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15. Enthüllte Geheimnisse

Mit einziger Ausnahme der etwas bedenklichen Nebenumstände, unter denen sie zur Kenntnis des verräterischen Löschblattabdrucks gelangt war, hatte Margot dem Untersuchungsrichter, bei dem sie sich unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Dresden hatte melden lassen, nichts von den zur Erlangung des Briefes angewandten Mitteln verschwiegen.

»Wenn ich mich strafbar gemacht haben sollte,« sagte sie mit einem hochmütigen Zurückwerfen des schönen Kopfes, »so werde ich mich ohne den geringsten Widerspruch dieser Strafe unterwerfen. Denn ich habe getan, was ich für meine Pflicht halten mußte. Und mein Gewissen spricht mich frei von jeder Schuld.«

Nach seiner Gewohnheit, die vorbereitete Erzählung eines Zeugen nicht früher durch verwirrende Fragen zu unterbrechen, als bis er sich über die Absichten dieses Zeugen hinlänglich orientiert glaubte, hatte der Landgerichtsrat auch diesmal schweigend zugehört und sich darauf beschränkt, den verschlossenen Brief, den Margot ihm überreicht hatte, wiederholt sehr aufmerksam von allen Seiten zu betrachten. Nun erst, da er sah, daß sie zu Ende war, fragte er, ohne auf ihre letzten Worte einzugehen:

»Und Sie sind ganz sicher, daß dieser Brief von Frau Dr. Leonhardt herrührt? Sie können sich darin nicht täuschen?«

»Nein, ich kann mich dafür verbürgen, denn sie hat sich nicht die geringste Mühe gegeben, ihre Handschrift zu verstellen.«

»Und auch darüber, daß der Herr, dem Sie auf dem Dresdener Postamt begegneten, und der ihrer Meinung nach am Schalter nach dem nämlichen Briefe fragte, der Schwager des Rechtsanwalts gewesen ist, kann kein Irrtum obwalten?«

»Nein! Ich erkannte ihn mit voller Bestimmtheit.«

»Sie sagen, daß Sie das Tun und Lassen der Frau Dr. Leonhardt mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet haben, weil Sie sie einer Mitschuld an dem gegen ihren Gatten mutmaßlich verübten Verbrechen für verdächtig hielten. Hatten Sie denn so triftige Gründe für einen derartigen schweren Verdacht?«

»Ich wußte, daß sie zu dem Architekten Neuhoff in vertrauten Beziehungen gestanden hat, und ihr Benehmen ließ mir überdies keinen Zweifel darüber, daß sie etwas auf dem Gewissen habe.«

»Das sind im Grunde doch recht unbestimmte Anhaltspunkte. Hegten Sie denn auch irgend eine Vermutung hinsichtlich der Persönlichkeit, für die dieser Brief bestimmt sein kann?«

»Nein! Aber ich las in den Zeitungen, daß man nach dem Absender der zurückgeschickten Pfandbriefe als nach einem vermutlichen Mitwisser des Verbrechens fahndet. Wenn Herta Leonhardt bei dem Morde ihre Hand im Spiele gehabt hat, so kennt sie sicherlich auch diesen Mitschuldigen, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß sie mit ihm noch weitere Verhandlungen pflegt.«

»Wie aber erklären Sie sich den Versuch dieses Herrn Mansfeld, in den Besitz des von seiner Stiefschwester geschriebenen Briefes zu gelangen?«

»Ich habe dafür keine Erklärung, und ich meine auch, daß es nicht meine Aufgabe sein kann, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Mit der Uebergabe des unverletzten Briefes glaube ich meiner Gewissenspflicht genügt zu haben.«

Es bereitete ihr offenbar eine gewisse Enttäuschung, daß der Untersuchungsrichter das Schreiben nicht sofort erbrach und sie von seinem Inhalt unterrichtete. Aber wenn sie in Wahrheit derartiges erwartet hatte, so sah sie ihre Wißbegierde auf eine weitere harte Probe gestellt, denn nachdem er noch einige Fragen an sie gerichtet hatte, legte der Landgerichtsrat den Brief uneröffnet beiseite und sagte:

»Im Interesse der Untersuchung muß ich Sie bitten, mein Fräulein, über das, was Sie mir soeben mitgeteilt haben, vorläufig noch strengstes Stillschweigen zu beobachten. Sie haben doch wohl bisher zu niemandem davon gesprochen?«

»Nein.«

»Und Sie werden jetzt in das Haus der Frau Dr. Leonhardt zurückkehren?«

»Das ist nach Lage der Dinge selbstverständlich unmöglich. Ich habe sie bereits brieflich von der Lösung unserer Beziehungen in Kenntnis gesetzt und werde noch im Laufe des Nachmittags meine Sachen aus ihrer Wohnung abholen lassen.«

Die Erklärung schien dem Untersuchungsrichter willkommen, denn er nickte befriedigt und ersuchte Margot nur noch um die Angabe der Adresse, unter der eine etwaige dringende Vorladung sie erreichen würde. Dann sah sie sich entlassen.

In all ihren Hoffnungen und Wünschen getäuscht, war Margot der Verzweiflung nahe. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe über ihr unehrenhaftes Benehmen und entschuldigte sich wieder damit, daß sie ja nicht anders habe handeln können.

Was nun beginnen? In ihrer jetzigen Gemütsverfassung konnte Margot unmöglich ein neues Unterkommen als Gesellschafterin oder sonst suchen, für Dienste in einem Geschäft war sie ihrem Wesen nach nicht geeignet. Es würde wohl am besten sein, zur alten, ihr immer so mütterlich zugetanen Tante zu gehen, wenn es ihr auch kaum glaublich schien, daß die seither verschmähte Hilfe ihr noch zuteil werden könne. Aber einen anderen Ausweg gab es nicht.

Die wenigen Ersparnisse reichten für kaum einen Monat, von Frau Dr. Leonhardt hatte sie nie etwas angenommen, es war ihr auch nicht bekannt, daß Herta in liebevoller Weise für sie gesorgt und jeden Monat einen erheblichen Betrag in der Sparkasse für Margot eintragen ließ. Das Sparkassenbuch befand sich in Hertas Schreibpult. Ihr Mann hatte keine Kenntnis davon, da er sich um das Haushaltungsgeld und dessen Verwendung nie gekümmert hatte. Herta durfte mit ihrem sehr reichlich bemessenen Wirtschaftsgeld nach Belieben schalten.

Am anderen Abend war Margot in R. angekommen, die Stunde Weg wollte sie zu Fuß zurücklegen bis zum idyllischen Dörfchen, das Tante Hermine als ihr Paradies bezeichnete. Ohne daß sie es merkte, war ein ehrwürdiger Herr denselben Weg gegangen, Pfarrer Held hatte noch mit dem Bahnhofsvorsteher gesprochen und von diesem erfahren, daß die junge Dame nach R. gehe, Begleitung oder einen Wagen habe sie abgelehnt. Sie und der Pfarrer waren die einzigen angekommenen Fahrgäste; eingestiegen war niemand.

»Gnädiges Fräulein, gestatten Sie, mich Ihnen anzuschließen, Sie wollen gewiß zur Frau Geheimrat, Sie kennen wohl Pfarrer Held noch von Ihrem Besuche vor drei Jahren, wo Sie so glücklich und zufrieden waren und mit meiner, seit Sommer glücklich verheirateten Tochter Elsa so gerne verkehrten. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich sehe, daß wohl schwere Sorgen Sie bedrücken. Umso willkommener seien Sie uns. Erst gestern sprachen wir mit allerlei Befürchtungen von Ihnen. Die gnädige Frau meinte, es müsse etwas Schreckliches sich ereignet haben, sie habe eine Ahnung. Seit beinahe dreiviertel Jahren haben Sie ja auch gar nichts mehr hören lassen. Erkundigungen in L. brachten auch keine Aufklärung. Ihrer Frau Tante hat es sehr wehe getan, wie sie Ihre Zurückhaltung und Ihr Mißtrauen merkte, aber ihre nimmermüde Liebe bleibt bestehen. Die Liebe höret nimmer auf; diesen Grundsatz muß jeder ernste Christ als Richtschnur seines Handelns betrachten. Also nochmals, herzlich willkommen!«

Und der Pfarrherr reicht Margot die Hand, die diese dankbar ergreift und an die Lippen führt.

»O, welch ein unverdientes Glück, welch wunderbare Führung Gottes,« entringt es sich Margots Lippen. Weiter ist sie keines Wortes fähig. Schweigend gehen beide ihren Weg, der Mond beleuchtet ein ernstes Gesicht, offenbar geht Margot mit sich zu Rate und ist zu einem Entschluß gekommen.

Nun sind die beiden, die von den ihnen begegnenden Dorfbewohnern höflich gegrüßt, aber auch neugierig angestaunt werden, am Pfarrhaus angelangt.

»Hier sind wir zu Hause, ich darf wohl bitten, zunächst mein Gast sein zu wollen, denn zur Frau Geheimrat können wir erst morgen vormittag, ich muß Sie selbst hinbringen.«

Dankbar nimmt Margot an. Auf der Treppe kommt die liebe Pfarrfrau ihr entgegen; sie auf den ersten Blick erkennend, ruft sie der zaghaft Nähertretenden ein »Herzlich willkommen« zu. Nun ist alle Befangenheit gewichen. Weinend umarmt die so schwer Leidende und so herzlich Getröstete die gute Frau, zu der sie schon vor drei Jahren ein beinahe kindliches Zutrauen gewonnen hatte.

Nach dem einfachen Abendessen wollte der Pfarrherr in seinem Studierzimmer noch arbeiten, aber Margot bat, zu bleiben, damit sie nun alles, was sie bedrückte und ängstige, mitteilen könne.

In freimütiger Weise schilderte Fräulein Rogall ihre Erlebnisse seit dem Tode ihrer innigstgeliebten Mutter, die mancherlei Widerwärtigkeiten, und erzählte dann von ihrer Stellung im Leonhardtschen Hause, all das Schreckliche nicht beschönigend und sich selbst nicht schonend.

Mit steigendem Interesse hörte der Pfarrherr zu, er hatte wohl in seiner Zeitung etwas davon gelesen, aber weder die Namen, noch die sonstigen Umstände weiter beachtet. Es berichte ja leider fast jeder Tag solche und ähnliche Vorkommnisse, die las er lieber gar nicht.

»Sie haben freilich unrecht gehandelt, liebes Fräulein, ohne sich dessen im ganzen Umfang bewußt zu sein. Wir wollen jetzt nicht weiter darüber sprechen, sondern unsere Gedanken im Gebet sammeln. Ihre Frau Tante findet, wie in so vielen anderen Fällen, gewiß das Richtige und wird bestimmen, was wir zu tun haben. Für heute Gott befohlen.«

Damit verabschiedete sich Pfarrer Held, Margot plauderte noch über manches, besonders von Elsa und begab sich dann in das hübsch hergerichtete Gaststübchen.

Am anderen Morgen stand Margot schon bei der alten Lise in der Küche, fröhlich von ihrem damaligen Besuch plaudernd, als die Pfarrerin herunterkam.

Nach einer tiefernsten Morgenandacht wurde dann der schwere Gang zur Tante unternommen.

Die alte Dame war tief ergriffen, als ihr Margot an der Hand des Pfarrherrn an ihren Krankenstuhl geführt wurde. Mit wenigen Worten erläuterte der Geistliche die eigentümlichen Verhältnisse. Margot war außer sich vor Jammer, wie sie die gute Tante in ihrem hilflosen Zustand sah – sie war seit einigen Monaten gelähmt, doch die lebhaften Augen zeigten, daß wohl der Körper, aber nicht der Geist gebrochen sei.

»Du mußt bei mir bleiben, liebes Kind. Dich hat der liebe Gott zu mir geführt. Darum also habe ich so viel und so lebhaft an dich denken müssen. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft sie auch tragen.«

Eingehend wurde nun hin und her beraten, Tante Hermine wünschte, daß Margot an Frau Dr. Leonhardt ausführlich schreiben müsse, denn dann könne sie wieder ruhig sein. Auf den Gang der gerichtlichen Verhandlungen habe sie ja keinen Einfluß mehr. Aber die Zeitung von H. mußte bestellt werden, damit man wisse, wie sich alles aufkläre; an Mord oder Selbstmord konnte die Tante nicht glauben, auch der Pfarrherr hielt einen Unglücksfall für das Wahrscheinlichste. So fühlte Margot sich allmählich wieder beruhigt, besonders als auf ihr Schreiben an Herta eine zwar kurze, aber in herzlichen Worten gehaltene Antwort eingetroffen war.

Tante und Nichte fühlten, daß sie nicht mehr getrennt werden dürften, eine herzinnige gegenseitige Zuneigung schlang ein immer festeres Band. – – –

Kaum eine Stunde später, nachdem Margot das Gerichtsgebäude verlassen hatte, wurde Frau Herta Leonhardt durch einen Kriminalbeamten in dringlichster Form um ihr sofortiges Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter gebeten. Sie zögerte nicht, der Aufforderung Folge zu leisten, und es brachte nicht die von dem Landgerichtsrat erwartete überwältigende Wirkung auf sie hervor, als er ihr den von Margot unterschlagenen Brief mit der Frage vorlegte, ob sie sich zu seiner Urheberschaft bekenne. Empfand sie es doch wie eine köstliche Erleichterung, ja, geradezu wie die Erlösung aus einem beinahe unerträglich gewordenen Zustande, daß die Entscheidung nun ohne ihr Zutun gefallen war und daß ihr durch eine Fügung, die sie nicht verschuldet, die furchtbare Last eines Geheimnisses von der Seele genommen wurde, unter der sie mehr als einmal dem Zusammenbrechen nahe gewesen war.

Sie gab ohne weiteres zu, den Brief geschrieben und abgeschickt zu haben, und sie legte zur Erklärung ihres Beginnens die beiden Schreiben vor, die sie von ihrem Manne erhalten.

Der Landgerichtsrat war Menschenkenner genug, um sich zu sagen, daß ihr Benehmen während dieser Eingeständnisse ein ganz anderes war, als an dem Tage, da sie ihm die Erzählung von ihrer nächtlichen Zusammenkunft mit Theodor Neuhoff vorgebracht hatte. Aber es war begreiflich genug, wenn er nach dem Voraufgegangenen dieser neuesten und überraschendsten Wendung der sensationellen Angelegenheit mit einigem Mißtrauen gegenüberstand.

»Sie erkennen in der Schrift dieser Briefe mit voller Bestimmtheit die Hand Ihres Mannes?« fragte er.

»Ja. – Ich bin überzeugt, daß nur er sie geschrieben haben kann.«

»Und Sie wissen nichts über die Natur der Verfehlung, die ihn zur Flucht veranlaßt haben sollte? – Sie hegen darüber nicht einmal eine Vermutung?«

»Nein!«

»Gewannen Sie etwa aus seinem Benehmen in jüngster Zeit den Eindruck, daß er etwas auf dem Gewissen habe?«

»Nein – niemals!«

»Auch nicht an dem letzten Abend, den Sie in seiner Gesellschaft verlebten? – Wenn sich jemand mit der Absicht trägt, alles im Stiche zu lassen, was bis dahin den Inhalt und Zweck seines Lebens ausmachte, so dürfte er doch wohl nur in den allerseltensten Fällen so viel Selbstbeherrschung haben, den Sorglosen und Unbefangenen zu spielen.«

»Und doch muß mein Mann diese Selbstbeherrschung besessen haben. Es war nichts in seinem Verhalten, das mich hätte argwöhnisch machen können – abgesehen vielleicht von dem Umstand, daß er mir ausdrücklich verbot, seine Heimkehr abzuwarten, ehe ich mich zur Ruhe begäbe. Aber auch das geschah in einer Form, die mich unmöglich auf den Gedanken bringen konnte, er wolle sich auf Nimmerwiederkehr entfernen.«

»Wenn dieser von Ihnen geschriebene Brief nun wirklich in die Hände Ihres Gatten gelangt wäre, und wenn er nicht die von Ihnen beabsichtigte Wirkung gehabt hätte, ihn zur freiwilligen Rückkehr zu veranlassen, würden Sie dann noch länger geschwiegen haben?«

»Als seine Frau würde ich mich dazu verpflichtet gefühlt haben, aber ich kann nicht sagen, wie lange ich die Kraft gehabt hätte, dieser Pflicht zu genügen.«

Der Landgerichtsrat rückte seinen Zwicker höher auf die Nase hinauf und richtete seine scharfen Augen mit einem festen, durchdringenden Blick auf Hertas Gesicht.

»Frau Dr. Leonhardt!« sagte er in einem Ton, der sich in der Wärme seines eindringlichen Ernstes merklich von der Trockenheit seiner bisherigen Fragen unterschied. »Ich darf wohl annehmen, daß Sie sich der ganzen Tragweite Ihrer heutigen Aussage voll bewußt sind. Sie haben soeben zugegeben, mir vor einigen Tagen wesentlich falsche Angaben gemacht zu haben, die nach Ihrem Zugeständnis den klug berechneten Zweck hatten, die Justiz irrezuführen. Sie behaupten, sich der Verwerflichkeit Ihrer Handlungsweise nicht bewußt gewesen zu sein, weil Sie aus dem Briefe Ihres Mannes die Gewißheit gehabt haben wollen, daß ein Verbrechen an ihm überhaupt nicht verübt worden war, und weil Ihnen demnach jedes Mittel erlaubt schien, einen schuldlos Verdächtigen zu entlasten. Ich will das Törichte und Irrtümliche einer solchen Auffassung für jetzt auf sich beruhen lassen. Aber Sie müssen sich bei ruhiger Ueberlegung selbst sagen, daß diese Unwahrheit uns einigermaßen mißtrauisch machen muß gegen jede neue Enthüllung, die mittelbar oder unmittelbar von Ihnen ausgeht. Was bürgt mir dafür, daß diese ganze Briefgeschichte nicht ebenfalls ein abgekartetes und von langer Hand vorbereitetes Spiel ist, von dem Sie sich vielleicht einen besseren Erfolg versprachen, als von jener ersten Lüge? – Bitte, lassen Sie mich ausreden! Sie haben ein lebhaftes Interesse an einer baldigen Rechtfertigung und Haftentlassung des Herrn Neuhoff, daraus haben Sie mir ja von vornherein kein Hehl gemacht. Und es wäre immerhin denkbar, daß dies Interesse Sie neuerdings zu einer Handlung verführt hätte, die Ihnen wie dem Untersuchungsgefangenen notwendig verhängnisvoll werden müßte, wenn sich herausstellen sollte, daß es abermals auf eine Irreführung der Justizbehörden hinauslaufen sollte. Und es würde sich sehr bald herausstellen, dessen dürfen Sie gewiß sein. Darum bitte ich Sie in Ihrem eigensten Interesse auf das allerdringendste, noch einmal mit sich selber zu Rate zu gehen und sich zu einer etwaigen Abirrung vom Wege der Wahrheit zu bekennen, ehe es zu spät ist. Ueberstürzen Sie die Antwort nicht, die ich jetzt von Ihnen verlange, denn ich bin gern bereit, Ihnen dafür jede gewünschte Bedenkzeit zu gewähren. Nur sagen Sie mir die reine, die volle Wahrheit, wenn ich Sie frage: Verhält es sich mit diesen angeblichen Briefen Ihres Mannes genau so, wie Sie mich glauben machen wollen – und ist nichts von einem Betrug dabei im Spiele?«

»Ich brauche keine Bedenkzeit, um Ihnen darauf zu antworten,« erwiderte Herta, die nicht eine Sekunde lang vor seinem forschenden Blick die Augen niedergeschlagen hatte. »Wenn es gesetzlich zulässig ist, daß ich beschwöre, heute nur die lautere Wahrheit gesagt zu haben, so bitte ich inständig, mir auf der Stelle diesen Eid abzunehmen.«

Ein Gerichtsdiener trat ein, um dem Untersuchungsrichter eine Meldung zuzuflüstern, und entfernte sich wieder, nachdem ihm ebenso leise die Antwort erteilt worden war. Der Landgerichtsrat aber wandte sich aufs neue an die mit hochgeröteten Wangen vor ihm sitzende junge Frau:

»Das wird zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Für jetzt wünsche ich von Ihnen noch zu erfahren, inwieweit Sie Ihren Stiefbruder Werner Mansfeld ins Vertrauen gezogen hatten und was er mit dieser ganzen Briefgeschichte zu schaffen hat?«

Herta dachte nicht daran, ihre Ueberraschung zu verbergen.

»Um Gotteswillen,« rief sie aus, »er kann doch nicht dafür bestraft werden, daß er geschwiegen hat, obwohl er durch mich von den Briefen meines Mannes Kenntnis erhalten hatte? Ich hatte hier keinen Menschen, bei dem ich mir in meiner furchtbaren Ungewißheit Rat holen konnte. Und er hat von vornherein alles getan, was in seinen Kräften stand, um mich gleich nach dem Eintreffen des ersten Briefes zu einer Anzeige zu bestimmen.«

»Wie aber wollen Sie es erklären, daß er eigens nach Dresden gefahren ist, um sich in den Besitz des von Ihnen geschriebenen Briefes zu bringen?«

Mit Entschiedenheit schüttelte Herta den Kopf.

»Das ist ein Irrtum – das kann er nicht getan haben – es ist einfach unmöglich.«

»Weshalb unmöglich?«

»Weil er gar nichts von der Existenz dieses Briefes gewußt hat. Erst heute mittag, als er von einer Geschäftsreise aus Berlin zurückkehrte, habe ich meinem Stiefbruder von der zweiten Zuschrift meines Mannes und von dem Inhalt meiner Tags zuvor abgegangenen Antwort Mitteilung gemacht. Und die Chiffre, unter der ich diese Antwort abgeschickt hatte, hat er überhaupt nicht erfahren.«

»Wissen Sie das ganz bestimmt?«

»Ja – ganz bestimmt!«

»Was würden Sie nun aber dazu sagen, wenn Sie hören, daß Mansfeld an diesem Morgen auf dem Bahnpostamt in Dresden gewesen ist und wiederholt nach einem postlagernden Briefe unter der Chiffre P. L. H. 27 gefragt hat. Nur der Umstand, daß ihm ein anderer mit der Abholung zuvorkam, hat die Aushändigung an ihn verhindert.«

Die großen Augen der jungen Frau spiegelten so unverkennbar ihr Erstaunen und ihre Verständnislosigkeit, daß es selbst für den mißtrauischsten Kriminalisten sehr schwer gewesen wäre, hier an Verstellung zu glauben.

»Ich begreife nichts,« wiederholte sie. »Und es kann nur eine Personenverwechslung vorliegen. Vielleicht war es mein Mann selbst, den man dort gesehen hat?«

»Sieht er denn Ihrem Stiefbruder so ähnlich, daß jemand, der Ihren Gatten wie Herrn Mansfeld genau kennt, die beiden hätte verwechseln können?«

»Nein. – Es besteht nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen ihnen.«

»So werden wir also auf einem anderen Wege nach der Lösung dieses neuen Rätsels suchen müssen. Nur noch eine Frage: Welcher Art waren die Beziehungen zwischen Ihrem Stiefbruder und Ihrem Manne? Standen sie in häufigem Verkehr miteinander?«

»Gewiß! Mein Bruder war ein lieber und regelmäßiger Gast unseres Hauses und meines Wissens fast der einzige Mensch, dem mein Mann wärmere freundschaftliche Empfindungen entgegenbrachte.«

Der Landgerichtsrat drückte auf den Knopf des Telephons.

»Führen Sie Herrn Mansfeld herein!« befahl er dem eintretenden Gerichtsdiener. »Sie, Frau Dr. Leonhardt, haben wohl die Freundlichkeit, sich in jenes Nebenzimmer dort zurückzuziehen, bis ich Sie rufen lasse.«

In Begleitung eines bürgerlich gekleideten Polizeibeamten war Werner Mansfeld im Justizgebäude erschienen. Es war nicht etwa eine Verhaftung gewesen, wie ihm der Polizist ausdrücklich versichert hatte. Trotzdem hatte Werner weder Ueberraschung noch Unruhe an den Tag gelegt, und als er jetzt vor den Tisch des Untersuchungsrichters hintrat, sprach höchstens die tiefe Blässe seines Gesichts für eine starke Erregung.

»Sie wissen, weshalb Sie hierher zitiert worden sind, Herr Mansfeld?«

»Ich glaube es wenigstens zu erraten.«

»In der Tat, das nenne ich Scharfsinn. Möchten Sie mir nicht mitteilen, was Sie als die Ursache Ihrer Vorladung vermuten?«

»Ich werde es vorziehen, auf die an mich gerichteten Fragen zu antworten. Das dürfte nach meiner Ansicht wesentlich schneller zu dem gewünschten Ziele führen.«

»Wie Sie wollen. – Sie waren heute in Dresden?«

»Ja.«

»Zu welchem Zweck?«

»Zu dem Zweck, einen postlagernden Brief zu erheben, den ich auf dem dortigen Bahnpostamt wußte.«

»Einen Brief, der für Sie bestimmt war?«

»Nein, einen Brief, um dessen Weiterbeförderung ich ersucht worden war.«

»Ersucht – von wem?«

»Von meinem Schwager, dem Rechtsanwalt Dr. Paul Leonhardt.«

»Demselben, den man hier allgemein für das Opfer eines Verbrechens hält?«

»Ja – von demselben.«

»Er wäre danach also noch am Leben?«

»Ich muß es wohl annehmen, da er in der Lage ist, mit seiner Frau und mit mir zu korrespondieren.«

»Auch mit Ihnen hat er korrespondiert? – Seit wann?«

»Ich erhielt von ihm nur einen einzigen Brief, und zwar gestern früh.«

»Können Sie mir denselben vorlegen?«

»Nein! Ich habe ihn auf der Stelle vernichtet.«

»Weshalb hatten Sie es damit so eilig?«

»Meine Stiefschwester wünschte das Geheimnis ihres Gatten zu bewahren, und ich hatte ihr zu ihrer Beruhigung versprechen müssen, ebenfalls strengste Verschwiegenheit zu beobachten. Die Aufbewahrung eines so verräterischen Dokuments mußte mir unter solchen Umständen als zu gefährlich und überdies als ganz zwecklos erscheinen.«

»Aber Sie werden sich doch wohl noch an den Inhalt des Schreibens erinnern?«

»In der Hauptsache – gewiß! Unter Berufung auf unsere verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen, die ihm, wie er meinte, ein Recht auf meine Verschwiegenheit gäben, machte er mir über seine Flucht und deren Beweggründe ungefähr dieselben Angaben, die mir schon aus seinem ersten an meine Stiefschwester gerichteten Briefe bekannt waren. Und er fügte hinzu, daß er triftige Gründe habe, seinen bisherigen Schlupfwinkel in Dresden schleunigst mit einem anderen zu vertauschen, über den selbst seine Frau in Unkenntnis erhalten werden müsse. Darum bitte er mich, einen Brief meiner Stiefschwester, den sie auf seinen Wunsch unter bestimmter Chiffre nach Dresden schicken werde, auf dem dortigen Bahnpostamt zu erheben und in einem neuen Umschlag nach München weiterzusenden.«

»Natürlich bezeichnete er Ihnen auch eine Adresse. Wie lautete sie?«

»Ich sollte adressieren: Herrn Eduard Müller, hauptpostlagernd.«

»Sie wurden dann an der Ausführung dieses Auftrages dadurch verhindert, daß der Brief der Frau Dr. Leonhardt bereits von einem anderen erhoben worden war. Wissen Sie auch, von wem das geschah?«

»Ich konnte darüber nicht wohl im Zweifel sein, als ich der Gesellschafterin meiner Stiefschwester in der Tür des Postamtes begegnete und als mir der Schalterbeamte mitteilte, daß der Brief soeben von einer jungen Dame abgefordert worden sei.«

»Natürlich vermuteten Sie daraufhin sogleich, daß die Dame, die ja für ihre eigene Person kein Interesse an dem Briefe haben konnte, ihn an die Untersuchungsbehörde ausliefern würde?«

»Ich hoffte es wenigstens, denn die Heimlichkeit, in die ich mich da hineingezogen sah, war mir im innersten Herzen zuwider, und ich konnte den Entschluß meiner Schwester, die Zuschriften ihres Mannes zu verheimlichen, nur aufrichtig beklagen. Aber ich konnte mich andererseits nicht für berechtigt halten, das mir geschenkte Vertrauen durch die Erstattung einer Anzeige zu mißbrauchen.«

»Haben Sie der Frau Dr. Leonhardt Mitteilung davon gemacht, daß der Rechtsanwalt auch an Sie geschrieben?«

»Nein – so schwer es mir auch fiel, ihr ein Geheimnis daraus zu machen. Aber der Zweck der Bitte, die mein Schwager an mich gerichtet, wäre ja vereitelt worden, wenn ich es getan hätte.«

»Und kamen Ihnen gar keine Zweifel an der Echtheit des Leonhardtschen Briefes? Vermuteten Sie nicht, daß es sich möglicherweise um ein schlau angelegtes Manöver handeln könne, das dazu bestimmt war, die Schuldlosigkeit des in Untersuchungshaft befindlichen Theodor Neuhoff zu erweisen?«

»Nein. – Ein solcher Argwohn konnte schon deshalb nicht in mir aufsteigen, weil mir aus zahlreichen Einladungsbriefen und anderen gelegentlichen Korrespondenzen die Handschrift meines Schwagers genau bekannt war und weil ich sie auf den ersten Blick in seinem Briefe wiedergefunden hatte.«

Seine Vernehmung war damit noch nicht zu Ende, aber die zahlreichen Kreuz- und Querfragen, die der Untersuchungsrichter noch an ihn stellte, änderten nichts an dem Ergebnis des Verhörs. Mit einer Bestimmtheit, die nicht für einen einzigen Augenblick ins Wanken geriet, blieb Werner Mansfeld bei seinen ersten Bekundungen, auch dann, als Herta wieder hereingerufen wurde und als sie ihrem schmerzlichen Erstaunen über die Heimlichkeit Ausdruck gab, die er heute ihr gegenüber gehabt. Mit fester Hand unterzeichnete er schließlich das über seine Vernehmung aufgenommene Protokoll, und als der Landgerichtsrat nach zweistündiger Dauer des Verhörs die Stiefgeschwister entließ, hatte er für seine eigene Person die Ueberzeugung gewonnen, daß er diesmal die Wahrheit gehört habe.

Somit stellte der Gerichtsherr keine weiteren Fragen an Frau Dr. Leonhardt, er mußte sich das heute Vernommene nochmals genau und zusammenhängend vorlesen lassen. Denn an eine Lösung des Haupträtsels war noch nicht zu denken.

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