wir sind doch von Eberstadt her alte Freunde. Und wir hatten uns mancherlei aus vergangenen Tagen zu erzählen.«

»Daß er dein Freund sei, hatte ich bisher nicht gewußt, Margot! Es gab eine Zeit, da du nicht sehr freundschaftlich über ihn zu sprechen liebtest.«

»In der Tat? Ich wüßte mich dessen kaum zu erinnern.«

Mit einem so großen, erstaunten Blick richteten sich die traurigen Augen der jungen Frau auf ihr Gesicht, daß sich Margot halb gegen ihren Willen zur Seite wandte.

»Ist es möglich, daß man dergleichen so bald vergißt? Als Theodor – als Herr Neuhoff damals von Eberstadt fortgegangen war, bist es da nicht du vor allen anderen gewesen, die von seinem leichtfertigen Leben und von seinen Liebesabenteuern zu erzählen wußte? Hast du mir nicht mit allen Einzelheiten darüber berichtet?«

Margot machte eine ungeduldige Bewegung mit den Schultern.

»Mein Gott – und was weiter? Ich habe höchstens wiederholt, was mein Vetter, der damals mit ihm verkehrte, ohne jede böse Absicht in seinen Briefen darüber berichtete. Und ich tat es gewiß nicht, um Herrn Neuhoff herabzusetzen. Daß ein junger Mann, dessen natürliche Anlagen solange in der dumpfigen Kleinstadt-Atmosphäre niedergehalten worden sind, sich ein bißchen austobt, wenn er plötzlich in größere und freiere Verhältnisse versetzt wird, ist doch die natürlichste Sache von der Welt. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, deshalb schlechter von ihm zu denken.«

»So lag es wohl an mir, wenn ich es damals so auffaßte. Jetzt also hast du aufs neue Freundschaft mit ihm geschlossen?«

»Ja! – Eine beiderseits recht herzliche und aufrichtige Freundschaft, wie ich hoffe. Im übrigen aber möchte ich dich bitten, liebe Herta, mich nicht nach dem Inhalt unserer gestrigen Unterhaltung zu fragen. Ich will nicht wissen, wodurch du dir Herrn Neuhoff zu einem so erbitterten Feinde gemacht hast, und es würde mir in innerster Seele zuwider sein, mich zur Zwischenträgerin von Unfreundlichkeiten zu machen, über deren größere oder geringere Berechtigung ich kein eigenes Urteil habe.«

In schmerzlichster Bitterkeit zuckte es um die Lippen der jungen Frau.

»Sei unbesorgt! Ich habe jetzt an anderes zu denken, als daran, ob Herr Neuhoff freundlich oder unfreundlich über mich spricht. Und ich gönne dir seine Freundschaft von Herzen. Aber, mein Gott, wie spät es schon ist! Weshalb ließet ihr mich so unverantwortlich lange schlafen? Sage mir doch, was man in der Zwischenzeit getan hat, um Paul zu finden?«

»Es sind ein paar Herren von der Polizei hier gewesen, die alle Winkel durchschnüffelt und alle Bewohner des Hauses ausgefragt haben. Aber sie sind damit nicht weiter gekommen, als wir es schon am Morgen gewesen sind. Deibler hat deinen Gatten um elf Uhr nach Hause kommen und nicht wieder fortgehen sehen – das ist alles. Und es ist herzlich wenig, denn daß er das Haus nicht wieder verlassen hat, wußten wir ja schon, als wir seinen Pelz und Regenschirm im Arbeitszimmer fanden. Auch seinen Hut könnte er, wenn er noch einmal ausgegangen wäre, allem Anschein nach nicht mitgenommen haben, denn auf dem Vorplatz der Kanzlei hängen zwei Hüte, die nach der Aussage des Bureauvorstehers deinem Manne gehören, und einen von ihnen dürfte er wohl gestern abend benutzt haben. Das Ganze ist so rätselhaft und geheimnisvoll wie möglich. Und die einzige Erklärung, die mit einem Schlage das Dunkel aufhellen würde, will mir aus inneren Gründen zu wenig glaubhaft erscheinen.«

»Was für eine Erklärung wäre das, Margot?«

»Die Annahme, daß dein Gatte durch den Gartensalon und den Wintergarten hinausgegangen wäre, um –«

»Nun – um – –«

»Ich will dir nicht zu nahe treten, Herta, und ich sage dir ja, daß ich selbst nicht daran glaube. Aber es war davon die Rede, daß der Doktor möglicherweise die Kanzlei durch den Gartenausgang verlassen haben könnte, um durch einen Sprung in den Fluß Selbstmord zu verüben. Damit wäre sein spurloses Verschwinden allerdings ebenso vollständig erklärt, wie die Zurücklassung der Kleidungsstücke und der Schlüssel, die er sonst niemals aus den Händen ließ.«

»Aber es ist nicht daran zu denken, daß es sich so verhält,« rief die junge Frau mit großer Lebhaftigkeit. »Wie wenig ich auch im Grunde von meines Mannes Innenleben weiß, – daß nichts auf der Welt ihn jemals zu einem solchen Schritt hätte bestimmen können, dessen bin ich doch ganz gewiß. Und weshalb hätte er es denn auch tun sollen? Er hatte keine Sorgen – er liebte seinen Beruf, der ihm volle Befriedigung gewährte – und seine körperlichen Leiden waren sicherlich nicht derart, daß sie ihn hätten zur Verzweiflung treiben können.«

»Das alles habe auch ich mir schon gesagt. Aber wenn wir diese Erklärung nicht gelten lassen wollen, müssen wir eben geduldig warten, bis eine andere, bessere für sein Verschwinden gefunden worden ist.«

»Aber ich kann hier nicht untätig bleiben – ich ertrage es nicht! Diese schrecklichen Vorstellungen martern mich bis zum Wahnsinn. Wenn wenigstens mein Bruder hier wäre! Hat man ihn denn noch gar nicht benachrichtigt – ihm noch gar nicht mitgeteilt, was hier geschehen ist?«

»Daran habe ich allerdings in all der Aufregung nicht gedacht. Aber wenn du wirklich glaubst, daß Herr Mansfeld dir in dieser Sache von irgend welchem Nutzen sein kann, will ich Henriette sogleich zu ihm schicken.«

»Nein,« wehrte die junge Frau ab. »Ich werde mir eine Droschke nehmen und zu ihm fahren. Auf eine kurze Zeit wenigstens muß ich hinaus ins Freie! Mir ist, als ob die Wände dieses schrecklichen Hauses mich erdrückten.«

Sie bat Margot nicht um ihre Begleitung, und die Generalstochter war zu stolz, sich jemandem aufzudrängen, den es nicht nach ihrer Gesellschaft verlangte. Sie fühlte recht gut, daß seit dem Augenblick, wo sie von ihrer abendlichen Zusammenkunft mit Theodor Neuhoff gesprochen hatte, etwas Fremdes, Trennendes zwischen sie und Herta getreten war. Aber es hatte keineswegs den Anschein, als ob sie ein sehr tiefgehendes Bedauern darüber empfände, und ein Fremder, der zufällig zum Zeugen der kurzen Verabschiedung zwischen den beiden Freundinnen geworden wäre, würde aus Margots kühlem, beinahe herablassendem Benehmen sicherlich nicht zu dem Schluß gelangt sein, daß sie hier nur eine untergeordnete Stellung einnehme.

Es war eine ziemlich weite Fahrt, die Herta zurücklegen mußte, um an das Ziel ihres Weges zu gelangen. Durch die engen, verkehrsreichen Straßen der inneren Stadt brachte sie der Wagen in eine Gegend, die der Bebauung durch große Mietskasernen erst in jüngster Zeit erschlossen worden war und die ihren Charakter einer halb ländlichen Vorstadt noch nicht ganz verloren hatte. Endlich hielt die Droschke vor der roh gezimmerten Umzäunung eines Grundstücks, auf dem ehedem eine Gärtnerei betrieben zu sein schien, denn auf dem jetzt ziemlich wüst anmutenden Gelände neben dem einstöckigen, unansehnlichen Wohnhause waren noch die kümmerlichen Ueberreste und großenteils zerbrochenen Glasfenster einiger Treibhäuser sichtbar. Ueber dem Zauntor aber war auf einem hübschen, stark in die Augen fallenden Firmenschild zu lesen:

»Werner Mansfeld. Photographische Kunstanstalt.«

Auch einige Fenster im Erdgeschoß des Hauses gaben Zeugnis von dem darin betriebenen Geschäft, denn in gefälliger Anordnung waren hinter ihren Scheiben die photographischen Nachbildungen bekannter Gemälde ausgelegt, eine Schaustellung, deren anlockende Wirkung auf die Vorübergehenden allerdings sehr erheblich durch den Gitterzaun und durch den Umstand beeinträchtigt wurde, daß das Haus wohl um ein Dutzend Schritte von der Straße zurücklag.

Herta lohnte den Kutscher ab und zog die Glocke an der geschlossenen Tür des Hauses. Ein nett gekleidetes junges Mädchen mit zierlicher Figur und hübschem, blassem Gesicht tat ihr auf. Sie kannte die Besucherin offenbar nicht, denn nachdem sie die Dame in den Flur des anscheinend recht alten und verwahrlosten Hauses hatte eintreten lassen, öffnete sie eine Tür zur Rechten, die augenscheinlich in das Verkaufskontor der photographischen Kunstanstalt führte.

»Darf ich mich nach den Wünschen der gnädigen Frau erkundigen?« fragte sie höflich. Und auf Hertas Erwiderung, daß es ihr darum zu tun sei, Herrn Mansfeld zu sprechen, erklärte sie mit freundlichem Bedauern:

»Herr Mansfeld ist leider nicht anwesend. Er mußte gestern abend in einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit auf zwei oder drei Tage verreisen.«

Herta fühlte sich von dieser unerwarteten Eröffnung auf das schmerzlichste enttäuscht, und sie machte kein Hehl aus ihrer Ueberraschung.

»Mein Bruder ist verreist? – Und er hat mich nicht einmal durch eine Zeile davon benachrichtigt? Das pflegte er in solchen Fällen doch sonst immer zu tun.«

Das bleiche, etwas verhärmte Gesicht des jungen Mädchens belebte sich wie in plötzlich erwachtem Interesse.

»O – ich habe also die Ehre mit Frau Dr. Leonhardt! Möchten gnädige Frau nicht die Güte haben, auf einen Augenblick einzutreten?«

Die junge Frau leistete der Aufforderung Folge und nahm dankend den Stuhl an, den ihr das Mädchen diensteifrig bereitstellte. Müde glitt ihr Blick über den schmucklosen Raum, dessen ganze Mobiliarausstattung ein mit Mappen bedeckter Tisch, ein Schreibpult, sowie einige Schränke und Regale ausmachten, und der nur durch die in großer Zahl an den Wänden befestigten Bilder, unter denen sich auch einige Oelgemälde befanden, etwas wie einen künstlerischen Anstrich erhielt.

»Herr Mansfeld fand gestern wohl nicht mehr die Zeit, der gnädigen Frau zu schreiben,« entschuldigte das junge Mädchen den Abwesenden. »Er hoffte noch bis zum Mittag, daß sich die Notwendigkeit dieser Reise umgehen lassen würde, aber am späten Nachmittag kam dann ein Telegramm von der Berliner Firma, das ihn zwang, sich in aller Eile fertig zu machen, weil eine persönliche Rücksprache darin für unerläßlich erklärt wurde.«

»So ist mein Bruder also nach Berlin gefahren?«

»Ja, mit dem Abendzuge um halb neun Uhr. Ich hatte der Berliner Firma in seinem Auftrage telegraphieren müssen, daß er sich um acht Uhr morgens zu der verlangten Besprechung in ihrem Kontor einfinden werde.«

»Und können Sie mir vielleicht auch sagen, wo ihn in Berlin eine Nachricht erreichen würde?«

»Jawohl, gnädige Frau! Herr Mansfeld hat mir den Namen und die Straße des Hotels aufgeschrieben, in dem er absteigen wollte. Da ist die Adresse.«

Sie hatte Herta einen auf dem Schreibpult liegenden Zettel überreicht, und die junge Frau erhob sich von ihrem Stuhl.

»Darf ich hier ein paar Worte niederschreiben? Es handelt sich um ein Telegramm, das ich meinem Bruder mit aller nur möglichen Beschleunigung zukommen lassen möchte.«

Mit flinken Fingern hatte das junge Mädchen die auf der Pultplatte verstreuten Briefe und Papiere zur Seite geräumt.

»Bitte, gnädige Frau! Oder wenn Frau Doktor mir die Depesche vielleicht diktieren wollen – –«

»Sie sind sehr freundlich, Fräulein – Fräulein Heßling – so ist doch Ihr Name – nicht wahr?«

»Jawohl – Martha Heßling! Ich bin von Herrn Mansfeld als Buchhalterin engagiert und für gelegentliche kleine Hilfeleistungen im Atelier.«

»Ich weiß – mein Bruder hat mir von Ihnen erzählt.«

Unter der durchsichtigen Haut der schmalen Mädchenwangen brannte plötzlich ein heißes Rot.

»Wenn gnädige Frau mir das Telegramm jetzt vielleicht diktieren möchten –!« bat sie hastig.

Herta trat an ihre Seite, und ihre Augen folgten den leichten, gewandten Federzügen, während sie vorsprach:

 

»Kehre sofort zurück, da ich dringend deines Beistandes bedarf. Schreckliches hat sich zugetragen.

Herta.«

 

Mit einem Ausdruck ehrlichster Bestürzung in den hübschen Zügen wandte sich ihr die Schreibende zu.

»Um Gotteswillen, Frau Doktor – verzeihen Sie, aber es ist gewiß nicht bloße Neugier, wenn ich mir herausnehme zu fragen – –«

»Sie möchten erfahren, was sich ereignet hat, daß ich meinen Bruder auf solche Art zurückrufe? Ich brauche Ihnen kein Geheimnis draus zu machen, denn morgen weiß es vielleicht schon alle Welt. Mein Mann ist seit dem gestrigen Abend verschwunden, und weder ich selbst, noch die Behörden wissen, wo wir ihn suchen sollen.«

»Und Sie fürchten, daß ein Unglücksfall –?«

»Ein Unglücksfall oder ein Verbrechen – wahrscheinlicher sogar dies letzte. Die schreckliche Gewißheit aber wird mir kaum früher werden, als wenn man ihn gefunden.«

Martha Heßling fragte nicht weiter, aber ihre Teilnahme mußte wohl eine aufrichtige sein, denn sie sah ganz verstört aus, und nun ging sie eiligen Schrittes zu der kleinen Garderobe, die hinter einem Vorhang in der Ecke des Raumes hergerichtet war.

»Sie müssen mir erlauben, Frau Doktor, die Depesche selbst zum Telegraphenamt zu bringen. Wenn Sie in dieser Gegend nicht Bescheid wissen, würden Sie den kürzesten Weg vielleicht nicht so schnell finden, und ich meine, daß keine Minute verloren werden sollte. Herr Mansfeld hängt mit so großer Liebe an Ihnen und an Ihrem Gatten, daß er bei einem so schrecklichen Ereignis sicher den dringenden Wunsch hat, alles zu tun, was in seinen Kräften steht.«

»Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihr Interesse, mein liebes Fräulein! Und da ich mich etwas angegriffen fühle, nehme ich die Freundlichkeit, die Sie mir mit der Besorgung des Telegramms erweisen wollen, gerne an. Aber wenn während Ihrer Abwesenheit jemand in geschäftlichen Angelegenheiten kommen sollte –«

»Das ist kaum zu erwarten, gnädige Frau! Die geschäftlichen Abmachungen des Herrn Mansfeld vollziehen sich fast immer außerhalb des Kontors, und daß sich von der Straße her ein Käufer zu uns verirrt, geschieht äußerst selten. Den Verkauf einzelner Bilder betrachtet Ihr Herr Bruder ja auch als sehr nebensächlich, und seine Tätigkeit beschränkt sich in der Hauptsache auf die Herstellung von Vervielfältigungen, die von anderen Firmen bei ihm bestellt werden.«

Herta nickte zerstreut. Alle diese Dinge waren für sie jetzt von so geringem Interesse. Aber als die junge Buchhalterin in ihrem einfachen Barett und in dem beinahe dürftigen Straßenjäckchen, das viel zu dünn schien für die Kälte des Wintertages, vor ihr stand, da gewahrte sie doch in all ihrer Bekümmernis, daß Martha Heßling ein allerliebstes Persönchen sei, und aus einer sympathischen Empfindung heraus, die sich schon beim ersten Anblick des Mädchens in ihr geregt hatte, reichte sie ihr die Hand.

»Sie müssen mir nach Ihrer Rückkehr noch mehr von meinem Bruder und von seinem Leben erzählen, liebes Fräulein Heßling! Denn es will mir beinahe vorkommen, als hätte ich mich bisher allzuwenig darum gekümmert.«

Die Voraussage der Buchhalterin, daß sich schwerlich ein Käufer in das Geschäftslokal der photographischen Kunstanstalt verirren würde, hatte sich als richtig erwiesen. Da Martha nach Verlauf einer Viertelstunde wiederkam, ganz erhitzt vom schnellen Gehen und mit anmutig geröteten Wangen, konnte Herta ihr berichten, daß sie durch keinen Besucher gestört worden sei. Sie dankte ihr noch einmal voll Herzlichkeit für den erwiesenen Dienst, und dann, wie wenn sie sich damit wenigstens für eine kurze Zeitspanne von den trüben Gedanken freimachen wollte, die heute eine so unumschränkte Gewalt über sie hatten, fragte sie:

»Wenn ich meines Bruders Mitteilungen recht im Gedächtnis habe, sind Sie erst seit kurzem bei ihm beschäftigt?«

»Seit wenig mehr als vier Wochen, Frau Doktor! Und es war eine große Güte von Herrn Mansfeld, daß er mir diesen Posten anvertraute, denn ich verstand damals noch nicht das geringste von der Tätigkeit einer Buchhalterin, und ich habe ihm mit meiner Ungeschicklichkeit anfänglich gewiß Mühe und Unbequemlichkeit genug verursacht.«

»Es war also Ihre erste derartige Stellung?«

»Ja. Ich hatte mich bis dahin nur in dem kleinen Haushalt meiner Mutter nützlich gemacht. Und bis vor einigen Monaten hatte ich kaum an die Möglichkeit gedacht, daß ich mir meinen Lebensunterhalt selbst würde verdienen müssen. Dann aber kam eine plötzliche Verschlechterung unserer Verhältnisse, und ich war genötigt, eine bezahlte Beschäftigung zu suchen. Aber für ein junges Mädchen, das keine spezielle Ausbildung genossen hat, ist es furchtbar schwer, etwas derartiges zu finden. Meist wurde ich bei meinen Bewerbungen von vornherein abgewiesen, weil ich keine Zeugnisse vorlegen und mich auch sonst nicht über meine Fähigkeiten ausweisen konnte. Und wenn man es trotzdem irgendwo mit mir versuchte, wurde ich wegen meiner ungenügenden Leistungen immer schon nach einigen Probetagen wieder entlassen. Aber verzeihen Sie, gnädige Frau – ich weiß gar nicht, wie ich dazu gekommen bin, Sie mit dieser Erzählung zu langweilen.«

»Sie langweilen mich durchaus nicht. Ich weiß ja, ein wie warmes Interesse mein Bruder an Ihnen nimmt und wie anerkennend er sich über Ihren Eifer und Ihre Anstelligkeit geäußert hat. Sie sind also mit Ihrer jetzigen Stellung ganz zufrieden?«

»O, so zufrieden!« rief das junge Mädchen mit einem ganz eigenen Aufleuchten in den hübschen Augen. »Einen gütigeren und nachsichtigeren Chef, als es Herr Mansfeld ist, werde ich gewiß niemals finden.«

»Ich glaube es wohl, denn mein Stiefbruder ist in Wahrheit einer der gutmütigsten und weichherzigsten Menschen, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe. Aber –«, und ihr Blick glitt noch einmal zweifelnd über den kahlen, ärmlichen Kontorraum hin – »wenn es hier so wenig zu tun gibt, wie Sie es mir vorhin geschildert haben, wird er Sie dann auch immer ausreichend beschäftigen können?«

»Herr Mansfeld hat die Absicht, seine Kunstanstalt erheblich zu vergrößern; doch diese Pläne kennen Sie, Frau Doktor, als seine nächste Verwandte, wahrscheinlich viel besser als ich.«

»Nein, ich weiß leider sehr wenig. Ich erinnere mich wohl, daß Werner gelegentlich eine Andeutung darüber machte. Aber er hat es von jeher beinahe ängstlich vermieden, mit mir ausführlich über seine geschäftlichen Angelegenheiten zu sprechen. Namentlich seit der Zeit, wo er seine künstlerische Laufbahn aufgegeben und sich einer mehr kunstgewerblichen Tätigkeit gewidmet hat. Und weil ich sah, daß es ihm peinlich war, von diesen Dingen zu reden, habe ich meinerseits keinen Versuch gemacht, mich in sein Vertrauen zu drängen.«

Ohne sich der rasch entstandenen Vertraulichkeit so recht bewußt zu werden – nur, weil sie Gefallen aneinander gefunden hatten, und weil ein feines Gefühl ihnen sagte, daß sie von dem gleichen warmen Interesse für den Gegenstand ihrer Unterhaltung erfüllt seien, waren die beiden Frauen sehr rasch dahin gelangt, über den Abwesenden zu reden, wie über einen lieben, gemeinsamen Freund, in bezug auf den sie einander nichts zu verheimlichen brauchten. Aus Martha Heßlings Aeußerungen konnte Herta ja auch entnehmen, daß ihr Stiefbruder seiner jungen Buchhalterin gegenüber in mancher Hinsicht vielleicht noch offenherziger gewesen war als gegen sie selbst, und weil es nach ihrem Empfinden in der Geschichte seines Lebens nichts gab, dessen Werner Mansfeld sich hätte schämen müssen, so sprach sie ohne jeden Rückhalt von der Vergangenheit, die sie zum guten Teil gemeinsam mit ihm verlebt hatte und die für sie eine Fülle wehmütig süßer Erinnerungen in sich schloß.

Werner entstammte der ersten, schon nach kaum zweijährigem Bestande durch den Tod gelösten Ehe ihrer Mutter mit einem hochbegabten Künstler, dem es nicht vergönnt gewesen war, sich zu Erfolg und Anerkennung durchzuringen. Und er hatte, wenn auch vielleicht nicht das Talent, so doch die künstlerischen Neigungen seines jung verstorbenen Vaters geerbt. Die um sechs Jahre jüngere Stiefschwester konnte sich, wie sie lächelnd erzählte, seiner kaum anders erinnern, als mit dem Zeichenstift in der Hand und voll enthusiastischer Künstlerträume, die nach der Ansicht seines gütigen und bis zur Schwäche nachsichtigen Stiefvaters nicht immer von vorteilhaftem Einfluß auf die wissenschaftlichen Studien des jungen Gymnasiasten gewesen waren. Er hatte es denn auch trotz redlichen Mühens nicht bis zum Abiturienten-Examen bringen können und war mit einer etwas unzulänglichen Bildung in das Leben hinausgetreten, um sich dem Beruf des Malers zu widmen, den er mit unerschütterlicher Festigkeit als den ihm vorbestimmten ansah. Aber mit aller Begeisterung für seine Kunst hatte er es doch niemals weiter bringen können, als bis zu einer gewissen Geschicklichkeit, die ernste Beurteiler nicht über den Mangel eines echten, starken Talents zu täuschen und die ihm selber auf die Dauer keine volle Befriedigung zu gewähren vermochte. Da sein Ehrgefühl ihm verbot, noch über das zwanzigste Lebensjahr hinaus die Unterstützung seines wenig begüterten Stiefvaters anzunehmen, hatte er sich von diesem Zeitpunkt an in harten Kämpfen, unter mancherlei Not und Entbehrung, durch das Dasein geschlagen, bis er endlich die Fruchtlosigkeit seines Ringens eingesehen und sich entschlossen hatte, seinen Künstlerehrgeiz für immer zu begraben. Es mußte ihm ein schweres Opfer gewesen sein, und er mußte lange und schmerzlich darunter gelitten haben. Denn, wie Herta der aufmerksam lauschenden jungen Buchhalterin erzählte, datierte erst seit jenem Zeitpunkt eine Verschlossenheit, die seinem heiteren, liebenswürdigen Wesen sonst ganz fremd gewesen war, und seine unüberwindliche Scheu, selbst mit der aufrichtig geliebten Stiefschwester über seinen neuen Beruf zu reden.

Vor drei Jahren schon, also lange vor Hertas Verheiratung, hatte er hier in der Stadt ein kleines photographisches Atelier eröffnet, und vielleicht war die Hoffnung, damit wieder dauernd in seine Nähe zu gelangen, einer der Gründe gewesen, die Herta bestimmt hatten, die Werbung des Rechtsanwalts Leonhardt anzunehmen.

Aber als Porträtphotograph mußte Werner Mansfeld doch wohl seine Rechnung nicht gefunden oder die Tätigkeit mußte seinen noch immer nicht ganz erstickten künstlerischen Neigungen zu wenig entsprochen haben, denn vor etwa neun Monaten hatte er um ein Geringes sein im Innern der Stadt gelegenes Geschäft verkauft und hatte hier draußen die kleine photographische Kunstanstalt eingerichtet, die ihm immerhin eine etwas freiere Betätigung gestattete, als der Zwang, sonntäglich geputzte Dienstmädchen und kriegerisch dreinschauende Musketiere in möglichst vorteilhafter Pose auf der lichtempfindlichen Platte zu verewigen.

Davon, ob das neue Unternehmen sich in geschäftlicher Hinsicht als ein erfolgreiches erwiesen, hatte Herta bis zu diesem Tage keine Ahnung gehabt. Wohl war ihr Stiefbruder ein sehr häufiger und immer gern gesehener Gast im Hause des Rechtsanwalts, der ihm gegenüber mehr Herzlichkeit an den Tag legte, als es sonst seine Art war; aber über seine materielle Lage sprach Werner Mansfeld nie ein Wort. Daß er mit seinem Schicksal durchaus zufrieden schien und daß er niemals den Beistand seines als sehr wohlhabend bekannten Schwagers in Anspruch nahm, hatte der jungen Frau als Beweis für seine gute Vermögenslage vollkommen genügt. Und heute zum erstenmal war ihr beim Anblick der Dürftigkeit, die sie hier umgab, die Besorgnis gekommen, daß Werners geschäftliche Erfolge hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben sein könnten.

»Stellt denn dies kleine Zimmer das ganze Geschäftslokal meines Bruders dar?« fragte sie mit weiblicher Neugier im Verlauf des Gesprächs. »Und wo befindet sich eigentlich seine Privatwohnung? Kann ich sie nicht einmal sehen?«

»Herr Mansfeld bewohnt die beiden Parterrezimmer auf der anderen Seite des Flurs,« gab die Buchhalterin bereitwillig Auskunft. »Aber ich kann sie der gnädigen Frau nicht zeigen, denn sie sind verschlossen, und Herr Mansfeld hat den Schlüssel natürlich mitgenommen, als er abreiste. Wenn Sie aber das im Garten belegene Atelier besichtigen möchten – –«

»Nein – nein – ich danke – ein anderes Mal!« wehrte Herta ab, der es plötzlich mit der Schwere eines ernsten Vorwurfs auf die Seele gefallen war, daß sie über ihrem Interesse an dem Stiefbruder fast für die Dauer einer halben Stunde das Schicksal ihres unglücklichen Mannes hatte vergessen können. »Ich habe mich wohl schon zu lange hier aufgehalten. Und ich zittere bei dem Gedanken an das Fürchterliche, das mich vielleicht daheim erwartet.«

Die junge Buchhalterin suchte sie mit tröstenden Worten zu beruhigen, die ihr ganz unverkennbar wirklich aus dem Herzen kamen, und als Herta sie ansah, gewahrte sie, daß die Augen des Mädchens voll Tränen standen. Unwillkürlich stieg vor ihrer Seele die Erinnerung auf an die kalte, fast gleichgültige Art, in der ihre Freundin Margot vorhin über das Verschwinden ihres Mannes gesprochen, und ein warmes Gefühl der Zuneigung für diese liebenswürdig bescheidene Person, die ihr noch vor kurzem eine völlig Fremde gewesen war, bestimmte sie, ihre beiden Hände zu ergreifen.

»Ich danke Ihnen, mein liebes Fräulein, und ich hoffe, daß wir uns heute nicht kennen gelernt haben, um uns sogleich wieder aus den Augen zu verlieren. Wenn Ihre Zeit Ihnen gestattet, mich an einem der nächsten Tage zu besuchen, so werden Sie mir damit einen wirklichen Dienst erweisen. Ich bin überzeugt, daß mein Bruder gern seine Zustimmung dazu geben wird.«

»Gewiß, Frau Doktor,« erwiderte Martha einfach. »Ich werde gern kommen, und ich will von ganzem Herzen wünschen, daß ich Sie in einer glücklicheren Stimmung finden darf, als an diesem traurigen Tage.«

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